Heiligabend/Christvesper (24. Dezember 2021)

Autorin / Autor:
Pfarrer Albrecht Conrad, Stuttgart [Albrecht.Conrad@elkw.de]

Micha 5,1-4

IntentionUms Christfest sammelt sich viel Sehnsucht an. Micha sagt: Es kommt einer, diese Sehnsucht zu erfüllen!

Die Predigt ist sicher zu lang für einen 30minütigen Gottesdienst, wie er womöglich vorgeschrieben sein wird. Aber sie soll ja auch als Material dienen.

Liebe Gemeinde, so viel Sehnsucht sammelt sich ums Christfest:
• Wir dekorieren uns das Wohnzimmer zu, wie wir es im Januar schon nicht mehr ertragen. Auch Kitsch ist ok.
• Wir singen viel mehr und viel innigere Lieder als in den elf Monaten davor.
• Wir bemühen uns um ein friedliches Miteinander wie sonst das ganze Jahr nicht.
• Wir erinnern uns, wie das war: Weihnachten als Kind. Oder nur: Weihnachten ohne Pandemie!
Bei all dem steigt in uns Sehnsucht auf. Diese Sehnsucht macht das Herz weit. Aber sie tut auch weh. Sehnsucht ist schmerzlich schön.
Schmerzlich schön beschreiben daher die Brüder Grimm in ihrem Deutschen Wörterbuch: Sehnsucht sei die „Krankheit des schmerzlichen Verlangens“.

Ist diese Krankheit namens „Sehnsucht“ heilbar? Leider nicht. Schaun‘ wir uns doch um in der Welt. Solange es in der Welt so zugeht wie derzeit, wird’s uns immer nach einer besseren Welt verlangen.
Ist die Krankheit Sehnsucht heilbar? Hoffentlich nicht! Ein Leben, das nach nichts mehr verlangt, ist am Ende.
Weihnachten sagt: Gebt eure Sehnsucht nicht auf. Sie wird sich erfüllen. Gebt eure Sehnsucht nicht auf! Es wird einer kommen.
Ja, so klingt es an Weihnachten: Es wird einer kommen! Noch ist er nicht da! Aber er ist schon zu spüren. Er ist schon zu sehen.
Wer so sehen kann, was kommt, der ist ein Prophet. Wer so spüren kann, dass einer kommt, der ist wie der Prophet Micha. Der hat’s im 6. Jahrhundert vor Christus kommen sehen. Nein: Der hat einen kommen sehen im fünften Kapitel seines Buches (Verse 1-4):

„Und du, Bethlehem Efrata, die du klein bist unter den Tausenden in Juda, aus dir soll mir der kommen, der in Israel Herr sei, dessen Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist.
Indes lässt er sie plagen bis auf die Zeit, dass die, welche gebären soll, geboren hat. Da wird dann der Rest seiner Brüder wiederkommen zu den Israeliten.
Er aber wird auftreten und sie weiden in der Kraft des Herrn und in der Hoheit des Namens des Herrn, seines Gottes. Und sie werden sicher wohnen; denn er wird zur selben Zeit herrlich werden bis an die Enden der Erde.
Und er wird der Friede sein.“

Gebt eure Sehnsucht nicht auf, sagt Micha. Es wird einer kommen. Ein Hirte. Der wird eure Sehnsucht erfüllen. „Er wird auftreten und sie weiden in der Kraft des Herrn.“
In diesen Versen schreitet Micha ab, wonach wir uns sehnen. Und er zeigt uns: Da und dort können wir schon sehen und spüren, dass sich diese Sehnsucht erfüllen wird.
Gehen wir mit ihm und schauen nach und spüren nach. Und natürlich fangen wir beim Größten an:

Sehnsucht nach FriedenWenn der Relilehrer in der Grundschule aufschreiben lässt: „Was ist Dein größter Weihnachts-Wunsch?“, dann fühlen die Schüler sich verpflichtet, auch was wirklich Wichtiges hinzuschreiben. Raumschiff von Lego, ein neues Smartphone, Playstation – das geht gar nicht. Wenn’s in Reli heißt: „Was ist dein größter Wunsch?“, dann steht auf dem Zettel: „Frieden auf der ganzen Welt“.
Natürlich spüren die Kinder jede kleine Verwerfung, jeden sich anbahnenden Konflikt der Eltern oder sonst wo in ihrer Umgebung.
Und die Schüler sehen an der Vielfalt in ihrer Klasse, in wie vielen Gegenden unserer Welt offensichtlich kein friedliches Leben möglich ist.
Doch bisweilen heißt „Frieden“ lediglich: in Frieden gelassen werden von einem Virus, welches uns seit fast zwei Jahren nicht zur Ruhe kommen lässt. So viele Tote! So viele Kranke! So schwer das gemeinsame Leben.
Was sollte man sich sonst wünschen als Frieden weltweit?
Es kommt einer, sagt Micha, der erfüllt diese Sehnsucht. Ein Hirte. Er gibt die Richtung vor, wie es Hirten eben tun. Und weiß, wo es hingeht: „Er wird der Friede sein.“
„Er wird der Friede sein“ steht da. Nicht: „Ein bisschen Frieden.“ Nicht: „Sein Frieden“. Nicht nur: „Es ist kein Krieg.“ Nein: „Der Friede“, „Schalom“. Recht und Gerechtigkeit herrschen. Volles, erfülltes, vollkommenes Leben für alle.
„Er wird der Friede sein“, steht da. Leider nicht: „Es ist Friede.“ Was wir verlangen, scheint noch nicht einzutreffen. Deshalb leiden wir an der Sehnsucht als an der „Krankheit des schmerzlichen Verlangens“.
Doch vielleicht sehen, spüren, hoffen wir mit Micha schon, dass da etwas, dass da einer kommen wird?
Sehen wir es in unseren Versuchen, auch in diesem Jahr wieder unter den Bedingungen, wie sie halt sind, so gut wie möglich den Hirtendienst füreinander wahrzunehmen?
Spüren wir es in unseren Bemühungen angesichts des derzeit eingeschränkten Lebens geduldig zu sein und gefasst?
Hoffen wir es in unserem Wunsch nach Frieden, nach Schalom für die Weltgegenden, welche es ungleich härter als uns getroffen hat.
Ganz vorsichtig gefragt: Zeigen nicht diese Wünsche, Versuche, diese Gefasstheit, dass wir einen kommen sehen, von dem es heißt „Er wird der Friede sein“?
Nicht nur nach Weltfrieden sehnen wir uns. Es geht auch bescheidener. Wir sehnen uns auch nach dem Vertrauten, nach Geborgenheit, nach Gemeinschaft. Wir sehen uns nach Daheim-Sein. Nach sicherem Wohnen.

Sehnsucht nach WohnenWenn der Pfarrer bei einem Krankenbesuch fragt, ob man gemeinsam einen Psalm beten soll, dann fällt die Wahl oft auf das Lied vom guten Hirten, Psalm 23.
Ein viel schöneres Bild kann‘s kaum geben fürs Dazugehören, fürs Daheim-Sein, fürs sichere Wohnen als das vom Hirten, der seine Schafe um sich sammelt.
Es kommt einer, sagt Micha, der erfüllt diese Sehnsucht. Ein Hirte. Micha sagt: „Er wird (…) sie weiden in der Kraft des Herrn. Und sie werden sicher wohnen.“
Das Weihnachtsfest ist in diesem Sinne ein wohnliches Fest. Nicht nur, weil wir dieses Fest gerne daheim mit unseren Lieben feiern. Sondern auch, weil sich an Weih-nachten mehr Menschen als sonst im Gottesdienst, in der Kirche zuhause fühlen.
Und wir feiern ja auch sonst jeden Sonn- und Feiertag Gottesdienst – gerade in Pandemiezeiten. Woche für Woche, in einem eigens dafür errichteten Gebäude. Ein An-gebot mit der Tradition von tausenden von Jahren. Eine Feier, in der man zusammen Musik hört (und singt!?). Weltweit gleichzeitig gefeiert von vielen Menschen, die der eine Hirte um sich sammelt.
Und zugleich bietet der Gottesdienst an jedem Ort jedem einzelnen Menschen eine Heimat. Ein Zuhause des Glaubens. Unsere Seele wohnt darin. Der Gottesdienst schenkt uns Gleichmaß in unruhigen Wochen. Er stärkt durch Wiederholung. Er hüllt uns in Ruhe. Er bietet uns Dauer und vertraute Worte, in welche wir unsere Sehnsucht kleiden.
„Er wird (…) sie weiden in der Kraft des Herrn. Und sie werden sicher wohnen.“ Liebe Gemeinde! Wir sehnen uns nach Frieden. Wir wünschen uns ein wohnliches Zuhause auch im geistlichen Sinne.
Und in uns rührt sich noch eine dritte Sehnsucht:

Sehnsucht nach GeltungWenn der Pfarrer bei einem älteren Menschen sitzt und fragt, wie es ihm oder ihr denn gehe, dann ist oft eine sehr schwäbische Antwort zu hören: „Ha, ich bin froh, dass ich mei Sach‘ noch schaffen kann.“
Denn wir wollen aktiv sein. Wir wollen was hinkriegen, selbst bei kleinster Kraft. Und was wir tun – sei es scheinbar noch so unbedeutend – es soll was gelten. Wenn uns was gelingt, dann soll das jemand bemerken. Wir sehnen uns danach, dass unser Leben etwas bedeutet.
Es kommt einer, sagt Micha, der erfüllt diese Sehnsucht. Micha sagt: „Du, Bethlehem Efrata, die du klein bist unter den Tausenden in Juda, aus dir soll mir der kommen, der in Israel Herr sei.“
Das hebräische Wort für „klein“ heißt auch „gering“, „unbedeutend“. Micha lenkt unseren Blick weg von der großen Hauptstadt Jerusalem. Er lässt uns nach Bethlehem blicken, ein kleines Landstädtchen neun Kilometer südlich der Metropole.
Der Hirte hat wohl die Herde als Ganzes im Blick. Aber er schaut nach jedem Einzelnen, sei er oder sie noch so gering. Er kommt ja selbst her aus dem Geringen. Mit seiner niedrigen Geburt als Mensch adelt der Gottessohn unser menschliches Leben.
Unser Leben kennt wohl Momente, in welchen wir uns gering und unbedeutend fühlen. Und doch hat unser Leben Bedeutung. Es gilt was! Unser Wert hängt nicht ab von unserem Selbstwertgefühl. Unser Wert hängt am Sohn Gottes, der unser Leben gelebt hat. Das Wort ward Fleisch und darum ist das Fleisch, sprich: unser Leben, was wert.
Auch das, was wir tun: „Du, Bethlehem Efrata, die du klein bist (…), aus dir soll mir der kommen, der in Israel Herr sei.“

Achten wir auf die Worte! „Efrata“ meint nicht nur das Gebiet, in welchem einst die Familie Davids siedelte. Das hebräische Wort „Efrata“ heißt auch „Fruchtfeld“. Es geht nicht nur um das Gebiet. Es geht auch um die Frucht, welche das Land dort hervorbringt.
Es wird einer genau dort herkommen, sagt Micha, wo dein Leben Früchte trägt. Er lässt sich schon sehen dort, wo du Gutes tust. Sein Kommen ist schon zu spüren dort, wo wir was hinkriegen und füreinander bewirken, sei es auch klein.
Ich meine: Welche Geschenke bedeuten uns an Weihnachten denn besonders viel? Sind’s nicht die kleinen Gaben, die zeigen: Da hat Eine Zeit und Mühe für mich eingesetzt. Da gibt sich Einer zu erkennen, der mich beschenkte. Da drückt mir jemand nicht nur was in die Hand, sondern ist selbst für mich da. Da achtet ein Mensch auf meine kleinen Signale der Sehnsucht. Da lässt mich einer fühlen, dass ich zu ihm gehöre.
So, ganz im Kleinen, wo der eine Mensch am anderen Menschen etwas Liebes, etwas aus Liebe tut, dort spüren und sehen wir schon: Es wird einer kommen.

Liebe Gemeinde,
• Wir sehnen uns nach Frieden, weltweit.
• Wir sehnen uns nach Daheim-Sein und Dazugehören.
• Wir sehnen uns danach, etwas zu gelten, auch in dem, was wir tun.

Micha sagt: Es kommt einer, alle Sehnsucht zu stillen, die ihm an uns bewusst. Und fragt ihr, wer das ist, es ist der Herre Jesus Christ, der euer aller Heiland ist. Amen.

An dieser Predigt haben mitgeschrieben: Ulrich Bröckling, Ruth Conrad, Kristian Fechtner, Werner Grimm, Fulbert Steffensky.

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