Pfingstmontag (01. Juni 2020)

Autorin / Autor:
Pfarrer i.R. Konrad Maier-Mohns, Nürtingen [maier-mohns@web.de ]

Johannes 20, 19-23

IntentionDie kurze Erscheinungsszene ist in der alten Perikopenordnung sicher oft in den Schatten der spektakulären Thomas-Szene geraten. Ich will gerne etwas von ihrer eigenen Lebendigkeit auf mich und die Hörer wirken lassen – mit unseren Erfahrungen in der Virus-Krise.

20,19 Am Abend aber dieses ersten Tages der Woche, da die Jünger versammelt und die Türen verschlossen waren aus Furcht vor den Juden, kam Jesus und trat mitten unter sie und spricht zu ihnen: Friede sei mit euch!
20 Und als er das gesagt hatte, zeigte er ihnen die Hände und seine Seite. Da wurden die Jünger froh, dass sie den Herrn sahen.
21 Da sprach Jesus abermals zu ihnen: Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.
22 Und als er das gesagt hatte, blies er sie an und spricht zu ihnen: Nehmt hin den Heiligen Geist!
23 Welchen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen; welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten.

Liebe Gemeinde!
Sind sie beim ersten Hören auch wie ich ein bisschen zusammengezuckt, als Jesus seine Jünger angeblasen hat? So etwas stößt bei mir gerade auf reflexhaften Widerstand. Das geht doch nicht! Das kann doch ansteckend sein! – Diese rote Lampe im Kopf kenne ich auch aus den ersten Wochen der Corona-Einschränkungen, wenn ich im Fernsehen Menschen dicht an dicht am Esstisch, in Umarmungen, beim Tanzen, beim Spiel oder Sport gesehen habe. Inzwischen sehe ich solche Szenen wieder sehr gerne, erinnern sie mich doch an ein entspannteres Lebensgefühl mit weniger Abstand und Regeln. Und ich wünsche mir das zurück.

Türen verschlossen, eingeschlossen und in FurchtUnd so höre ich auch von den Jüngern, die sich an diesem Tag eingeschlossen haben, mit unseren Erfahrungen der letzten Wochen und Monate im Hintergrund. Viele Millionen haben sich auf Anordnung ihrer Regierungen in ihre Wohnungen und Häuser begeben, in manchen Ländern mit strengen Ausgangsbeschränkungen. Für uns in Deutschland gab es immer noch viel Bewegungsfreiheit – aber manche sind aus Angst vor der Ansteckung freiwillig oder auf Drängen ihrer Angehörigen in ihren vier Wänden geblieben. Und viele andere waren trotz Einkäufen, Spaziergängen oder Radtouren abgeschnitten von alltäglichen menschlichen Kontakten bei der Arbeit oder Ausbildung, in der Schule oder an der Uni – oder auch im Kindergarten. Verwandtenbesuche, Mai-Hocketse, Kindergeburtstage, Stammtisch, Disco, Partys – abgesagt.
Für häusliche Menschen war der Unterschied vielleicht nicht so gewaltig, aber die Unternehmungslustigen, Mobilen und Kontaktfreudigen sind in ihrem Lebensgefühl und Lebenstempo schwer ausgebremst worden. Plötzlich wurde der Innenraum viel wichtiger: dass es daheim gemütlich ist, dass man zuhause arbeiten kann. Und auch die eigene Küche ist für viele wichtiger geworden. Kantinen, Mensen und der Mittagstisch in der Gaststätte gegenüber waren ja geschlossen. Viel Platz zuhause oder gedrängte Enge – zum Beispiel am Laptop, den sich jetzt die Familie teilen muss. Und manches Kind wird noch mehr Stunden als sonst unbeweglich am Smartphone geklebt haben. – Am schlimmsten aber hat es die Schwächsten getroffen, Patienten im Krankenhaus, Menschen mit Demenz im Pflegeheim, abgeschnitten von Angehörigen und Freunden. Und auch manche Kinder, die keine Erzieherin oder Lehrerin mehr aufgefangen hat.

Auch die Jünger Jesu waren eingeschlossen und in FurchtDer Evangelist Johannes erzählt vom Kommen des Heiligen Geistes nicht erst fünf Wochen nach Ostern, sondern am Tag der Auferstehung. Die Jünger haben sich eingeschlossen, weil sie der Hinrichtungstod Jesu am Kreuz niedergeschlagen und ihnen die Zukunft geraubt hat. Was die Frauen aus dem Jüngerkreis morgens am Grab erlebt haben, ist nicht so richtig zu ihnen durchgedrungen. Und sie haben Angst, nach ihrem Rabbi als nächstes selber verhaftet zu werden.
Sie waren zusammen, sie hatten einander – wir wissen aber nicht, ob das eine Hilfe für sie war. Denn in Angst und Trauer kann es den Einzelnen zu verschiedenen Zeiten sehr unterschiedlich ergehen – auch heute in unseren Familien. Zum eigenen Schmerz muss man auch noch die Wut des anderen aushalten oder die laute Musik von der, die sich gerade dringend ablenken und Luft machen muss.
Ich glaube nicht, dass die Jünger in der Lage waren, wie manche von uns in den letzten Wochen ihr Haus oder ihre Wohnung aufzuräumen und auszumisten. Der Beschränkung etwas Gutes abgewinnen, das geht nur, wenn ich einen Ausgang sehe.
Gesprächsfetzen dringen von der Straße in die abgeschlossene Wohnung. Sie spielen ein Spiel mit der Angst und Unsicherheit der Jünger, sie verstärken die Unruhe oder besänftigen sie ein bisschen. Die Nachrichten-Bruchstücke von draußen verstärken, was sowieso in ihrem Herzen ist. Etwas wirklich Neues kommt nicht zu ihnen herein.
Liebe Gemeinde, durch Internet und Telefon, Fernsehen und Radio hatten wir in diesen Wochen viel mehr Fenster in die Welt als die Jünger damals. Und das hat vielen von uns gutgetan. Trotzdem haben wir wahrscheinlich oft das in uns aufgenommen, was wir irgendwie schon gekannt haben, was uns vertraut vorkam und uns bestätigt hat. Und das geschieht ja beileibe nicht nur in einer Virus-Pandemie, sondern immer wieder: Wir deuten die Welt, wie wir sie zu kennen meinen. Nachrichten von außen werden in das System eingebaut oder ignoriert.

Jesus kommt: Schalom, Friede sei mit euch!In diese Verschlossenheit tritt der auferstandene Jesus Christus hinein – leibhaftig – die Wände halten ihn nicht auf. Die kreisenden Wagenburg-Gedanken müssen stillstehen, wenn Gottes Wirklichkeit in unseren Kreis kommt. „Schalom – Friede sei mit euch!“ Im Orient ist das bis heute eine ganz alltägliche Begrüßung, also flapsig übersetzt: „Hallo, ich bin wieder da!“ Die Lähmung und Niedergeschlagenheit der Jünger wird weggeweht. Jetzt kommt wirklich frischer Wind in ihre Quarantäne.
Damals, auf dem See, hatten sie Angst vor ihm, als er bei Nacht über die schwarzen Wellen auf sie zukam – bis Jesus sagte: „Fürchtet euch nicht – ich bin es.“ Jetzt sagt er „Schalom“, er geht auf sie zu und zeigt ihnen seine Wunden vom Kreuz – die durchbohrten Hände, die Speerwunde an der Seite. Das ist jetzt sein „Ich bin es“ – Jesus ist der Gott, dem die Leiden der Menschen unauslöschlich eingegraben sind.
Der Evangelist Johannes erzählt: Schon hier am Ostertag hat der Auferstandene den Blick seiner Freunde über den eigenen Kreis hinaus geweitet. Das „Schalom – Friede sei mit euch“ bekommt jetzt Gewicht. Denn das ist seine Mission – Gottes heilende, friedensstiftende Kraft unter die Menschen zu bringen. „Den Frieden lasse ich euch da“, hat er in seinen Abschiedsreden gesagt - jetzt geschieht das. Und ehe sie sich‘s versehen, werden die Jüngerinnen und Jünger Jesu aus Adressaten zu Akteuren: „Wie mich mein Vater gesandt hat, so sende ich euch.“ Jesu Mission in dieser Welt geht mit ihnen weiter.
Liebe Gemeinde, wenn wir uns klar machen, wie diese Leute gerade noch ängstlich in ihrem Versteck zusammengekauert waren, ist das eine atemberaubende Wendung. Und es ist einfach zu viel, zu groß, zu weit, zu schnell!

Der Atem des auferstandenen Christus ist Gottes belebender GeistDamit ihnen nicht die Luft wegbleibt, bläst ihnen der Auferstandene jetzt ins Gesicht „Nehmt hin den Heiligen Geist!“ – Was uns in Corona-Zeiten daran stört, ist ja, dass man mit der Atemfeuchtigkeit wohl andere anstecken kann. Andererseits hat schon mancher Angehörige oder Freund oder mancher Ersthelfer der Feuerwehr durch Mund-zu-Mund-Beatmung Leben gerettet. Die Schöpfungsgeschichte in 1. Mose 2 erzählt, dass Gott dem aus Erde geformten Menschen seinen Lebensatem in die Nase bläst und dass er so zu einem lebendigen Wesen wird. In der gestressten und getriebenen Welt der letzten Jahre haben viele diese Lebensader neu entdeckt: den eigenen Atem spüren, beim Yoga, beim Meditieren, in einer kleinen Übung oder in gehetzten Momenten langsam und tief durchatmen und Angst und Druck abklingen lassen und die eigene Mitte spüren. Relativ wenige verbinden diese wertvolle Erfahrung mit unseren Bibeltexten. Dabei gehört beides zusammen.
Gottes Atem belebt. Der Atem des auferstandenen Christus ist Gottes Geist. Wer seinen Hauch einatmet, kann zur Ruhe kommen und Frieden finden. Gottes Geist bezeugt uns, dass wir Gottes geliebte Kinder sind, schreibt der Apostel Paulus. Und Gottes Atem nimmt uns mit ins Weite. „Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.“ Gottes Schalom, der Friede Jesu Christi will weiter, will in die Welt.

Das Gute versuchen mit Geduld, Zuversicht und einem langen AtemDer Atem Gottes beseelt uns, erzählt die Schöpfungsgeschichte. Und aus dem Evangelium von Johannes weht der Atem des Auferstandenen auch uns heute ins Gesicht. Er will uns inspirieren, er kann uns begeistern für Gottes guten Willen. Erkennen, was gut für uns und für das Zusammenleben der Menschen und gut für die Erde ist. Sünde beim Namen nennen und Gottes liebende Vergebung zusprechen. Menschen lösen von dem Zwang, immer die gleichen Fehler zu wiederholen. Den auferstandenen Jesus hören, seinen Worten vertrauen, zum ihm beten und zu ihm hin singen. Das Gute versuchen mit Geduld und Zuversicht und mit einem langen Atem.
Schalom – Friede sei mit euch!
Amen.

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