Epiphanias (06. Januar 2021)

Autorin / Autor:
Schuldekan Dr. Andreas Löw, Ludwigsburg [schuldek.ludwigsburg@elkw.de]

Jesaja 60,1-6.14

IntentionDer Aufruf und die Vision Jesajas haben eine lange Geschichte: Sie gelten zunächst den Heimkehrenden aus Babylon und gehören seitdem zum religiösen Schatz des Judentums. Für die Evangelisten wurden sie zum Resonanzraum, um ihre Erfahrungen mit Jesus Christus auszudrücken. Für Christinnen und Christen aus Deutschland ist eine mindestens vierfach differenzierte Rezeption wichtig: als Teil der Völker, die Jüdinnen und Juden unterdrückt haben (Jes 60,14), als „Miterben der Verheißungen in Christus Jesus“ (Eph 3,6), als Mitglieder einer Kirche und Gesellschaft aus dem globalen Norden, die politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich privilegiert sind, sowie in all dem als einzelne Person, die des Trostes und der Hoffnung des Evangeliums bedürftig ist.


„Mache dich auf, werde licht; denn dein Licht kommt, und die Herrlichkeit des HERRN geht auf über dir! Denn siehe, Finsternis bedeckt das Erdreich und Dunkel die Völker; aber über dir geht auf der HERR und seine Herrlichkeit erscheint über dir.
Und die Völker werden zu deinem Lichte ziehen und die Könige zum Glanz, der über dir aufgeht.
Hebe deine Augen auf und sieh umher: Diese alle sind versammelt und kommen zu dir. Deine Söhne werden von ferne kommen und deine Töchter auf dem Arme hergetragen werden. Dann wirst du es sehen und vor Freude strahlen, und dein Herz wird erbeben und weit werden, wenn sich die Schätze der Völker am Meer zu dir kehren und der Reichtum der Völker zu dir kommt.
Denn die Menge der Kamele wird dich bedecken, die jungen Kamele aus Midian und Efa. Sie werden aus Saba alle kommen, Gold und Weihrauch bringen und des Herrn Lob verkündigen…
Es werden gebückt zu dir kommen, die dich unterdrückt haben, und alle, die dich gelästert haben, werden niederfallen zu deinen Füßen und dich nennen ‚Stadt des Herrn‘, ‚Zion des Heiligen Israels‘.“ (Jes 60,1-6.14)

Es liest sich wie die Szene eines großartigen Drehbuchs, liebe Gemeinde: Auf Kamelen, den Wüstenschiffen des Orients, kommen Gold und Weihrauch nach Jerusalem. Die von den Babyloniern zerstörte Stadt blüht auf. Die ehemaligen Unterdrücker legen gebückt Zeugnis ab für den Heiland Israels, für den Erlöser Zions. Was für eine großartige Vision!

Jesajas Vision für die aus Babylon HeimkehrendenAls Jesaja diese Vision verkündigte, war Jerusalem ein Ruinenfeld. Der im Jahre 587 v. Chr. zerstörte Tempel lag in Trümmern. Allerdings hatten die deportierten Israelitinnen und Israeliten inzwischen in ihre Heimat zurückkehren dürfen. Voller Zuversicht hatten sie mit dem Wiederaufbau begonnen. Doch schon bald zeigten sich die alten Missstände wieder: Einige wenige profitierten vom Mangel und machten gute Geschäfte. Aber viele der Heimgekehrten mussten sich verschulden. Hinzu kamen starke soziale und gesellschaftliche Spannungen zwischen den Heimgekehrten und den Menschen, die sich in der Zwischenzeit hier angesiedelt hatten und die oftmals nicht jüdischen Glaubens waren. Diese wollten sich nicht verdrängen lassen. Enttäuschung machte sich breit. Resignation und lähmende Mutlosigkeit legte sich wie Mehltau über Jerusalem.
In diese Situation hinein tönt wie ein Trompetensignal der Ruf des Propheten: „Steh auf Jerusalem! Werde licht!“ Gott selbst vertreibt alle Finsternis. Alle Ungerechtigkeit und Not, alles Leid und alles Dunkle wird Gott aufheben. Alle werden es sehen und anerkennen müssen, auch und gerade die ehemaligen Unterdrückenden und Feinde. Eine unglaubliche Prophetie! Eine Vision, deren Strahlkraft weit über die damalige, ja über jede Wirklichkeit hinausreicht.

Jesajas Vision als religiöser Schatz IsraelsLiebe Gemeinde, wir wissen wenig darüber, wie die Menschen damals in Jerusalem diese visionäre Botschaft des Propheten aufgenommen haben. Wir wissen nur, dass sie ihnen so wichtig war, dass sie sie für die nachfolgenden Generationen aufgeschrieben haben. Immer und überall, wo Menschen sich im Dunkel erleben, wo Menschen sich wund reiben an der herrschenden Ungerechtigkeit und Perspektivlosigkeit, wo Menschen müde geworden sind in ihren Hoffnungen, da sollen sie diese Prophetie nachlesen können:
„Steh auf. Licht kommt. Gott, dein Erlöser, schenkt dir Freiheit von allen äußeren und allen inneren Zwängen. Gott, der Gerechte, setzt die Unterdrückten, die Verzweifelten ins Recht. Gott, dein Heiland, heilt die Wunden sozialer Ausgrenzung und Unterdrückung. Gott, dein Licht, macht dein Leben hell und erleuchtet die ganze Welt.“

Jesajas Vision als Resonanzraum der EvangelistenUnd die Erfüllung dieser Prophetie haben Menschen schon erlebt: Als die Evangelisten des Neuen Testaments im Glanz des Ostermorgens auf Christi Geburt und Leben zurückblickten, da wurde ihnen die Vision Jesajas zu dem Resonanzraum, der ihnen ermöglichte, das, was sie mit Jesus und Gott erlebt hatten, was sie von Christus erkannt und verstanden hatten, in Worten und Bildern auszudrücken.
Der Evangelist Lukas lässt den alten Simeon beim Anblick des Jesuskindleins in Jerusalem singen (2,29-32): „HERR …, meine Augen haben deinen Heiland gesehen, den du bereitet hast vor allen Völkern, ein Licht, zu erleuchten die Heiden und zum Preis deines Volkes Israel.“
Der Evangelist Matthäus lässt das kommende Licht als Stern über den Himmel wandern und Weise aus dem Morgenland mit Gold, Weihrauch und Myrre nach Jerusalem ziehen, um dort nach dem neugeborenen König zu forschen (2,1-12).
Der Evangelist Johannes verkündigt Christus als Licht der Welt, wenn er über die Geburt Jesu schreibt: „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit“ (1,14).
Bis heute geben wir mit unseren Krippenfiguren, die wir in unseren Wohnungen und Kirchen aufstellen, mit allen Kerzen und Lichtern, die wir in der Weihnachtszeit anzünden, ein Echo auf die durch die neutestamentlichen Evangelisten verstärkten Resonanzen der Verkündigung des Jesaja und singen: „Das ewig Licht geht da herein, gibt der Welt einen neuen Schein“ (EG 23,4).
Und wir wollen glauben, dass diese alten Verheißungen, die zunächst der Zionsstadt Jerusalem galten, die bis heute vor allem dem jüdischen Volk gelten, und die durch Christi Leben, Sterben und Auferweckung auch allen Christinnen und Christen gelten, auch unser Leben licht und hell machen. Denn durch und in Jesus Christus gehören auch wir zu den Völkern, die zu dem strahlenden Licht von Gottes Herrlichkeit ziehen, die durch dieses Licht Lebenshoffnung und Orientierung auf unserem Lebensweg bekommen.

Jesajas Vision für die Israel unterdrückenden VölkerBleibt die Frage, was passiert, wenn wir gegenwärtig der Anweisung des Propheten folgen und unsere Augen aufheben (V.4): Ist in unserer Kirche, in unserer Welt gegenwärtig etwas von Gottes aufleuchtendem Licht zu erkennen? Erleben und spüren wir in unserem Leben Gottes Heil schaffendes Wirken?
Eines erscheint mir gewiss: Wenn wir als Kirche und Christenmenschen mitziehen im Strom der Völker nach Zion, dann werden auch wir wohl gebückt kommen, voller Scham darüber, wie unsere Vorväter im Glauben im Laufe der Geschichte mit Israel umgegangen sind. Wir müssen erkennen, wie viel Leid Christinnen und Christen Juden und Jüdinnen zugefügt haben. Wir müssen bekennen, wie oft wir als Kirche das Licht, das von Zion ausging, nicht sehen wollten, wie oft wir Gottes Herrlichkeit verdunkelten. Und wir müssen uns heute fragen: Was können wir gegenwärtig dazu beitragen, dass Jerusalem eine Stadt des Friedens, eine Stadt der Hoffnung sein kann?

Jesajas Vision für Mitglieder privilegierter Gesellschaften und Kirchen im globalen NordenAls Kirche im globalen Norden, als Christinnen und Christen in einem mit Blick auf Hunger, Armut und Krieg privilegierten Land, müssen wir uns fragen, wo wir uns für weltweite Gerechtigkeit einsetzen. Wo und wie unterstützen wir Menschen, die im Vertrauen auf die von Gott versprochene lichtvolle Zukunft sich schon heute dafür einsetzen, dass gerechte Handels- und Wirtschaftsbeziehungen, gerechte Lastenverteilungen beim Kampf gegen die Klimakatastrophe die Finsternis vertreiben?
Und wo und wie tragen wir dazu bei, dass wir auch in unserem Land in Respekt voreinander und in Frieden miteinander leben, dass wir uns gegenseitig achten unabhängig von Herkunft und Bildungsstand, von Vermögen, Geschlecht und sexueller Orientierung?
Sie spüren, liebe Gemeinde, das sind gewichtige Fragen, die viele Aspekte in den Blick nehmen, Fragen, auf die wir als einzelne und manchmal sogar als Kirche oftmals noch gar keine eindeutigen Antworten geben können.
Und doch sind diese irritierenden und aufrüttelnden Fragen notwendige Konsequenzen aus der Verheißung des Propheten.
Wir, die wir uns nach dem Aufstrahlen von Gottes Licht in unserer Welt sehnen, dürfen uns nicht an die Finsternis gewöhnen oder sie schönreden.
Mit der Auferstehung Christi im Rücken und der Gewissheit, dass wir als gerechtfertigte Sünder in die Nachfolge Christi gerufen sind, hören und verkünden wir den prophetischen Ruf Jesajas. Wir lassen unseren Blick von unseren Ohnmachtserfahrungen wegziehen, hin auf Gottes Möglichkeiten, auf seine Verheißungen, auf seine kommende Herrlichkeit. Gott legt uns niemals auf unsere Schuld, auf unser Versagen, auf unsere Schwäche fest. Sondern Gottes Güte und Gnade sind jeden Morgen neu. Gott füllt uns täglich unsere Hände mit all dem Licht und der Herrlichkeit seines Sohnes Jesus Christus. Gottes Wort aus dem Munde des Propheten öffnet unseren Geist für den Geist der Kraft und der Liebe und der Zuversicht.
Lassen Sie uns aus dies als Ermutigung für unser Engagement an der Seite all der Menschen verstehen, die in Finsternis, in Armut, auf der Flucht oder in kriegerischen Verhältnissen leben müssen.
Und lassen Sie uns, liebe Gemeinde, zuversichtlich und getrost von Epiphanias aus in das neue Jahr hineingehen: „Siehe, Finsternis bedeckt das Erdreich und Dunkel die Völker, aber über dir geht auf der HERR, und seine Herrlichkeit erscheint über dir.“ Amen.

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