4. Sonntag nach Trinitatis (05. Juli 2020)

Autorin / Autor:
Pfarrerin Susanne Joos, Stuttgart [Susanne.Joos@elkw.de]

Römer 12, 17-21

IntentionVergelten mit Bösem oder mit Gutem? Innere Spannungen aushalten und eigene Entscheidungen treffen.

12,17 Vergeltet niemandem Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann.
18 Ist's möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden.
19 Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben (5.Mose 32,35): »Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.«
20 Vielmehr, »wenn deinen Feind hungert, so gib ihm zu essen; dürstet ihn, so gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln« (Sprüche 25,21-22).
21 Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.

DemütigungenAls Semra die Tür des kleinen Supermarktes hinter sich zuschließt, ist es bereits dunkel. Wieder einmal ist es spät geworden. Für die letzte Stunde wird sie keinen Lohn erhalten. Es ist unmöglich, zugleich an der Kasse zu sitzen und das Lager aufzuräumen. Der Marktleiter fordert es trotzdem.
Die letzten Tage war sie mit Fieber im Bett gelegen. Als sie heute – immer noch angeschlagen – zur Spätschicht kommt, begrüßt er sie: „Na, schönen Urlaub gehabt?“ Als sie empört reagiert, dreht er sich um. Nur um dann später zu spotten: „Warum hast du so einen weiten Pulli an, ich schau dir schon nichts weg.“
Kaum ein Tag vergeht, ohne dass er sie schikaniert oder erniedrigt. Sie hat widersprochen, hat sich beschwert, war freundlich, – es hat alles nichts genützt. Es ist nur schlimmer geworden.
Kündigen kann sie nicht, sie braucht das Geld doch für sich und die Kinder.
Doch heute Nachmittag ist etwas in ihr geplatzt. Als er sie im Beisein eines Kunden herunterputzt, spürt sie auf einmal einen gewaltigen Zorn. Eisige Kälte breitet sich in ihr aus.
Jetzt reicht es. Das wird er büßen müssen. Das werd’ ich ihm vergelten.
Ein böses Gerücht über ihn in die Welt setzen.
Verdorbene Lebensmittel untermischen und anonym den Wirtschaftskontrolldienst anrufen. Sein Motorrad unbemerkt beschädigen, so dass er verunglückt.
Es ist ihr auf einmal egal, ob sie die Stelle verliert oder nicht. Auf dem Heimweg wundert sie sich, wie ruhig sie ist, wie wach und energiegeladen. Ganz anders als sonst, wenn sie sich müde und deprimiert nach Hause schleppt.

Starke GefühleLiebe Gemeinde,Rachegefühle sind starke Gefühle.
Vergeltung üben an dem, der mich (vermeintlich oder tatsächlich) demütigt, das scheint zum Menschsein zu gehören von Urzeit an.
Kain hasst Abel, weil er sich ungerecht behandelt fühlt.
Dann ermordet er ihn.
Racheakte versprechen offenbar einen Weg heraus aus Hilflosigkeit und Ohnmacht.
Kein Opfer mehr sein. Wieder ins Spiel kommen.
Einen Ausgleich schaffen. Quitt werden.
Wir du mir, so ich dir.

Ja, es kann geradezu eine Lust sein, den anderen büßen zu lassen für das, was er mir angetan hat. Oder, was ich glaube, das er mir angetan hat. Rache ist süß.
Selbst über Gott heißt es in der Tora, dass er sich rächen möchte an seinem Volk, das ihn verrät, verhöhnt, vergisst.
Rache aus enttäuschter Hoffnung.
Rache aus enttäuschter Liebe.
Starke Gefühle.

Ein MenschheitsthemaSeit alters her suchen Menschen, die zusammen leben, nach Wegen, die zerstörerische Macht der Rache zu begrenzen.
Auch die Bibel zeugt davon.
Kain, der Mörder, wird von Gott geschützt.
Er soll kein Freiwild sein.
Auge um Auge, Zahn um Zahn: Ein Gegenschlag ist erlaubt, dann muss es gut sein.
Schon im Alten Testament gibt es das Gebot, dem Feind zu essen zu geben, wenn er hungrig ist. Ihm das Nötige nicht vorzuenthalten.
Von Jesus wird das noch zugespitzt durch die Aufforderung, auch die Feinde zu lieben.
Doch seien wir ehrlich. Auch wenn wir Rachephantasien und Rachegelüste hässlich und verabscheuenswert finden: Sie sind da.
Auch wenn wir solche Gefühle gerne in eine Schmuddelecke schieben, so suchen sie doch oft ihren Ausdruck auf offene oder auf subtile Weise.
Da reagiert einer auf eine Kränkung mit kleinen Sticheleien. Oder indem sie wichtige Informationen verschweigt. Mit kleinen, genüsslichen Gemeinheiten.
Das kann harmlos sein. Oder zerstörerisch.

Sich unterbrechenUnd dann – heute – Paulus: „Vergeltet nicht Böses mit Bösem!
Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann.“
Es hört sich so leicht an.
Das Muster von Schlag und Gegenschlag aktiv unterbrechen.
Eine positive Haltung einnehmen.
Seid auf Gutes – wörtlich: auf Schönes! – bedacht.

Wer Opfer geworden ist, soll nicht Opfer bleiben,
sondern zum Täter werden. Allerdings zum guten Täter.
Soll die zerstörerische Energie nicht unterdrücken, sondern umwandeln in eine Kraft, die Schönes schafft.
Wie kann das gehen? frage ich Paulus.
Wenn es so einfach wäre, dann müssten unsere Gemeinden Horte des Glücks sein!

Froh bin ich über die paulinische Nüchternheit, mit der er fortfährt:
„Ist’s möglich, soviel an euch liegt, so haltet mit allen Menschen Frieden.“
Es ist nicht immer möglich. Es liegt nicht nur an einem selbst. Manches ist nicht zu lösen.
Manche Beziehungen gehen auseinander. Da hilft nur Abstand.
Nur für mein Handeln bin ich verantwortlich.
Das scheint die Aufgabe zu sein: aufhören, mich vom anderen abhängig zu machen.
Statt „Wie du mir, so ich dir“:
So handeln, wie es recht ist. Und schön. Und dann loslassen.

Raum lassenAbstand zu lassen, das scheint noch in einem anderen Sinn geboten zu sein:
„Rächt euch nicht selbst, meine Geliebten, sondern lasst Raum dem Zorn Gottes!“ So zitiert Paulus die Tora.
Lasst Raum!
Wenn wir uns zwanghaft mit unserem Gegner und seinen Untaten beschäftigen: Kann es sein, dass wir gerade so einer Veränderung im Weg stehen? Wenn wir den anderen bedrängen, sich zu ändern: Kann es sein, dass wir gerade so den Raum versperren, in dem jemand sich selbst begegnen könnte?
Oder geht es darum, in uns selber wieder Raum zu lassen?
Wahrzunehmen, wohin es uns eigentlich zieht? Wo wir selbst hinwollen?

Sein ist die Rache?Lasst Raum dem Zorn Gottes!
Es kann enorm entlastend sein, daran zu glauben, dass Gott selbst für Gerechtigkeit sorgen wird. Dass er die Vergeltung übernimmt.
Trotzdem, bleibt nicht doch der Zweifel: Was, wenn er es nicht tut? Wenn die Bösen niemals zur Rechenschaft gezogen werden? Jedenfalls nicht in dieser Welt?

Der Tora folgenPaulus fordert uns hier auf, selbstbestimmt zu handeln.
Uns von der Tora (oder von unseren eigenen Werten) leiten zu lassen, – egal was die anderen tun. Auch ohne die Sicherheit, dass Gott eingreift.
Das braucht innere Kraft. Große innere Reife.
Aufhören, Opfer zu sein. Aber auch nicht die vermeintlich Gute sein, die Unverschämtheiten und Demütigungen ergeben erträgt.
So würden wir uns ja zu Komplizinnen des Bösen machen. Selbstverständlich sollen wir auf das Recht verweisen und gemeinsam für die Rechte aller kämpfen.
Wir sollen und dürfen für uns eintreten.
Aber eben nicht, indem wir im selben Muster bleiben wie unser Bedränger. Nicht indem wir den Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt anfeuern. Sondern uns losreißen und eine andere, neue Ebene einnehmen.
Es könnte sein, so Paulus, dass unser Feind dann erschrickt und beschämt von dannen zieht. Mit rotem Gesicht wie im alten Ägypten. Wo Leute, die ihre Schuld einsahen, eine Schale mit Kohle auf dem Kopf durch die Straßen trugen.
„Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“
Es könnte sein.
Und wenn nicht? Wenn der andere sich nicht ändert?

Eine Entscheidung treffenAuf dem Rückweg aus dem Park sieht Semra einen Mann unter einer ausladenden Buche liegen, in einer seltsam verdrehten Haltung. Ist er verletzt? Als sie näher hin geht, erkennt sie ihn. Es ist der Marktleiter. Er scheint nicht bei Bewusstsein zu sein.
Seit drei Jahren hat sie ihn nicht mehr gesehen. Sie hat damals bald gekündigt. So erschrocken war sie gewesen von der Macht ihrer Wut. Aber sie wusste auf einmal: Es wird gehen, auch ohne diesen Job. Die Zeit ohne Arbeit war hart. Aber es war auch eine Zeit, in der ihre Selbstachtung wieder gewachsen ist. Inzwischen hat sie eine bessere Stelle gefunden.
Als sie ihren Peiniger da so liegen sieht, ist ihr erster Impuls, ihn liegen zu lassen. Es geschähe ihm recht so.
Ein paar Sekunden steht sie einfach so da.
Dann trifft sie eine Entscheidung.
Amen.

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