19. Sonntag nach Trinitatis (10. Oktober 2021)

Autorin / Autor:
Pfarrer Markus Granzow-Emden, Stuttgart [Markus.Granzow-Emden@elkw.de]

Jesaja 38, 9-20

IntentionWas kann ein Mensch tun, wenn der Lebensfaden abgeschnitten zu werden droht? Was tut der Hiskia, der König Israels? Sich an Gott wenden, warten, die Wirklichkeit annehmen, ehrlich sein gegenüber Gott, sich selbst und anderen, Vergebung empfangen, anders leben. Hiskia lobt Gott, und das kann ich auch: Ob Gott mich gesund macht oder in Krankheit bewahrt – vielleicht wird auch da meine Klage zum Lob.

Von heute auf morgen verändert sich alles, wenn wir mit einer schweren Krankheit zu tun bekommen. Schon wenn Menschen, die uns nahestehen, betroffen sind, nimmt uns das mit wie kaum etwas anderes. Und ebenso oder noch mehr, wenn wir selber vor der Frage stehen: „Werde ich wieder gesund oder nicht?“

Wir hören heute von Hiskia. Hiskia war König zur Zeit des Propheten Jesaja. Und er wurde im besten Alter plötzlich krank, schwer krank. „Es geht auf den Tod zu,“ musste der Prophet ihm sagen. – Auf der Höhe seiner Tage traf ihn die schlimme Nachricht. Doch dann durften Hiskia und die, die um ihn waren, erleben, dass er noch einmal zu Kräften kam.
Der Predigttext für den heutigen Sonntag ist ein Gebet Hiskias. Todesangst und große Klage begegnen uns in seinen Worten – und dann das Staunen über die Wende. Wir hören aus Jesaja 38 die Verse 9 bis 20:

„Dies ist das Lied Hiskias, des Königs von Juda, als er krank gewesen und von seiner Krankheit gesund geworden war:
Ich sprach: In der Mitte meines Lebens muss ich dahinfahren,
zu des Totenreichs Pforten bin ich befohlen für den Rest meiner Jahre.
Ich sprach: Nun werde ich nicht mehr sehen den HERRN,
ja, den HERRN
im Lande der Lebendigen,
nicht mehr schauen die Menschen,
mit denen, die auf der Welt sind.
Meine Hütte ist abgebrochen
und über mir weggenommen wie eines Hirten Zelt.
Zu Ende gewebt hab ich mein Leben wie ein Weber;
er schneidet mich ab vom Faden.
Tag und Nacht gibst du mich preis;
bis zum Morgen schreie ich um Hilfe;
aber er zerbricht mir alle meine Knochen wie ein Löwe;
Tag und Nacht gibst du mich preis.
Ich zwitschere wie eine Schwalbe
und gurre wie eine Taube.
Meine Augen sehen verlangend nach oben:
Herr, ich leide Not, tritt für mich ein!
Was soll ich reden und was ihm sagen?
Er hat’s getan!
Entflohen ist all mein Schlaf
bei solcher Betrübnis meiner Seele.
Herr, davon lebt man,
und allein darin liegt meines Lebens Kraft:
Du lässt mich genesen
und am Leben bleiben.
Siehe, um Trost war mir sehr bange.
Du aber hast dich meiner Seele herzlich angenommen,
dass sie nicht verdürbe;
denn du wirfst alle meine Sünden hinter dich zurück.
Denn die Toten loben dich nicht,
und der Tod rühmt dich nicht,
und die in die Grube fahren,
warten nicht auf deine Treue;
sondern allein, die da leben, loben dich so wie ich heute.
Der Vater macht den Kindern deine Treue kund.
Der HERR hat mir geholfen,
darum wollen wir singen und spielen,
solange wir leben,
im Hause des HERRN!“

Liebe Gemeinde!

Alles ändert sich, wenn die Diagnose ausgesprochen ist: „Sie haben einen aggressiven Tumor. Es sieht leider nicht gut aus.“ Wer mit einer solchen Nachricht konfrontiert wird, wird erst einmal weinen – oder verstummen. Und dann, nach dem ersten Erschrecken, stellen sich Fragen: Welche Möglichkeiten der Behandlung gibt es? Wieviel Zeit bleibt? Und: Was kann ich tun?

Was kann ich tun? Vielleicht kann uns, was Hiskia tut, ein paar Hinweise geben auf das, was wir tun können, wenn wir mit schwerer Krankheit zu tun haben. Was wir von Hiskias Gebet erfahren, wird ein Gespräch mit der Ärztin, wird einen guten medizinischen Therapieplan nicht ersetzen. Was wir bei Hiskia erfahren, kann aber eine Ergänzung sein für das, was die Ärzte für uns tun. Begleiten wir Hiskia also auf seinem Weg, den er betend geht.

Hiskia beschreibt, was die Diagnose zunächst einmal für ihn bedeutete. Er spricht es aus: Der Tod steht mir bevor. Viel zu früh kommt er. Auf der Höhe seiner Lebenszeit. Die Zeit, die ihm noch bleibt, ist bereits vom Tod überschattet.

Nüchtern stellt Hiskia fest, was der Fall ist. Er weicht der Wirklichkeit nicht aus, flüchtet sich nicht in irgendeine Ablenkung, in Schuldzuweisung oder Selbstzermarterung. Hiskia sagt: So ist das jetzt.

Dass er einmal gehen muss, weiß Hiskia. Dass es so früh, so sehr vor der Zeit sein soll, macht ihm zu schaffen.

Er klagt: „Meine Hütte ist abgebrochen und über mir weggenommen wie eines Hirten Zelt“ (Vers 12a). Ohne Schutz steht Hiskia da. Wer ist es, der ihm seinen Leib, seine schützende Hülle entzieht und wegnimmt? Es war kein Unfall, es war kein Unterliegen im Kampf – sollte es Gott gewesen sein?

„Zu Ende gewebt hab ich mein Leben wie ein Weber; er schneidet mich ab vom Faden“ (Vers 12b). Das Leben – wie eine Stoffbahn, die am Webstuhl hängt. Tag für Tag kommt ein Stück dazu. Und dann wird das Webstück abgeschnitten. „Er schneidet mich ab“ – kein anderer als Gott kann da gemeint sein.

In der griechischen Mythologie findet sich ein ähnliches Bild. Vom Lebensfaden wird auch dort erzählt. Den hat ein jeder Mensch. Der eine hat mehr, der andere weniger Fadenlänge. Drei Schicksalsgottheiten sind zuständig für den Lebensfaden, die Griechen stellten sie sich weiblich vor und nannten sie „die Moiren“. Die erste von ihnen spinnt für die Menschen den Lebensfaden, die zweite teilt einem jeden das Maß zu – und die dritte schneidet den Faden ab.

Hiskia kann sich nicht an irgendwelche Schicksalsgottheiten wenden. Er muss es mit Gott ausmachen, mit keinem anderen: „Bis zum Morgen schreie ich um Hilfe; aber er zerbricht mir alle meine Knochen wie ein Löwe; Tag und Nacht gibst du mich preis“ (Vers 12d.13).

Wir sehen Hiskia ringen, wir hören ihn klagen, wir spüren seine Angst. Nachts ist es besonders schlimm. Ganz und gar preisgegeben. Wie ein Tier, das schon den Löwen sieht. Noch hat der nicht zugeschlagen – aber genau das steht bevor.

Aus Leibeskräften schreit Hiskia um Hilfe. Und dann versiegt die Kraft, die Stimme versagt. Es bleiben ihm nur noch zagende Laute: Wie eine Schwalbe piepst, wenn sie ihr Nest zerstört sieht. Wie eine Taube gurrt, wenn sie ganz aufgebracht ist. So äußert sich der betende König. Mit letzter Kraft. Mit leisem Laut – und flehendem Blick.

Mehr kann er nicht tun. „Doch das, was er kann, tut er. „Herr, ich leide Not, tritt für mich ein!“ (Vers 14)

Was tun? Und was nicht?Was kann ich tun, wenn schwere Krankheit nach mir greift? Was kann ich tun – über das hinaus, was Ärztinnen und medizinische Fachleute tun?

Hiskia hat sich der Wirklichkeit gestellt. Hiskia bewegt sich tastend vorwärts in seinem Beten. Abgebrochen sein Zelt. Abgeschnitten sein Leben. Und dann spricht er es klagend aus: Preisgegeben hast du mich. Du! Wie kann das sein? Ist das dein Ernst?

Hier spricht einer, der nicht zum ersten Mal betet! Das gibt es ja auch. Not lehrt ja bekanntlich auch beten. Aber der hier betet, der betete – soweit wir wissen – auch sonst. Doch er betete noch nie so ernst, so mit ganzem, mit letztem Einsatz.

Was kann ich tun? – so haben wir gefragt. Hiskia betet. Er mutet Gott seinen Schmerz zu. Wohin sollte er sich sonst wenden? –

Nun kann er nur noch warten. Warten ist keine leichte Übung. Ein König ist doch sonst einer, der Entscheidungen trifft, der handelt oder andere anweist zu handeln.

Wir wissen nicht, wie lange Hiskia warten muss. Und er weiß nicht, wie seine Sache ausgeht. Er ist nur der König von Juda – nicht der Herr über Leben und Tod.

Hiskia kennt seine Grenzen. Und er macht sich keine Illusionen über seine gesundheitliche Lage. Aber er traut sich, sein Anliegen vor Gott auszubreiten, er wagt es, zu fragen und zu kämpfen, mit lauten und leisen Worten – mit Blicken und anderen Gesten. Mehr kann er nicht tun. Doch mit dem, was er tut, gibt er Menschen ein Beispiel und macht ihnen Mut: Die Wirklichkeit anzunehmen – und sich doch nicht einfach mit ihr abzufinden. Sich mit der Not an Gott zu wenden – und nicht an andere Schicksalsmächte. Und beim Beten ehrlich zu sein, Gott alles zu sagen, ihm alles zuzumuten.

Einerseits ist Hiskia an Gott schier verzweifelt. Und hält andererseits doch betend an ihm fest. Fremd ist ihm Gott und unbegreiflich – und doch sagt er weiter „Du“ zu ihm. Der ihm all das zumutet, der ihm diese Not nicht erspart hat: Genau den ruft er an: „Bürge du für mich! Reiß mich heraus!“

Auf Gottes Zuwendung hoffenUnd es geschieht das Wunder: Hiskia erfährt, Gott nimmt sich meiner an.

Wunder können wir nicht machen. Auch durch noch so engagiertes Beten können wir kein Wunder erzwingen.

Wo ein Mensch das spürbare Eingreifen Gottes nicht erlebt, dürfen wir nicht folgern:
„Krank geblieben? – Wohl zu wenig gebetet. Oder irgendetwas verschwiegen.“ Dann hätten Menschen nicht nur mit ihrer Krankheit zu kämpfen, sondern auch mit der Verurteilung durch andere. So zu urteilen, steht uns nicht zu! Und wo es geschieht, sollten wir widersprechen.

Wunder können wir nicht machen. Vielleicht braucht es einige Zeit, bis einer so wie Hiskia beten kann: „Siehe, um Trost war mir sehr bange. Du aber hast dich meiner Seele herzlich angenommen, dass sie nicht verdürbe; denn du wirfst alle meine Sünden hinter dich zurück“ (Vers 17).

Wie ehrlich Hiskia seine Lage schildert: Mir war bange. Sogar sehr bange. – Wie gut, wenn ein kranker Mensch nicht den Unerschütterlichen spielen muss.

Hiskia staunt und bekennt: Gott hat sich herzlich um mich angenommen. Er hat in seiner Liebe mein Leben noch einmal vor dem Tode bewahrt. Aus dem Bitteren ist mir Rettung erwachsen.

So ist Hiskia wieder genesen, er ist aber an der Bedrohung auch gereift. Aufs Neue darf er leben – und er wird, so gerettet, zukünftig anders leben: Gott hat die Gemeinschaft erneuert. Keine Sünde steht mehr trennend im Wege. Du wirfst sie hinter dich, kann Hiskia dankbar sagen.

Menschen verändern sich im Zusammenhang von schwerer Krankheit. Oft zum Guten. Manchmal gewinnen sie Weisheit und Reife hinzu. – Ein vollkommen heiles Leben, ohne Narben, ist es wohl nicht. Aber auch mit seinen Wunden wird es ein ganzes Leben sein.

Das neu geschenkte Leben und das LobFünfzehn weitere Jahre werden Hiskia geschenkt, und es sind keine schlechten Jahre. Gott hat ihm das Leben neu geschenkt, und so lobt er seinen Gott mit Herz und Mund, mit Stimme und Gesang. Und er steckt andere an, dass sie es ihm gleichtun.
Gottes Ruhm soll sich ausbreiten, sein Lob zu hören sein: mit Trompeten und Posaunen, mit Harfen- und mit Saitenspiel. –

Es gibt Zeiten der Krankheit, die sind nicht zu loben. Doch wo ich erfahre, dass Gott sich meiner annimmt, ob er mich gesund macht oder in Krankheit bewahrt: Vielleicht wird da auch meine Klage zum Lob.
Amen.

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