Heiligabend/Christvesper (24. Dezember 2020)

Autorin / Autor:
Prälat i.R. Dr. Christian Rose, Eningen [christian@rose-eningen.de ]

Jesaja 11, 1-10

Intention der PredigtWir feiern Heiligabend in einer Ausnahmesituation. Die Welt bewegt sich auf schwankendem Boden. Mit den utopisch anmutenden Hoffnungsbildern des Jesaja will die Predigt verunsicherte Gedanken auf den lenken, der da kommt: Gottes neuer Zweig aus dem Stumpf Isais.

Liebe Gemeinde,
wir feiern Heiligabend, die Stille Nacht. Inmitten aller Umtriebe. In bewegten Zeiten. Mit schwirrenden Köpfen, gemischten Gefühlen, auf schwankendem Boden. Die Nerven liegen blank, die Haut wird dünner, die Sorgen nehmen zu, Existenzen sind gefährdet und vieles wird durcheinandergewirbelt. Wohl niemand war sich sicher, ob ein Lockdown womöglich einen Strich durch das Fest zieht. Doch, Gott sei Dank, wir feiern. Weihnachten lässt sich nicht aufhalten. Gott kommt zu uns. Auf manches Gewohnte müssen wir dieses Jahr verzichten. Aber die Phantasie in unseren Gemeinden ist großartig. Wir feiern anders als sonst. An unterschiedlichen Orten: mit Abstand in der vertrauten Kirche, mit einem Bollerwagen unterwegs in der Stadt, im Park, auf dem Marktplatz, im Wald, im Stadion.
Am Ende eines Pressegesprächs fragt die Moderatorin: Wie können wir diese Pandemie überstehen? Der Jüngste in der Runde, ein Podcaster, der in digitalen Medien aktiv ist, er antwortet kurz in drei Punkten: „Wir werden mit der Pandemie leben müssen. Wir sollten in dieser Not zusammenstehen und uns an das halten, was Hoffnung gibt.“ Das beeindruckt mich: Realistisch, solidarisch und zuversichtlich. Mitten im Leben, für den Alltag in unsicheren Zeiten. Was gibt uns Hoffnung? Erinnerungen an die Zukunft, gefasst in die uralten Worte des Propheten Jesaja (Jesaja 11,1-10):

Gottes utopisches Reich1Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. 2 Auf ihm wird ruhen der Geist des HERRN, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des HERRN. 3 Und Wohlgefallen wird er haben an der Furcht des HERRN. Er wird nicht richten nach dem, was seine Augen sehen, noch Urteil sprechen nach dem, was seine Ohren hören, 4sondern wird mit Gerechtigkeit richten die Armen und rechtes Urteil sprechen den Elenden im Lande, und er wird mit dem Stabe seines Mundes den Gewalttätigen schlagen und mit dem Odem seiner Lippen den Gottlosen töten. 5 Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden sein und die Treue der Gurt seiner Hüften.
6 Da wird der Wolf beim Lamm wohnen und der Panther beim Böcklein lagern. Kalb und Löwe werden miteinander grasen, und ein kleiner Knabe wird sie leiten. 7Kuh und Bärin werden zusammen weiden, ihre Jungen beieinanderliegen, und der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind. 8 Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter, und ein kleines Kind wird seine Hand ausstrecken zur Höhle der Natter. 9 Man wird weder Bosheit noch Schaden tun auf meinem ganzen heiligen Berge; denn das Land ist voll Erkenntnis des HERRN, wie Wasser das Meer bedeckt. 10 Und es wird geschehen zu der Zeit, dass die Wurzel Isais dasteht als Zeichen für die Völker. Nach ihm werden die Völker fragen, und die Stätte, da er wohnt, wird herrlich sein.

Das amputierte Leben …
Jesaja hat das in dunkler Zeit geschrieben: Israel und sein Königtum haben in der Krise gelebt. Jesaja schreibt ein paar Verse früher, Israel sei das Volk, das im Finstern wandelt. Fremde Despoten beherrschen das Land, wirbeln das Leben durcheinander. Die Axt ist an die Wurzel gelegt. Nur ein Stumpf ist übriggeblieben. Phantomschmerz hat das Volk bedrückt. Unter den Menschen hat sich das Gefühl der Ohnmacht verbreitet. Vielleicht auch bei uns in der Stillen Nacht. Ein alter Text und das ungute Gefühl in modernen Zeiten. Seit fast ziemlich genau neun Monaten hält das Virus die Welt in Atem. Mit bloßem Auge ist es nicht zu sehen, aber doch hoch gefährlich. Es hinterlässt schmerzliche Spuren überall auf der Welt, in Krankenhäusern und Pflegeheimen, in Theatern, Konzertsälen, Gasthäusern und Hotels. Es ist, als ob es das Leben amputiere, privat, gesellschaftlich und in unserer Kirche. Wir müssen damit leben. Niemand weiß, wie lange. Und wie gut, wenn wir aufeinander respektvoll Rücksicht nehmen. Wie gut, wenn wir solidarisch füreinander einstehen, wenn wir mit unserer kleinen Kraft den „Nachbarn in Not“ beistehen. Das geschieht zum Beispiel mit der Aktion für Künstlerinnen ohne Engagement und Absicherung. Sie fühlen sich ganz besonders vom Leben abgeschnitten. Hilfe tut gut. Das geschieht auch durch das Mutmacherprojekt unserer Diakonie und durch die Weihnachtsaktion von „Brot für die Welt“. So spüren Menschen, dass sie nicht vergessen sind. Und in der Nähe werden die Vesperkirchen unter besonderen Bedingungen den bedürftigen Menschen etwas mit auf den Weg geben.

*… und in allem zarte Hoffnung …
Der junge Journalist beim Pressegespräch hat uns zur Hoffnung ermutigt: Worauf hoffen wir? Was gibt Zuversicht für unser Leben? Mich ermutigen in dieser Stillen Nacht die Bilder Jesajas. Sie sind realistisch und utopisch zugleich. Israel war nur noch ein Stumpf. Aber nicht ohne Hoffnung: Ein „Reis“ geht aus dem Stumpf hervor, schrieb damals Jesaja, ein kleiner Zweig weckt zarte Hoffnung. In der lateinischen Bibel steht für diesen kleinen Zweig das Wörtlein „virga“, daraus wird in der Überlieferung die „virgo“, die Jungfrau, die den Sprößling zur Welt bringt. Und heute Abend, heute Nacht ist es soweit: Wir feiern das Kind in der Krippe. Es kommt dorthin, wo die Angst wohnt. Es spielt am Loch der Otter und greift in die Höhle der Natter. Das Kind legt uns die Hand aufs Herz und bringt mit sich den Geist der Weisheit und des Verstandes. Hoffentlich springt davon etwas über in unsere Familien, unsere Städte und zu den Herrschern der Welt.
In einem Adventskalender ist für den heutigen Heiligabend zu lesen (1):
„Der Präsident hat keine Geduld mehr und greift zum Naheliegenden. Er schlägt ein Kind als Kanzler vor. Jesus for President. 67 Prozent der gewählten Volksvertreter wählen ihn im ersten Wahlgang. Er ist parteilos und eigen. Weil er mit Liebe regiert, findet sich immer eine Mehrheit. Die Friedfertigen übernehmen die Chefetagen, die Sanftmütigen das Himmelreich. Steuern heißen von jetzt an Soli. Auf den Adventsmärkten gibt es Kakao für alle. Wo es dunkel ist, wird getanzt. Jesus geht stets als einer der Letzten. ‚Hosianna‘, heißt es in den Morgennachrichten. Millionen schlagen nach, was das eigentlich heißt.“

… auf Gottes schöpferischen Geist„Rette doch. Bring eine andere Welt.“ So könnte man Hosianna wörtlich übersetzen. Wir hoffen auf Gottes andere Welt. Manche mögen einwenden: Es steht nicht zu erwarten. Wir warten schon seit 2000 Jahren. Und es hat sich nichts geändert in unserer Welt. Im Gegenteil, die Despoten werden mehr, auch in Europa. Ja, Jesajas Vision hat in unserer Welt kaum einen Platz. Und doch bleibt die Hoffnung, dass der zarte Zweig Frucht hervorbringt. Einst und heute. Der Spross Isais zielt auf eine Umkehrung der Gewaltverhältnisse. Damals ging es um die überheblichen Tyrannen Assurs. Mit Gottes Geist bringt der angekündigte Spross Recht, Frieden und Gotteserkenntnis. Mit dem „Stab seines Mundes und dem Hauch seiner Lippen“ tritt er den Knüppeln und Schwertern entgegen.
Der junge Podcaster bei dem Pressegespräch hat zu allem ermutigt, was Zuversicht schenkt. Jesaja schreibt voller Poesie vom Geist Gottes, der das Chaos verwandelt. Vielleicht fängt er bei mir an. Und zieht dann Kreise hinaus in unsere zerbrechliche Welt. Als Geist der Weisheit, der Einsicht, des Rates und der Stärke bestimmt er Denken und Handeln, tritt er der Torheit entgegen. Und bringt das Gottesvolk zurecht. Er setzt das Recht der Armen durch und der Unterdrückung ein Ende. Die Gotteserkenntnis bleibt dann nicht ohne Folgen. „Wer bei Gott eintaucht, der taucht bei den Armen auf“ (Jacques Gaillot). Heute, in dieser Stillen Nacht, könnte es beginnen.

Heute mag es beginnenIm Finstern und in der Kälte kann Helles, Warmes, manchmal auch Poetisches entstehen. So wie vor über 400 Jahren in Trier. Der Karthäuser Mönch Conrad sitzt in seiner Zelle und schweigt. Es ist Advent. Sein Blick geht durch das Fenster. Der erste Schnee ist gefallen. Conrad tritt durch den Hintereingang seiner Karthause in seinen kleinen Garten. Alles ist mit einer weißen Decke zugedeckt, das Gemüsebeet, das Kräuterbeet, auch das Rosenbeet. Als sich Conrad dem Rosenbeet zuwendet, leuchtet dort eine rote Rose im weißen Schnee. Lange ruht sein Blick auf dieser einen Rose.
Es ist kalt und er kehrt wieder zurück in seine Zelle, und dann erinnert er sich von ferne an die uralten Worte Jesajas. Er nimmt sein Gebetsbüchlein heraus und schreibt zum ersten Mal auf, woraus Michael Praetorius später einen vierstimmigen Satz komponiert hat: Ich würde gerne selber mit einstimmen, damit an diesem besonderen Weihnachtsfest das Herz weit und die Zuversicht fest werde:

„Es ist ein Ros entsprungen
aus einer Wurzel zart.
Wie uns die Alten sungen,
von Jesse kam die Art
und hat ein Blümlein bracht
mitten im kalten Winter
wohl zu der halben Nacht.“
Amen

Anmerkung
1 Stille Post, Adventskalender, Leipzig 2019.

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