13. Sonntag nach Trinitatis (29. August 2021)

Autorin / Autor:
Rundfunkpfarrerin i. R. Dr. Lucie Panzer, Stuttgart [lucie.panzer@web.de]

1. Mose 4, 1-17

IntentionDie Predigt soll 1. Mose 4 als Gleichniserzählung verständlich machen: Zeigte 1. Mose 3 die vertikale Dimension menschlichen Fehlverhaltens, so folgt in 1. Mose 4 daraus die horizontale Dimension der Sünde: Wer sein will wie Gott, maßt sich an, Herr über Leben und Tod zu sein und zerreißt die sozialen Bindungen der Geschöpflichkeit. Die Konsequenz ihres Verhaltens müssen Menschen tragen. Aber Gott überlässt sie nicht dem Fluch der Sünde. Sie bleiben seine Geschöpfe und er gibt ihnen eine neue Perspektive. Ich rate deshalb, 1. Mose 4, 17 zum Predigttext dazu zu nehmen.

Eine Geschichte wie ein SpiegelEs gibt Geschichten, die sollen nicht Auskunft geben über bestimmte Ereignisse: Dies und das ist geschehen und so hat sich die Sache dann entwickelt. Sie werden vielmehr immer und immer wieder erzählt, weil sie menschliche Grunderfahrungen weitergeben. Sie sind eine Art Gleichnis, und man kann sich darin wieder erkennen: Sie zeigen, wozu Menschen fähig sind im Guten und leider auch im Bösen. Wer sie anschaut und bedenkt, sieht aber auch, wie es anders gehen, wie wir Menschen es anders machen könnten. Ich glaube, so eine Geschichte ist die Geschichte von Kain und Abel. Ich lese aus dem ersten Buch Mose, Kapitel 4, die Verse 1 bis 17:

„Und Adam erkannte seine Frau Eva, und sie ward schwanger und gebar den Kain und sprach: Ich habe einen Mann gewonnen mithilfe des Herrn. Danach gebar sie Abel, seinen Bruder. Und Abel wurde ein Schäfer, Kain aber wurde ein Ackermann.
Es begab sich aber nach etlicher Zeit, dass Kain dem Herrn Opfer brachte von den Früchten des Feldes. Und auch Abel brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der Herr sah gnädig an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick. Da sprach der Herr zu Kain: Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick? Ist’s nicht so: Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie. Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Lass uns aufs Feld gehen! Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot.Da sprach der Herr zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein? Er aber sprach: Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde. Und nun: Verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul hat aufgetan und deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen. Wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort seinen Ertrag nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden.Kain aber sprach zu dem Herrn: Meine Schuld ist zu schwer, als dass ich sie tragen könnte. Siehe, du treibst mich heute vom Acker, und ich muss mich vor deinem Angesicht verbergen und muss unstet und flüchtig sein auf Erden. So wird mir’s gehen, dass mich totschlägt, wer mich findet. Aber der Herr sprach zu ihm: Nein, sondern wer Kain totschlägt, das soll siebenfältig gerächt werden. Und der Herr machte ein Zeichen an Kain, dass ihn niemand erschlüge, der ihn fände. So ging Kain hinweg von dem Angesicht des Herrn und wohnte im Lande Nod, jenseits von Eden, gegen Osten.
Und Kain erkannte seine Frau; die ward schwanger und gebar den Henoch. Und er baute eine Stadt, die nannte er nach seines Sohnes Namen Henoch.“

Die Bibel erklärt nicht das WarumSie haben es gehört, eine Geschichte, wie sie immer wieder vorkommt. Einer hat Erfolg, der andere nicht. Und wir erfahren nicht, warum das so ist. Warum werden die einen in ärmlichen Verhältnissen geboren, bildungsfern, wie wir gern sagen, und haben im Grunde von vornherein keine Chance, weiter zu kommen? Warum ist die eine begabt und fleißig und kommt voran und der andere gibt sich mindestens genauso viel Mühe und der Erfolg bleibt doch aus? Ist das nicht ungerecht? Kain und Abel machen Gott verantwortlich für diese Ungerechtigkeit. Einer muss schließlich schuld sein. Heute sagen viele, es seien die Erziehung oder die Verhältnisse, in die einer hinein geboren wird. Manchmal sind es Schicksalsschläge, Naturkatastrophen, Kriege, die die Menschen aus der Bahn werfen. Es gibt keine Erklärung dafür, warum es die einen trifft und andere nicht. Es könnte jeden treffen. Unsere Welt ist nicht das Paradies.

Wie gehen Menschen mit Misserfolg und Benachteiligung um?Aus Wut über Ungerechtigkeiten haben Menschen sich schon immer gegenseitig umgebracht. Wegen Ungerechtigkeiten kommt es zu Gewalt: zwischen einzelnen und zwischen Völkern. Weil eine Gruppe sich benachteiligt fühlt oder unterdrückt. Weil Bodenschätze und Ressourcen ungleich verteilt sind. Weil man die vertreiben oder gar ausrotten will, die im eigenen Land wohnen und da vermeintlich nicht hingehören. Weil man sich wehren muss gegen scheinbar unberechtigte Ansprüche. Gewalt hat verschiedene Ursachen und schließlich gibt es Tote, oft Millionen Tote, Witwen und verwaiste Kinder , Leid und Kummer. Ein paar Gewinner, viele Verlierer. Ist das dann gerecht?
Vieles ist ungerecht in unserer Welt. Und vielen geht es dann wie Kain. Der wurde wütend. „Er ergrimmte und senkte finster seinen Blick“ heißt es in der Bibel. Er sieht nicht mehr den anderen. Sieht nur noch sich selbst und was ihn kränkt. Kränkungen können einen krank machen. Dauerhaft. Körperlich, vor allem aber seelisch. Wer sich ungerecht behandelt fühlt, wer im Stich gelassen wurde von Menschen, denen er vertraut hat, wer vertrieben wird und abgeschoben, wer Mobbing erdulden muss, der ist tief verletzt, gekränkt, und manchmal so verbittert, dass er auf Rache sinnt. „Denen werde ich es zeigen, die werden schon sehen, was sie davon haben!“ Bei manchen Menschen entsteht so eine tiefgreifende psychische Störung, die Psychologen nennen sie „posttraumatische Verbitterungsstörung“. Das Wort ist ziemlich neu – die Sache aber alt. Bei Kain und Abel sehen wir die schlimmen Folgen so einer Verbitterungsstörung. Gott, so schien es ihm, wollte sein Opfer nicht. Kain war gekränkt. Und in seiner Wut erschlägt er Abel, seinen Bruder. Der erste Brudermord der Geschichte – gewachsen aus einer Kränkung. Bis heute werden wegen Ungerechtigkeit und Kränkungen Kriege geführt, Terroranschläge verübt, Menschen werden verfolgt und misshandelt.

Es geht auch anders!Die Bibel erzählt: Gott sieht das kommen. Er warnt Kain. Lass dich nicht von deinem Zorn überwältigen! Aus Zorn wird leicht Gewalt. Und das Ende ist schlimm. Kain aber könnte auch anders. Er ist nicht einem blinden Schicksal ausgeliefert. Er könnte sich mäßigen. Gott erinnert ausdrücklich daran. „Wenn du fromm bist…“, sagt er. Man kann das auch übersetzen: „Wenn du es gut machst…“, dann kann er dem Impuls widerstehen, sich zu rächen. Keiner muss ein böser Mensch werden, weil das Schicksal es so will.
Aber Kain sieht rot. Nichts weiter. Und in grenzenloser Wut erschlägt er seinen Bruder. Menschen sind (leider) oft weniger vernünftig und vernunftgesteuert, als sie es sich einbilden.
Und dann ist der eine tot und der andere ein Mörder. Ist dadurch irgendwas besser geworden? Gerechter womöglich? Anscheinend begreift Kain das auch. Als es zu spät ist, begreift er, was er getan hat. Kain ist zum Mörder geworden ist. Er hat seinen Bruder umgebracht – nun wird er ohne Bruder leben müssen. Solche Geschichten werden erzählt, damit die Hörer es bessermachen.

Wo ist dein Bruder?„Wo ist dein Bruder?“, fragt Gott. Er hat die Menschen als soziale Wesen geschaffen, die einander brauchen und aufeinander angewiesen sind. „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist“, heißt es in der Schöpfungsgeschichte. Daran erinnert die Frage Gottes. Und Kain erkennt, was geschehen ist. Deshalb kommt seine aggressive Gegenfrage: „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ Angriff ist die beste Verteidigung.

Die KonsequenzenAber er muss nun die Folgen seines Tuns tragen. Er muss ohne Bruder leben: einsam und ohne Hilfe. Ohne einen nahen Menschen, der ihm beisteht. Ohne Zuhause. Nod, das Land, in das er nun kommt, ist das Land der Ruhelosen und Heimatlosen. Eben nicht das Paradies. Nod liegt jenseits von Eden.
Aber immerhin: Kain kann leben! Für Gott bleibt auch der Brudermörder ein Mensch. Gottes Fluch gilt der schlimmen Tat – nicht dem Täter. Kain bleibt Gottes Geschöpf und bekommt eine Perspektive. Eine Frau, eine Partnerin, mit der er Kinder zeugen kann. Eine Familie! Und: Kain baut eine Stadt für sich und seine Familie. Kain – der erste Städtebauer. Seine Stadt wird nicht das Paradies. Nie mehr wird eine Stadt das Paradies sein. Aber immerhin! Ein Raum zum Leben, den er gestalten kann. Den wir gestalten können. Denn wir alle sind Nachkommen Kains. Wir können es in unseren Städten und Dörfern besser machen als er – wir können unsere Schwestern und Brüder hüten.

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