Judica / 5. Sonntag der Passionszeit (29. März 2020)

Autorin / Autor:
Dekan Christoph Baisch, Heilbronn [Dekanatamt.Heilbronn@elkw.de]

Hebräer 13, 12-14

IntentionMit „Schaffe mir Recht!“ greift das Leitmotiv des Sonntags Judika einen verbreiteten Seufzer der heutigen Tage auf. Gerade dann können die Worte des Hebräerbriefs als Trostworte ermutigen. Ihr Glanz muss allerdings erst freigelegt werden. Dann aber machen sie Hoffnung zum Leben jetzt – und geben zu denken.

„Schaffe mir Recht!“ – ein Seufzer von heute!„Schaffe mir Recht!“ – Judika – der sehnsüchtige Ruf aus den ersten Worten des Wochenpsalms gibt dem heutigen Sonntag seinen Klang. Und sind wir ehrlich, liebe Gemeinde: Dieser Seufzer liegt derzeit vielfach in der Luft, ungut vielfach. „Schaffe mir Recht!“
Ganz persönlich erklingt er, wo wir unser Leben als begrenzt erfahren, als abgewertet, ohne Respekt und Freiraum und Glanz. Die Ursachen dafür sind so vielfältig wie das Leben selbst. Jede und jeder weiß wohl selbst gut genug, wann der sehnsüchtige Seufzer sich meldet: „Gott, lass doch endlich mein Leben und mich mit meinem Leben zu seinem Recht kommen!“
Zudem verschafft sich dieser Seufzer tausendfach Luft, wo die Sehnsucht nach einem besseren Leben auf verschlossene Grenzen stößt. Unerbittlich ist das Bedrängende spürbar – die Zerstörung im Kriegsgebiet, das Elend im Flüchtlingslager, der Stacheldraht an der Grenze. Und ein Leben in Würde ist nicht in Aussicht. So bleibt nur der Seufzer: „Schaffe mir Recht, Gott, mir und meinem Leben und dem Leben meiner Kinder!“ Seufzer, die verzweifeln und ins Zweifeln kommen lassen.
Und dann mischen sich noch die Seufzer derer darunter, die sich gerade durch diese politische Entwicklung in ihrem eigenen Leben eingeengt sehen, auch bedroht fühlen von den Problemen der Welt und von fremden Menschen. Die Seufzer füllen sich dann leicht mit ängstlichem und auch aggressivem Unterton. „Schaffe mir Recht – und halte mir das Andere und die Anderen vom Leibe.“
„Schaffe mir Recht!“ – liebe Gemeinde, der Sonntag Judika trifft einen Grundton dieser Tage.

Trostworte für die Seufzenden mit verborgenem GlanzUnd der Bibeltext für diesen Sonntag hält einen passenden Klang dafür bereit; den Klang biblischer Trostworte; den Schatz einer Botschaft, die über den seufzenden Grundton des Sonntags hinausweist.
Es sind Worte aus dem Hebräerbrief. Er wurde geschrieben, um erschöpfte und bekümmerte Menschen zu ermutigen im Glauben und fürs Leben. Ein kurzer Abschnitt ist für den heutigen Sonntag vorgesehen – ein Abschnitt, der allerdings erst beim zweiten Hören seinen tröstlichen Klang entfaltet. Ich lese aus Hebräer 13, 12-14:
„Darum hat auch Jesus, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor. So lasst uns nun zu ihm hinausgehen vor das Lager und seine Schmach tragen. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“
Liegt darin nun Trost und Hoffnung für den so vielfach zu hörenden Seufzer, in dem das Leben zu seinem Recht kommen will? Ich vermute, diese Worte müssen erst abgerieben werden wie eine Perle, die im Acker vergraben war; abgerieben von dem, was heute ihren Trost verdeckt. So kann der tröstliche Glanz der Worte hervorkommen. Und je mehr wir an ihnen reiben, umso wärmer könnten sie uns werden.

Keine Welt-Flucht, sondern Welt-Hoffnung!Fangen wir bei den Worten an, die weithin bekannt sind. „Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Worte, die vermutlich viele gar nicht anders hören können als mit den Klängen, die Johannes Brahms ihnen (in seinem „Deutschen Requiem“) gegeben hat.
„Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir“ – das klingt nach Weltflucht. Doch ein wenig bereinigt und poliert kommt ein Glanz zum Vorschein, der gerade in die Welt und ins Leben jetzt hineinleuchtet. Hier ertönt keine Sehnsucht, die sich erschöpft aus der Welt hinausträumt, sondern eine Erkenntnis, die ermutigend ins Leben hineinführt.
Nämlich die Erkenntnis, dass es das ewig Bleibende im Leben nicht gibt, so sehr wir uns manchmal danach sehnen. Die Realitäten verlangen eben auch Aufbrüche und Veränderungen, das Loslassen und das Leben mit Unfertigem.
Wenn wir die biblischen Worte an solchen Erfahrungen ein wenig abreiben, beginnen sie tröstlich zu glänzen. „Denn wir haben hier keine bleibende Stadt“ – so ist es. Dann braucht uns weder das Aufbrechen noch das Loslassen zu schrecken; Veränderungen können wir uns stellen – und vor allem: Es darf auch Unfertiges geben. Wir brauchen uns nicht unter dem Druck zu fühlen, einen Lebensweg ohne Bruchstücke zu gestalten.
Diese Erkenntnis lässt aufatmen. Befreit und bestärkt aufatmen, wenn das plagt, was im Leben nicht zum Ziel kommt; wenn wir spüren, wie begrenzt wir doch sind.
Dieser entlastende Glanz verbindet sich mit einem leuchtenden Hoffnungsbild: „sondern die zukünftige suchen wir“. Vor Augen steht eine Zukunft, die wir aufsuchen. Und die uns von Gott her entgegenkommt. Als „himmlisches Jerusalem“ wird die „zukünftige Stadt“ von dem Seher Johannes leuchtend beschrieben. (Apk 21,2)
Und er zeichnet den Frieden dieser zukünftigen Stadt in den Worten: „Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen und der Tod wird nicht mehr sein noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein.“ (Apk 21,4)
Ein Trostbild, in dem die Worte Jesajas nachklingen: „Die Erlösten des Herrn werden wiederkommen mit Jauchzen; … Freude und Wonne werden sie ergreifen und Schmerz und Seufzen wird entfliehen.“ (Jes 35,10)
In dieser zukünftigen Stadt leuchtet eine Heimat auf, die tröstet; die Gelassenheit schenkt, wenn wir mit den Bruchstücken des Lebens zurechtkommen müssen; die ermutigt für die Tage, die kommen.
Wahrhaft keine Welt-Flucht also. Sondern eine Welt-Hoffnung. Eine Bestärkung zum Leben allen Lebensenttäuschungen und Seufzern zum Trotz.
Fraglich bleibt mir allerdings, wie sehr diese Worte ihren tröstlichen Glanz auch dort aufscheinen lassen, wo Stacheldraht und Tränengas der Suche nach der zukünftigen Stadt eine Grenze ziehen. Sicher, treffend sind sie, diese Worte – weil die vertraute Bleibe in Trümmern liegt und zurückgelassen werden musste. Aber sind sie tröstlich – wenn man vor den Grenzanlagen steht, die Wege versperrt sind, um die Bleibe der anderen – unsere Bleibe! – zu sichern?
Ich muss die Frage offen lassen. Und kann nur hoffen, dass für Menschen in solcher Not der Glanz nicht ganz verdeckt ist. Sondern dass gerade da etwas aufscheint davon, dass die leuchtende zukünftige Stadt des Friedens wirklich von Gott zugesagt ist. Ein Lichtschein, der durchhalten lassen kann. Hoffentlich!

Gottes Nähe wird spürbar draußen vor dem TorUnd damit sind wir bei der Frage, woher diese Worte denn ihre Leuchtkraft bekommen. Es heißt ja: „Denn wir haben keine bleibende Stadt ...“. Worauf bezieht sich das „Denn“? Woher kommt der Lichtschein?
Werfen wir einen Blick auf die Worte davor. Worte, die nicht gleich tröstlich glänzen. Und doch stellen sie die Quelle des Lichtscheins dar.
Ihre Fremdheit können wir diesen Worten abreiben, wenn wir uns vor Augen halten, welche Bedeutung im Judentum die Feier des Jom Kippur, des Versöhnungstages, hat. Gefeiert wird eine neue Verbindung zu Gott, wo sich der Mensch vorher von Gott entfernt hatte. Das entscheidende Ritual für diese Versöhnung mit Gott geschah im Tempel, ganz innen.
Daran knüpfen die Mutmach-Sätze des Hebräerbriefs an. Sie betonen: Auch und gerade in Jesus ist die Verbindung zu Gott wieder hergestellt. Sein Weg ans Kreuz führt uns näher zu Gott und zu seiner Liebe. Nur ereignet sich das Entscheidende nicht im Innersten des Tempels, sondern draußen vor der Stadt.
Deshalb sollen auch wir nach draußen gehen, vor die Stadt, dorthin, wo Jesu Weg hinführte. Denn dort finden wir die Nähe zu Gott.
In den Worten des Hebräerbriefs: „Darum hat auch Jesus, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor. So lasst uns nun zu ihm hinausgehen vor das Lager und seine Schmach tragen. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“
Was beim ersten Hören schwermütig klingt, gibt nun seinen tröstlichen Glanz preis. Nicht ins Leid wird uns hier der Weg gewiesen, sondern zur Nähe mit Gott. Zur Begegnung mit Gott. Zur Zukunft von Gott.
Da klingt wohl mit, dass auch für Mose der Ort seiner vertrauten Begegnung mit Gott draußen vor dem Lager war, damals, beim langen Zug durch die Wüste. In dem Zelt fern vom Lager kam Gott ihm nahe wie ein Freund (Ex 33,7). Begegnung mit Gott ereignet sich draußen, im Unbefestigten, im Ungesicherten.
Bei Jesus aber war der Weg hinaus vor das Lager schmerzlich. Seine Liebe zu den Menschen führte zu Konflikten. Seine enge Bindung an Gott rief Anfeindungen hervor. Gottes Nähe motiviert zu einer Menschenliebe, die auch riskant ist; nicht abgesichert vom Schutz dicker Mauern oder der Gemütlichkeit der eigenen vier Wände. „So lasst uns nun zu ihm hinausgehen vor das Lager und seine Schmach tragen.“
Jesu Weg ruft uns hinaus aus der sicheren und bergenden Stadt, hinaus vor das Lager des Vertrauten und Eingespielten, hinaus zu den Menschen in Leid und Freud. Ein gewagter Weg. Aber in ihm spüren wir Gottes Nähe. Weil wir den Menschen nahe sind. Selbst wenn es zu Konflikten führt. Auf solche ungesicherten Wege der Menschlichkeit fällt dann der Lichtschein der zukünftigen Stadt Gottes, in der der Friede kein Ende hat.

Die kurzen Worte des Hebräerbriefs geben also reichlich zu denken. Gerade für heute. Vor allem aber ermutigen sie – ein wenig freigerieben – mit ihrem tröstlichen Glanz zu Schritten der Mitmenschlichkeit. Wir brauchen nur zu gehen…
Amen.

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