Altjahresabend (31. Dezember 2020)

Autorin / Autor:
Pfarrerin Hanna Karle, Metzingen [hanna.karle@elkw.de]

2. Mose 13, 20-22

IntentionIm Rückblick wissen wir: Gott hat den Überblick. Im Ausblick glauben wir es: Gott führt uns durch die Tage und Nächte unseres Lebens ans Ziel.

Liebe Gemeinde,
heute Nacht um 24.00 Uhr geht das Kalenderjahr 2020 zu Ende. Am heutigen Abend blicken wir nun zurück auf das vergangene Jahr. Jeder und jede von Ihnen könnte aus dem vergangenen Jahr erzählen, was Sie erlebt haben an hellen Momenten und was Sie durchlitten haben an dunklen Momenten. Sicherlich haben Sie bereits Erlebnisse und Begebenheiten vor Augen. In dieser Stunde wollen wir einen Moment lang innehalten und Bilanz ziehen. Und das tun wir mit Versen aus dem zweiten Mose-Buch, Kapitel 13:

"So zogen sie [die Israeliten] aus von Sukkot und lagerten sich in Etam am Rande der Wüste. Und der HERR zog vor ihnen her, am Tage in einer Wolkensäule, um sie den rechten Weg zu führen, und bei Nacht in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten, damit sie Tag und Nacht wandern konnten. Niemals wich die Wolkensäule von dem Volk bei Tage noch die Feuersäule bei Nacht."

2020 im Rückblick366 Tage und Nächte zählt das Jahr 2020. Manche davon haben sich in unser Gedächtnis eingebrannt. Wer hat am Anfang des Jahres erahnt, was über uns hereinbrechen würde? Wer hat damit gerechnet, dass das Corona-Virus sich weltweit ausbreiten und auch uns als Gemeinde treffen würde? Mit dem Virus brach in so mancher Hinsicht die Nacht über uns herein. Dunkel wurde es um uns als Gemeinde. Die Lichter im Gemeindehaus und der Kirche blieben aus. Eine Zeitlang fand nichts mehr statt: keine Gruppen und Kreise, keine Gottesdienste, keine Konfirmationen und Veranstaltungen, keine Kantorei und so weiter.
Trotzdem gab es einige Lichtblicke: Das Gemeindeleben spielte sich zu Hause ab: Gottesdienste und Kinderkirche zu Hause feiern, Sitzungen via Teams oder Zoom abhalten, sich via Mails und Telefon austauschen, Jungschar für Zuhause.
Und als die Tage immer heller und sonniger wurden, hellte sich auch unsere Stimmung wieder auf. Endlich konnten wir uns wieder unter bestimmten Voraussetzungen sehen. Da schlugen wir als Gemeinde viele neue Wege ein –Sing- und Posaunengruppen, Konfirmationen in Kleingruppen, live-stream-Gottesdienste, das alternative Ferienprogramm unserer Gesamtkirchengemeinde 5 Sterne für den Sommer und so weiter.
Es gab helle Tage in unserer Gemeinde. Freudige Feste haben wir gefeiert: Taufen, Konfirmationen, Hochzeiten, Erntedank, Jubiläen. Es gab auch dunkle Tage. Traurig haben wir Menschen zu Grabe getragen.
Neue Menschen sind zu unserer Gemeinde dazugestoßen: wir – das Pfarrehepaar, eine neue FSJlerin im Kindergarten. Andere haben wir verabschiedet – unsere Vikarin.
Sicherlich haben Sie in dieser Stunde, in der wir innehalten und auf dieses Jahr zurückblicken, weit mehr Momente vor Augen, die wir als Gemeinde in diesem Jahr erlebt haben. Und die Sie ganz persönlich erlebt haben. Von welchen Tagen und Nächten des Jahres 2020 würden Sie erzählen?

Gott hat den Überblick – das zeigt der RückblickDie Israeliten haben von ihren Tagen und Nächten weitererzählt. Von den Tagen und Nächten, die sie in der Wüste verbracht haben. Von den Tagen, an denen eine Wolkensäule vor ihnen herzog. Und von den Nächten, an denen ihnen eine Feuersäule den Weg erleuchtete. Davon lesen wir heute in der Bibel.
Mit der Feuersäule und der Wolkensäule führte Gott sie den Weg durch die Wüste von Ägypten ins Gelobte Land. Durch die Feuersäule und die Wolkensäule war Gott mit seinem Volk verbunden. So wies er ihnen den Weg. Feuersäule und Wolkensäule durchbrachen den menschlichen Horizont. Sie waren etwas Übernatürliches. Sie kamen von Gott. Schließlich verließ das Volk Israel auf Geheiß Gottes Ägypten. Das war keine Idee von Mose. Und so führte auch nicht Mose das Volk Israel durch die Wüste, sondern Gott selbst. Die Säulen zeigten den Menschen: Gott weiß den Weg. Er führt uns ans Ziel. Er hat den Überblick. Und die Säulen heißen auch: Die Israeliten vertrauten Gott. Sie folgten ihm nach. Sie glaubten an ihn. An manchen Tagen und Nächten fiel ihnen das vermutlich schwer. Dann, wenn sie daran zweifelten, dass Gott mit ihnen unterwegs war. Wenn sie sich von Gott verlassen fühlten, wenn sie Hunger und Durst litten und fremde Völker sie bedrohten. An anderen Tagen und Nächten fiel es ihnen wiederum leichter: an Tagen, an denen sie jubelten und feierten, dass sie bewahrt blieben. Und an Tagen, an denen sie Gott ganz nah bei sich wussten. An manchen Tagen fiel es ihnen sogar besonders leicht. An Tagen, an denen sie innehielten und auf den Weg durch die Wüste zurückblickten. Davon lesen wir im fünften Buch Mose. Das ist voll an Vertrauens- und Glaubensaussagen. Wir erfahren: Als sie zurückblickten, haben sie bemerkt: Gott hat Recht behalten. Wir sind dort angekommen, wohin er uns gesandt und geführt hat. Unser Vertrauen hat sich bewährt. Jetzt wissen wir: Gott hat unsere Wege überblickt – vom Anfang bis zum Ziel. Auch als wir dachten, nicht mehr weiterzukommen, überblickte er unsere Tage und führte uns den rechten Weg. Deshalb hoffen wir jetzt: Er wird auch die Wege überblicken, die wir noch gehen werden.

Im Rückblick auf das Leben eines NahestehendenGott überblickt unsere Wege. Dieser Glaubenssatz kommt mir auch oft in den Sinn, wenn ich innehalte und zurückblicke. Zum Beispiel dann, wenn ich am Grab eines mir nahestehenden Menschen stehe und auf dessen Leben zurückblicke. Da bin ich traurig, ja. Mein Herz erfüllt sich aber auch mit Dankbarkeit. Ich staune darüber, was dieser Mensch gewesen ist für mich und die Menschen, die er geprägt hat. Ich staune darüber, wie die Wege, die dieser Mensch gegangen ist, miteinander verflochten sind und ein Ganzes ergeben. Ein Ganzes, das ich lediglich erahnen, aber nicht fassen und überblicken kann. An einem Grab bin ich mir sicher: Gott hat das Leben dieses Menschen überblickt, ihn durch sein Leben geführt, durch die Tage und die Nächte seines Lebens. Durch die dunklen und hellen Momente. Im Rückblick auf das Leben dieses nahestehenden Menschen sage ich voll Vertrauen: Er ist jetzt dort angekommen, wohin Gott ihn geführt hat, im Neuen Leben. Das ist das Licht der Auferstehung, das in das Dunkel des Todes strahlt und das uns Hoffnung und einen Ausblick gibt auf neues ewiges Leben.
Und doch mischt sich schnell der Gedanke darunter: Wenn ich doch immer so vertrauen könnte! Wenn ich doch immer aus dieser Perspektive leben könnte! So, als wüsste ich schon im Voraus: Es wird gut ausgehen. Gott führt mich schon ans Ziel. Am liebsten würde ich diese Perspektive festhalten und in mir abspeichern. Damit ich sie dann abrufen kann, wenn ich sie brauche. Dann, wenn ich daran zweifle und mich frage: Wo bist du, Gott? Dann, wenn ich mich leer fühle und ich nicht weiß, wie ich durch die kommende Woche kommen soll. Da wünsche ich mir, dass die Stimme in mir laut wird: Gott überblickt meine Wege. Gott wird mich ans Ziel führen, auch durch die Nächte meines Lebens.

Ausblick auf das Jahr 2021Das wünsche ich uns allen. Ich wünsche uns, dass wir heute Abend diesen Glaubenssatz über unser Leben und das Jahr 2020 laut aussprechen können: Gott überblickt unsere Wege. Er wird uns auch im nächsten Jahr ans Ziel führen. Ich wünsche uns, dass wir staunen über die Wege, die Gott uns in diesem Jahr geführt hat. Dass wir darauf vertrauen, dass das Jahr 2020 sich in das große Ganze einbetten wird. Mögen wir im Rückblick auf das Jahr 2020 etwas von diesem Ganzen erahnen. Mögen wir schon jetzt aus diesem Vertrauen leben. Und jetzt glauben, was wir einst sehen und überblicken werden. Ich wünsche uns, dass wir den göttlichen Horizont jetzt in unserem Leben erahnen, auf den wir uns zubewegen. Dass wir uns mit Gott jetzt schon verbunden wissen. Dass wir erfahren, dass Gott uns führt. Dass wir sein Licht auf unseren Wegen wahrnehmen. Ich wünsche uns, dass wir in diesem Vertrauen dem neuen Jahr 2021 getrost entgegen gehen, was auch immer auf uns zukommen mag an dunklen Stunden und Lichtblicken. Gott wird nicht von unserer Seite weichen. Er wird uns führen und unsere Wege erleuchten. Amen.

LiteraturangabenGoldschmidt, Stephan; Meyer-Blanck, Michael; Peters, Frank (Hg.): Gottes Wort hören und bewahren. Einführungen in die Sonn- und Feiertage im Kirchenjahr, Neukirchen-Vluyn 2019.
Wirth, Karl-August: Art. Feuersäule (Wolkensäule, Lichtsäule), in: RDK VIII, 422–498, online verfügbar unter: http://www.rdklabor.de/wiki/Feuers%C3%A4ule_(Wolkens%C3%A4ule,_Lichts%C3%A4ule).

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