3. Sonntag nach Trinitatis (20. Juni 2021)

Autorin / Autor:
Pfarrerin Meike Zyball, Göppingen [meike.zyball@elkw.de]

Lukas 15, 1-10

IntentionGott sucht mich und ich will mich von ihm finden lassen. Dass Gott die Menschen sucht, kann manchmal fast zur Zumutung werden. Doch ich will mich (mit-) freuen.

15,1 Es nahten sich ihm aber alle Zöllner und Sünder, um ihn zu hören. 2 Und die Pharisäer und die Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen.
3 Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach: 4 Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, wenn er eines von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste lässt und geht dem verlorenen nach, bis er's findet? 5 Und wenn er's gefunden hat, so legt er sich's auf die Schultern voller Freude. 6 Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war. 7 Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.
8 Oder welche Frau, die zehn Silbergroschen hat und einen davon verliert, zündet nicht ein Licht an und kehrt das Haus und sucht mit Fleiß, bis sie ihn findet? 9 Und wenn sie ihn gefunden hat, ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen und spricht: Freut euch mit mir; denn ich habe meinen Silbergroschen gefunden, den ich verloren hatte. 10 So, sage ich euch, ist Freude vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße tut.

Gleichnisse als SprungbrettGleichnisse sind für mich wie ein Sprungbrett. Auf einem Sprungbrett kann ich mich einpendeln und mich abfedern. Gleichnisse haben Energie in sich: Sie lassen die Gedanken federn. Sie lassen uns gedanklich springen. Wir springen nicht alle am exakt demselben Punkt. Mich fasziniert die Offenheit der Gleichnisse, die Rätsel, die mir zu denken geben.
Springen wir heute mit und in die zwei Gleichnisse:

Suchen ohne Wenn und AberDa ist der Hirte mit seiner Herde. Sein wachsames Auge gleitet über seine Schafherde. Mit geübtem Blick zählt er nach, nur so als Vergewisserung: 94-96-98-Hundert. Mist. Schnell huscht sein Blick über die Herde, überprüft nochmal, ob es sein kann. Und ja, ihm fehlt ein Schaf. Er geht es suchen. Ohne Wenn und Aber. Ohne zu zögern. Ohne abwägen. Als sei es das Klarste auf der Welt.
Darf ich hier kurz einhaken?! Ich bin keine Schäferin, aber sollte man nicht erst Risiko und Nutzen abwägen. Sind die 99 anderen Schafe denn sicher? Kann ich sie alleine lassen? Ich will nicht riskieren, noch ein Schaf zu verlieren. Mir würde das als erstes durch den Kopf gehen. Aber so wie Jesus das erzählt, ist all das Abwägen in diesem Fall nicht nötig. Er zeichnet ein Hirtenbild von einem, der das Verlorene sucht. Punktum. Dieser Hirte traut es sich ohne Weiteres zu, die 99 anderen allein zu lassen. Der Scheinwerfer der Geschichte liegt ganz auf dem Suchen, dem Finden und der Freude. Der Hirte wägt nicht ab. Er zögert nicht. Er stellt sich nicht die Frage: Lohnt sich das?
Das macht auch die Frau in ihrem Haus nicht. Sie verliert eine Silbermünze. Eine einzige. Und sie stellt das ganze Haus auf dem Kopf. Sie fegt überall. Sie kriecht in die hintersten Ecken. Schmutz und Staub halten sie nicht auf. Auch sie wägt nicht ab. Sie lässt alles andere stehen und liegen, nur das ist jetzt gerade wichtig – nur das Suchen. Ich meine: Sie hätte doch einfach weitermachen können wie zuvor. Warum die ganze Sucherei? Ein Haus verliert schließlich nichts. Irgendwann wäre ihr die Münze auch von alleine wieder in die Hand gefallen. Die Frau wägt nicht ab. Sie zögert nicht. Sie stellt sich nicht die Frage: Lohnt sich das? Der Scheinwerfer der Geschichte liegt ganz beim Suchen, Finden und der Freude.

Ja, ich will: gefunden werdenWas für ein göttliches Bild: Gott ist eine Göttin mit Kehrbesen in der Hand. Er_sie sucht mich, wie das eine schwäbische Hausfrau nicht besser machen könnte. Gott, der Hirte. Gott, die Frau. Wie wunderbar. Gott sucht nach mir. Und ja ich will von Gott gefunden werden. Ich brauche es, von Gott gesucht und gefunden zu werden, wenn ich mich in den dunkeln Ecken meiner Selbst verstecke.
Und wie wir uns im Leben verlieren können. „Ein Mensch geht verloren, ein Kind im Kaufhaus, ein Erwachsener im Leben. Ich gehörte dazu und war wichtig, jetzt sitze ich verloren in der Ecke, vielleicht sogar mitten in einer Familie oder Gemeinde.“(1) Umgeben von Menschen gehe ich verloren. Verliere meine Freude, mein Vertrauen in mich. Verliere meine Träume. Alles erstickt in Zweifel und Schuld.
Gott sucht mich. Er sorgt sich um die Menschen. Er kann uns erreichen, in den hintersten Winkeln unserer Seele. Dorthin, wo wir andere Menschen gar nicht hineinlassen wollen. Dorthin geht Gott. Dort ist Gott. Auch in den dunklen Ecken meiner Selbst. Dort, wo ich schon lange nicht mehr ausgekehrt habe. Wo sich Staub und Schmutz sammeln. Gott ist dort. Er legt sich unsere Last auf die Schulter. Führt uns zum Ganzen zurück. Das eine Schaf kommt zu den anderen zurück. Die eine Münze ist wichtig genug, um sie zu suchen. Auch was in und um uns verloren ist, ist wichtig genug, um es zu suchen. Gott sucht. Auch die Teile in mir, die sich im Leben verfangen haben. Die Gedanken, Wunden und Erlebnisse, die im Staub und Dreck des Lebens liegen. Gott sorgt sich.

Freude – kleine Freudenfeste ganz großGott sucht und er findet. Er findet das Schaf. Sie findet die Münze. Und Gott freut sich. Die Engel freuen sich. Der Hirte ruft die Nachbarn zusammen. Die Frau lädt ihre Nachbarinnen ein. Sie freuen sich gemeinsam. Sie teilen ihre Freude: über das Wiedergefundene. Ich mag es, dass Jesus die große, himmlische Freude der Engel mit einem Kaffeekränzchen zuhause vergleicht. Das große Freudenfest wird geerdet und scheint auf bei unseren kleinen Freudenfesten mitten in unserem Alltag. Sie sind Vorgeschmack auf die große Verheißung, dass es Heil bei Gott geben wird. Heil und Heilung für das, was in uns verloren ist. Für all das, was in unserer Welt verlorengeht.

Die Empörten – Mitfreuen FehlanzeigeDa sind aber noch andere, die skeptisch daneben stehen. Damals schon. Menschen, die sich nicht mitfreuen können. Die Empörten. Die Pharisäer. Die es ganz genau nehmen mit der Moral. Für die ist es eine Zumutung, Jesus so zu sehen: in Gesellschaft der Korrupten. Manchmal weiß ich nicht, auf welche Seite ich mich stellen soll. Denn so einfach kann man die Pharisäer nicht abtun. Man kann nicht einfach sagen: „Jetzt freut euch halt. Jesus nimmt alle Menschen an. Was regt ihr euch denn auf?“ Denn so einfach ist es nicht: Die Zöllner, die sie „Sünder“ nennen, haben früher die Steuern eingenommen. Sie hatten aber kein festes Gehalt, sondern sie durften zu den Steuern einen beliebigen Betrag draufschlagen. Den durften sie dann für sich behalten. Das war ihr Lebensunterhalt. Wenn sie viel draufschlugen, konnten sie gut leben. Die Zöllner lebten also nicht schlecht, zumindest nicht in finanzieller Hinsicht. Geld hatten sie genug. Beliebt waren sie natürlich nicht. Wer will schon mit so Leuten befreundet sein, die einem das Geld aus der Tasche ziehen und es für sich behalten. Warum isst Jesus nicht mit den Menschen zusammen, denen das Geld weggenommen wurde? Mit den Armen. Mit den Entrechteten. Warum ausgerechnet mit den „Sündern“, die andere abziehen? Das ist eine Zumutung!

Eine ZumutungAber ich bin froh, dass Jesus mir das zumutet. Er mutet mir zu, dass er mit Leuten spricht und isst, mit denen ich noch keinen Umgang gefunden habe.
Heute ist Weltflüchtlingstag. Ich mag mir gar nicht vorstellen, dass Jesus womöglich auch mit den Leuten zusammen essen würde, die bei der Flucht Geld abkassieren. Mit den Schleppern. Mit den Schleppern, die die Not und die Sehnsucht nach Leben von anderen Menschen so sehr ausnutzen, dass sie ihnen alles Geld abnehmen, um sie in einem Schlauchboot aufs Mittelmeer zu ziehen. Ich weiß nicht, was Jesus mit denen machen würde. Es wäre eine Zumutung! Würde er mit solchen Schleppern essen?
In der Gleichniserzählung gibt es eine kleine Einschiebung, die ich fast überlesen hätte. „So (…) ist Freude vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße tut.“ Die Engel freuen sich über einen Sünder, der Buße tut. Über einen Menschen, der sein Leben ändert; der umkehrt; der von Gewalt und Menschenhandel ablässt.
Aber Gott ist anders. Er sucht erst einmal, damit er sich freuen kann! Der Scheinwerfer der Geschichte liegt ganz beim Suchen und der Freude über Wiedergefundenes. Nicht, dass die Sünder als verloren gelten ist wichtig, auch nicht, dass Buße von ihnen erwartet wird. Jesus stößt weder die Zöllner noch die Pharisäer zurück. Eigentlich adelt er die Pharisäer förmlich, wenn er sie als die 99 Gerechten bezeichnet, die der Buße nicht bedürfen. Das sind doch anständige Menschen!
Aber sein Herz ist weiter und größer als das Herz dieser anständigen Menschen, weiter als das meine. Freut euch, über Menschen, die ich suche, die ich heil machen kann, ruft Jesus uns zu. Das Gewicht liegt auf Gott, der uns sucht. Es ist Gott, der uns sucht. Und die Buße folgt dann. Es ist nicht umgekehrt. Wir müssen uns nicht erst beweisen. Wir müssen uns nicht erst als würdig erweisen, von Gott gesucht zu werden. Denn Gott sucht uns, und ja, ich will von ihm gefunden werden. Und ich will mich mitfreuen – mit anderen, die auch gefunden werden.

Anmerkung
1 Zitiert nach: A+B Ausgabe 9/2021, Predigtmeditation von Frieder Grau.



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