Altjahresabend (31. Dezember 2021)

Autorin / Autor:
Dekan Dr. Martin Hauff, Ravensburg [Martin.Hauff@elkw.de]

Matthäus 13,24-30

IntentionDie Predigt stellt die Hoffnung, Gelassenheit und Ernte-Gewissheit in den Mittelpunkt, die der Landbesitzer im Gleichnis ausstrahlt. Diese Hoffnung gibt Rückenstärkung für den Schritt über die Schwelle ins neue Jahr 2022, denn noch ist uns Zeit anvertraut.

Liebe Altjahrsabend-Gemeinde!
Der Altjahrsabend-Gottesdienst gibt Raum zum Rückblick und zur Bilanz. Unser innerer Blick schweift über die Lebensfelder, die wir im zu Ende gehenden Jahr durchschritten haben, und über die Arbeitsfelder, die wir beackert haben. In den Momenten der Stille steht die Frage im Raum: Was ist auf meinen Feldern gewachsen? Was ist verkümmert? Welches Unkraut ist gewuchert? Welche zerstörenden Kräfte haben sorgsam Gepflegtes ausgerissen und vernichtet?

Lähmende Resignation oder hektischer Aktionismus?Ich denke heute Abend besonders an die furchtbaren Überschwemmungen im Sommer und an die 4. Welle der Pandemie, die jetzt den Kliniken zu schaffen macht. Wahrzunehmen, dass beileibe nicht alles auf unseren Lebens- und Arbeitsfeldern so gewachsen ist, wie wir das erhofft haben, kann in lähmende Resignation stürzen: Trotz allen Einsatzes auf unseren Lebens- und Arbeitsfeldern haben wir wenig bis nichts erreicht! Trotz aller Erwartung auf gute Früchte ist manches Unkraut aufgeschossen, das den nützlichen Pflanzen Luft und Licht nimmt! – Es kann sich aber auch die andere Reaktion einstellen: Wir müssen noch mehr Einsatz bringen! Wo Unkraut wuchert, müssen wir es noch entschiedener bekämpfen! Hektischer Aktionismus macht sich breit. Aber weder hektischer Aktionismus noch lähmende Resignation geben uns den Rückenwind, den wir für den Schritt über die Schwelle hinein ins Jahr 2022 brauchen. Gibt es eine dritte Möglichkeit? Hören wir Jesu Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen, den für heute Abend in der Evangelischen Kirche vorgegebenen Predigttext; im Matthäus-Evangelium im 13. Kapitel:

Jesu Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen„Jesus sprach: Das Himmelreich gleicht einem Menschen, der guten Samen auf seinen Acker säte. Als aber die Leute schliefen, kam sein Feind und säte Unkraut zwischen den Weizen und ging davon. Als nun die Halme wuchsen und Frucht brachten, da fand sich auch das Unkraut.
Da traten die Knechte des Hausherrn hinzu und sprachen zu ihm: Herr, hast du nicht guten Samen auf deinen Acker gesät? Woher hat er denn das Unkraut? Er sprach zu ihnen: Das hat ein Feind getan.
Da sprachen die Knechte: Willst du also, dass wir hingehen und es ausjäten? Er sprach: Nein, auf dass ihr nicht zugleich den Weizen mit ausrauft, wenn ihr das Unkraut ausjätet. Lasst beides miteinander wachsen bis zur Ernte; und um die Erntezeit will ich zu den Schnittern sagen: Sammelt zuerst das Unkraut und bindet es in Bündel, damit man es verbrenne; aber den Weizen sammelt in meine Scheune.“

Ein ungeheuerlicher Sabotage-AktUngeheuerlich – da sät ein Mensch, ein Landbesitzer guten Samen auf sein Feld. Zu nachtschlafender Zeit taucht eine dunkle Gestalt auf, „sein Feind“, und verübt einen Sabotage-Akt: Er sät Unkraut zwischen den Weizen, ein besonders gemeines Unkraut sogar: Taumellolch. Taumellolch ist im ersten Wachstumsstadium dem Weizen zum Verwechseln ähnlich. Erst wenn sich die Ähren ausbilden, sind Lolch und Weizen leicht zu unterscheiden. Aber dann sind ihre Wurzeln schon miteinander verwoben und lassen sich nur zusammen ausreißen.

Das Unkraut nicht ausjäten – wachsen lassen!Als die böse Überraschung an den Tag kommt, diskutieren die Knechte ganz aufgebracht mit dem Landbesitzer. Kopfschüttelnd fragen sie: „Wie konnte das nur passieren?“ Diese Frage hilft aber nicht weiter. Jetzt kann es nur darum gehen: „Wie kann man angemessen mit dieser Situation umgehen?“ Der Blick der Knechte ist so fixiert aufs Unkraut, dass sie vor lauter Unkraut den guten Weizen gar nicht mehr sehen. Der Anblick des vielen Unkrauts lässt sie beinahe resignieren. Aber dann kippt der Anflug lähmender Resignation um in hektischen Aktionismus: „Wir jäten das Unkraut aus, mit Rumpf und Stumpf!“
Der Landbesitzer bremst den Aktionismus seiner Knechte aus. Er sagt ein klares Nein. Seine Entscheidung gegen das Ausjäten dient dem Schutz des guten Weizens. Die klare Ansage des Landbesitzers strahlt Zuversicht aus. Ja natürlich sieht er auch den Lolch. Aber er sieht mittendrin den guten Weizen. Der Landbesitzer ist erfüllt von der Hoffnung, dass der Weizen reif wird. Er darf jetzt nicht durch unbedachtes Handeln gefährdet werden. Hoffnungsvoll leben heißt, die Schlechtigkeit der Welt nicht täglich neu entdecken und beklagen. Hoffnungsvoll leben heißt, ihr das Bestmögliche entgegenzusetzen.(1)

Die Zeit läuft auf das Ende hinAllerdings ist das Nebeneinander von Unkraut und Weizen kein Dauerzustand. Es kommt die Ernte. Erntezeit, das ist in Jesu Gleichnis Gerichtszeit. Wenn die Zeit des Gerichts gekommen ist, dann spricht Gott sein Urteil und scheidet Gut und Böse voneinander. Im Bild des Gleichnisses: In der Erntezeit ruft der Landbesitzer die Schnitter herbei, die zuerst das Unkraut sammeln und verbrennen, und dann den Weizen in die Scheune bringen. Was für eine Entlastung! Das Ausraufen des Unkrauts, das Überwinden des Bösen, ist nicht Aufgabe der Knechte, der Jesusnachfolgenden, sondern es ist einzig und allein Sache des Menschensohn-Richters und seiner Engel.(2)

Unser Standort am AltjahrsabendAltjahrsabend ist nicht Erntezeit, sondern diejenige Station im Kirchenjahr, die uns den raschen Fluss der Zeit bewusst macht. Noch ist nicht Ernte- und Gerichtszeit. Noch ist uns Zeit anvertraut. Wir finden uns neben den Knechten des Landbesitzers vor, die über das Feld blicken, mit Sorge das Unkraut sehen, das sich zwischen dem Weizen breit macht. Mit den Knechten hören wir die große Zuversicht des Herrn, dass der gute Same heranwachsen wird. Der gute Same auf dem Ackerfeld dieser Welt, das ist jede noch so kleine Tat der Liebe, die im Sinne Jesu geschieht. Sie hat in Ewigkeit Bestand – allem Bösen zum Trotz. Das gibt uns etwas von der Hoffnung und Gelassenheit, die der Herr in dem Gleichnis ausstrahlt. So blicken wir vom Feldrand hinauf in Gottes weiten Himmel, der seine Sonne aufgehen lässt über Böse und Gute. Mit Jesu Worten beten wir vertrauensvoll: „Vater im Himmel, erlöse uns von dem Bösen!“ Das entlastet uns von der Sorge um das Heil der Welt und die Überwindung des Bösen in ihr. Das überlassen wir getrost Gott selbst. Dennoch nutzen wir die uns anvertraute Zeit verantwortungsvoll. Denn wer erfahren hat, dass Gott für das Heil der Welt und des Menschen alles getan hat, der kann für das Wohl des Menschen gar nicht genug tun.(3)

Noch ist uns Zeit anvertrautNoch ist uns Zeit anvertraut, um den guten Samen weiterzugeben, unseren christlichen Glauben zu leben und, wo wir gefragt werden, ihn auch in Worte zu fassen.
Noch ist uns Zeit anvertraut, um Menschen in der Offenheit zu begegnen, die Jesus vorgelebt hat.
Noch ist uns Zeit anvertraut, um beherzt unseren – zugegeben kleinen – Teil zur Schonung des Klimas beizutragen. Aber viele kleine Schritte ergeben in der Summe Veränderungen, die wirken. Deshalb ist die Aufgabe der Christen in unserer Situation nicht, den Untergang anzusagen, sondern zur Umkehr aufzufordern, zur Änderung der Meinungen und Gesinnungen, damit das Leben gerettet wird und nicht zugrunde geht. Wir resignieren nicht, sondern widerstehen dem Unheil.(4)
Noch ist uns Zeit anvertraut, um mit verantwortungsvollem Verhalten mitzuhelfen, dass die vierte Welle gebrochen wird. „Wellenbrecher“, das Wort des Jahres 2021, ist ja schon mit einer positiven Zukunftsperspektive verbunden: Ja, es kann gelingen, diese Welle zu brechen.(5)

Mit Hoffnung die Schwelle zum neuen Jahr überschreitenUnkraut und Weizen, Gut und Böse – noch sind sie eng beieinander. Noch ist längst nicht alles gut. Für den Schritt über die Schwelle ins Jahr 2022 lassen wir uns trotzdem nicht von lähmender Resignation, auch nicht von hektischem Aktivismus bestimmen. Wir leben aus der Hoffnung, dass der auferstandene Christus mit dabei ist und uns die Kraft zum Guten gibt. So erkennen wir, dass die Aufgabe, die vor uns liegt, nie so groß ist wie die Kraft, die hinter uns steht. Amen.

Anmerkungen
1 Hans-Joachim Eckstein, Ihr werdet den Himmel offen sehen. Jahresgabe Evangelische Sammlung 2001, S. 9.
2 Matthäus 13,39.41.
3 nach Eberhard Jüngel (1934-2021), in EG S. 455.
4 Jörg Zink, Vielleicht ist es noch nicht zu spät. Biblische Reden, S. 24.
5 Gesellschaft für deutsche Sprache: "Wellenbrecher" ist das "Wort des Jahres" | tagesschau.de

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