Karfreitag (02. April 2021)

Autorin / Autor:
Pfarrerin Dr. Karoline Rittberger-Klas, Tübingen [karoline.rittberger-klas@elkw.de]

Jesaja 52,13-15; 53,1-12

IntentionDas Leiden des Gottesknechts und das Leiden Jesu am Kreuz sind transparent für die Leiden der Menschen, die heute gequält und verachtet werden. Aber Jesu Tod durchbricht die Gewaltspirale – so werden Frieden und Heilung möglich und erfahrbar.

„Du musst dich auch mal wehren!“ Liebe Gemeinde, vielleicht haben Sie diesen Ratschlag auch schon mal weitergegeben: Ihrem Partner zum Beispiel, oder einem Kind. „Du darfst dir das nicht einfach gefallen lassen – wenn du immer die ganze Arbeit alleine machen musst. Oder: „...wenn die anderen dich immer so rumschubsen!“
Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt. Niemand kann auf Dauer alles schlucken und ertragen. Oder doch? Hören wir von einem, der sich nicht gewehrt hat! Ich lese aus dem Buch Jesaja im 52. und 53. Kapitel:

13 Siehe, meinem Knecht wird’s gelingen, er wird erhöht und sehr hoch erhaben sein. 14 Wie sich viele über ihn entsetzten – so entstellt sah er aus, nicht mehr wie ein Mensch und seine Gestalt nicht wie die der Menschenkinder –, 15 so wird er viele Völker in Staunen versetzen, dass auch Könige ihren Mund vor ihm zuhalten. Denn was ihnen nie erzählt wurde, das werden sie nun sehen, und was sie nie gehört haben, nun erfahren.

1 Aber wer glaubt dem, was uns verkündet wurde, und an wem ist der Arm des HERRN offenbart? 2 Er schoss auf vor ihm wie ein Reis und wie eine Wurzel aus dürrem Erdreich. Er hatte keine Gestalt und Hoheit. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. 3 Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet. 4 Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. 5 Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt. 6 Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg. Aber der HERR warf unser aller Sünde auf ihn. 7 Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf. 8 Er ist aus Angst und Gericht hinweggenommen. Wen aber kümmert sein Geschick? Denn er ist aus dem Lande der Lebendigen weggerissen, da er für die Missetat seines Volks geplagt war. 9 Und man gab ihm sein Grab bei Gottlosen und bei Übeltätern, als er gestorben war, wiewohl er niemand Unrecht getan hat und kein Betrug in seinem Munde gewesen ist. 10 Aber der HERR wollte ihn also zerschlagen mit Krankheit. Wenn er sein Leben zum Schuldopfer gegeben hat, wird er Nachkommen haben und lange leben, und des HERRN Plan wird durch ihn gelingen. 11 Weil seine Seele sich abgemüht hat, wird er das Licht schauen und die Fülle haben. Durch seine Erkenntnis wird er, mein Knecht, der Gerechte, den Vielen Gerechtigkeit schaffen; denn er trägt ihre Sünden. 12 Darum will ich ihm die Vielen zur Beute geben und er soll die Starken zum Raube haben dafür, dass er sein Leben in den Tod gegeben hat und den Übeltätern gleichgerechnet ist und er die Sünde der Vielen getragen hat und für die Übeltäter gebeten.

Entsetzlich und erstaunlich zugleich ist das, was uns von diesem Menschen berichtet wird, liebe Gemeinde. Der es aufgeschrieben hat, merkt das selbst: „Viele entsetzten sich – und er wird doch viele Völker in Staunen versetzen“, so heißt es ganz am Anfang.

Wo Menschen zum Opfer fallenJa, es ist entsetzlich, dass jemand so gequält wird. Und noch mehr: „Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf.“ Auch das finde ich schwer zu ertragen. Wenn einer sich nicht wehrt. Das gibt es ja: Der Junge, der gehänselt und gequält wird – auf dem Schulhof oder heute oft auch noch rund um die Uhr im Internet – und der seinen Peinigern nichts entgegenzusetzen hat. Die Frau, die von ihrem Mann ausgenutzt und verächtlich gemacht wird – und keine Grenze ziehen kann.
Wer aber ist dieser geheimnisvolle Mensch im Buch Jesaja, der so leidet und sich nicht wehrt – und der doch ganz anders ist als andere Opfer? Der am Ende „das Licht schauen“ und „die Fülle haben“ wird? Wer ist der Knecht Gottes, wie er im Jesjabuch genannt wird? Ehrlich gesagt: Wir wissen es nicht! Vielleicht redet der Prophet von sich selbst. Vielleicht aber auch vom ganzen Volk Israel und dessen Leiden. Für die ersten Christen war klar: Hier ist von Jesus die Rede. Der Prophet hat vorausgesehen, was mit ihm und durch ihn geschehen ist.
Ob wir den Text so verstehen oder anders: Wir hören von einem Menschen, der Leid erfährt – und dazu auch noch verachtet wird. Und die Erfahrung zeigt: Wer sich in so einer Lage befindet, hat keine Schonung zu erwarten. Im Gegenteil, so ist es doch oft: Wer schwach ist und sich nicht wehrt, wird regelrecht zur Zielscheibe. Fällt den anderen quasi zum Opfer. Bei Tieren greift die Beißhemmung, wenn der Gegner unterlegen ist und zeigt, dass er sich ergibt. Bei Menschen ist dieser Instinkt ausgeschaltet. Wenn sich ein leichtes Opfer findet, um den eigenen Druck loszuwerden, dann geht es erst richtig los. Das fängt da an, wo es scheinbar noch harmlos ist: Meine Kinder sind gerne die ersten, die es zu spüren bekommen, wenn ich unter Druck stehe. Es geht weiter auf dem Schulhof, wo Kinder ihren Schulfrust an jemanden auslassen, der sich im Zweifelsfall nicht wehrt. Und es kann da tödlich enden, wo Menschen, die sich zurückgewiesen fühlen, mit nackter Gewalt reagieren. Wo Frauen beispielsweise um ihr Leben fürchten müssen, weil ihr Ex-Partner die Trennung nicht akzeptiert.
„Er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen“, heißt es im Jesajabuch vom Knecht Gottes. Er ist das Opfer aller Opfer. Er bekommt alles ab, was sich angehäuft hat an Neid, Druck, Frustration und Hass in dieser Welt. Er muss alles ertragen, alles erleiden. Und er wehrt sich nicht. Und doch ist bei ihm etwas anders. Er ist das Opfer, aber er fällt nicht zum Opfer.

Wo der Hass ins Leere läuftWenn sonst ein Mensch gequält wird, ohne sich zu wehren, hält er das in der Regel nicht auf Dauer aus, verwandelt sich in eine tickende Zeitbombe. Bei dem, von dem das Jesajabuch spricht, – und bei dem, der für uns gelitten hat, der für uns am Kreuz hängt, – da ist es anders. Bei ihm wird all der Hass und die Gewalt, die auf ihn trifft, nicht gesammelt, um an anderer Stelle umso zerstörerischer wieder hervorzubrechen. Er kann die Demütigungen, die Verachtung, die Qualen nicht nur ertragen, sondern tatsächlich tragen. Bei ihm läuft der Hass ins Leere. Und wird so seiner Kraft beraubt. Er durchbricht den Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt. Und auch die Logik von Schuld und Strafe.

Wo Frieden wird und Wunden heilen„Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.“ Deshalb muss ich nicht verstecken, was auch in mir steckt: Meine Ungeduld, meine Mitleidlosigkeit, meine bösen Worte und meine Feigheit, meine Halbwahrheiten und leeren Versprechungen. Ich kann das alles auch nicht verstecken. Denn er kennt es schon. Aber ich muss keine Strafe fürchten. Denn er erleidet sie schon selbst.
Und ich spüre: Wenn der Mechanismus von Druck und Gegendruck unterbrochen wird, dann kann Frieden werden. Dann können Wunden heilen. Dann höre ich auf, mich selbst unter Druck zu setzen und diesen Druck an andere weiterzugeben. Dann hat das Leben eine neue Chance.
„Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten.“ Wo dieser Frieden erfahrbar wird, da sind Menschen auch bereit sich einzusetzen für die Opfer. Wo der Frieden sich ausbreitet, wird Hilfe möglich: Von jedem und jeder von uns, der oder die nicht wegsieht, sondern sich kümmert – als Freundin, als Kollege, als Nachbarin. Oder auch ehrenamtlich oder beruflich, in der Kirchengemeinde, bei Streitschlichtern in der Schule, in der Beratungsstelle.
Da geht jemand auf den gemobbten Jungen, die verzweifelte Mutter zu, um zu sagen: „Du bist nicht allein. Ich bin da, wenn du mich brauchst!“ Und im Zweifelsfall auch: „Wehr dich! Geh weg! Du musst das nicht erleiden! Es ist dein Leben – und es ist genug, dass einer für uns alle gelitten hat!“
„Durch seine Wunden sind wir geheilt.“ Wo diese Heilung spürbar wird, da gibt es Hoffnung auch für die Täter, die ja meist gleichzeitig Opfer sind. Da erreicht sie die heilsame Botschaft: „Du bist mehr als das, was du getan hast. Du kannst neu beginnen.“ Da wird der Kreislauf von Versagen, Frustration, Wut und Strafe durchbrochen. Und manchmal sind es gerade ehemalige Täter, die sich am wirkungsvollsten für andere einsetzen. Denn sie wissen, worum es geht.
Ich weiß: Noch ist der Frieden dauernd gefährdet, noch sind die Wunden nicht geschlossen. Noch werden wir eingeholt von dem, was wir nicht wollen und doch tun. Noch gibt es Menschen, die andere quälen. Menschen, die am Leid zerbrechen. Und andere, die hilflos zusehen müssen.
Aber es gibt einen, der trägt und erträgt mit uns, was eigentlich unerträglich ist. Weil er will, dass wir leben. Er nährt unsere Hoffnung mit seinen Worten und Taten, mit Brot und Wein. Die Hoffnung, dass einmal Frieden ist und Heilung. Für alle – für immer. Amen.

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