15. Sonntag nach Trinitatis (25. September 2022)

Autorin / Autor:
Dekan Dr. Martin Hauff, Ravensburg [Martin.Hauff@elkw.de]

Galater 5,25–6,10

IntentionIm Geist Christi zu leben gibt den Atem, Lasten anderer mitzutragen, und die innere Bereitschaft, sich beim Tragen eigener Lasten helfen zu lassen. Daraus erwächst die Freiheit, Gutes zu tun – in der Gesellschaft und an den Glaubensgenossinnen und -genossen.

5,25 Wenn wir im Geist leben, so lasst uns auch im Geist wandeln. 26 Lasst uns nicht nach eitler Ehre trachten, einander nicht herausfordern und beneiden.
6,1 Brüder und Schwestern, wenn ein Mensch etwa von einer Verfehlung ereilt wird, so helft ihm wieder zurecht mit sanftmütigem Geist, ihr, die ihr geistlich seid. Und sieh auf dich selbst, dass du nicht auch versucht werdest. 2 Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.
3 Denn wenn jemand meint, er sei etwas, obwohl er doch nichts ist, der betrügt sich selbst. 4 Ein jeder aber prüfe sein eigenes Werk; und dann wird er seinen Ruhm bei sich selbst haben und nicht gegenüber einem andern. 5 Denn ein jeder wird seine eigene Last tragen.
6 Wer aber unterrichtet wird im Wort, der gebe dem, der ihn unterrichtet, Anteil an allen Gütern. 7 Irret euch nicht! Gott lässt sich nicht spotten. Denn was der Mensch sät, das wird er ernten. 8 Wer auf sein Fleisch sät, der wird von dem Fleisch das Verderben ernten; wer aber auf den Geist sät, der wird von dem Geist das ewige Leben ernten. 9 Lasst uns aber Gutes tun und nicht müde werden; denn zu seiner Zeit werden wir auch ernten, wenn wir nicht nachlassen. 10 Darum, solange wir noch Zeit haben, lasst uns Gutes tun an jedermann, allermeist aber an des Glaubens Genossen.

Liebe Gemeinde!
„Einer trage des anderen Last …“ – das ist für mich der zentrale Satz, den der Apostel Paulus seinen Hörerinnen und Hörern am Ende des Briefs an die Gemeinden in Galatien ans Herz legt. Dieser Satz steht inmitten von Überlegungen zum alltäglichen Verhalten von Christenmenschen. Es gilt, in dem Geist zu leben, den Jesus Christus verbreitet und vorgelebt hat: Einer trage des anderen Last.

Einer trage des anderen Last – ein in belasteten Zeiten gern gewählter Denkspruch„Einer trage des anderen Last …“ – das war gar kein ganz seltener Konfirmations-Denkspruch oder Trautext bei der Generation, die Goldene oder Diamantene Hochzeit feiert. Lasten tragen – das klingt nüchtern und hart. Wo bleibt da die Freude am Leben, das Ungezwungene und die Leichtigkeit? Wo bleiben Freiheit und Liebe? Sieht man auf die Lasten eines noch jungen Lebens, das seinen Weg durch die Nachkriegszeit zu finden versuchte, so erscheint dieser Vers als ein gutes Leitwort für einen gemeinsamen Lebensweg, der Beschwerliches und Belastendes nicht ausblendet und dennoch Zuversicht ausstrahlt, es miteinander schaffen zu können.

Einer trage des anderen Last – ein erneut brandaktuell gewordenes WortIch gebe zu, ich habe in den vergangenen Jahren keiner Konfirmandin und keinem Konfirmanden dieses Wort als Denkspruch mit auf den Lebensweg gegeben. Und dennoch rückt uns dieses Wort ganz nahe, seit wir die Belastungen des Lebens wieder stärker spüren: Da ist die immer noch belastende Pandemie. Da sind die auch in unseren Regionen belastend sich auswirkenden Klimaveränderungen. Und da lastet seit mehr als einem halben Jahr auch noch der Krieg auf dem Osten Europas mit weltweit belastenden Auswirkungen. Im beginnenden Herbst 2022 legen sich die Lasten schwer auf unsere Gesellschaft und unsere Welt. Es wächst rasant die Sorge vor den Belastungen, die für viele nicht nur den Wohlstand schmälern, sondern die ganze Existenz bedrohen. Der Ruf nach Entlastung ist unüberhörbar, und immer neue Entlastungspakete müssen geschnürt werden, nur – wie lange geht das noch? Wo stehen wir als Kirche, wo sind wir als Christinnen und Christen gefragt? Wo ist Hoffnung trotz Belastungen? Wo finden wir Reduktion von Belastungen, wo gibt es Entlastung?

Einer trage des anderen Last – Solidarität und wechselseitige Wahrnehmung statt IndividualismusHören wir noch einmal genau hin bei Paulus: Er sagt nicht: Jede und jeder versuche, so gut es geht, ihre und seine Last zu wuppen. Sondern er legt den Christinnen und Christen in Galatien ans Herz: „Einer trage des anderen Last …“ Das sagt ganz viel darüber aus, wie eine christliche Gemeinde sich versteht: Nämlich nicht als Ansammlung von Individuen, von denen jedes versucht, für sich über die Runden zu kommen und die Lasten einigermaßen wegzudrücken. Sondern Christinnen und Christen nehmen einander wahr, der eine den anderen, die eine die andere, mit jeweils ihren Lasten. Sie nehmen einander wahr, weil sie sich von Christus wahrgenommen und wertgeschätzt wissen. Wechselseitige Wahrnehmungen – darum geht es Paulus. Es gehört zu unserer schöpfungsgemäßen Bestimmung, füreinander da zu sein. Deshalb kann man auch zwei Seiten dieser Bestimmung erkennen: Da ist eben nicht nur das Mit-Tragen an der Last des anderen, sondern auch das Mit-Getragen-Werden durch andere. Ich nehme nicht nur des anderen Last auf mich, sondern darf auch Lasten abgeben und sie von anderen mittragen lassen. Jede und jeder kennt Zeiten im Leben, in denen wir darauf angewiesen sind, dass unsere Lasten von anderen mitgetragen werden. Trauernde erleben, wie wohl das tut, wenn die vom Verlust schmerzende und trauernde Seele spürt, dass ihr echtes tiefes Mitgefühl entgegenkommt, dass das Schwere mitgetragen und ins Gebet mitaufgenommen wird. Sich von anderen beim Tragen eigener Lasten helfen zu lassen – das ist die schwerere Übung, die wir zu lernen haben: einmal etwas abzugeben, mich mit meiner Last auch mal jemand anderem zuzumuten. Wie oft höre ich von älteren Menschen den Satz: „Ich will meinen Kindern nicht zur Last fallen.“ Wie traurig, wenn es nur dabei bleibt! Ist das Leben nicht ein Geben und ein Nehmen? Die Kinder – haben die Eltern sie nicht auch getragen in jungen Jahren? Und das war doch nun wahrlich, zumeist jedenfalls, keine niederdrückende Last!

Kraftquelle fürs LastentragenWoher kommt uns der lange Atem für dieses Tragen und Ertragen, fürs Mit-Tragen und Mit-Getragen-Werden? Paulus führt seinen zentralen Satz am Ende des Galaterbriefs prägnant weiter: „Einer trage des anderen Last – so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“ Gesetz meint hier nicht Paragrafen, sondern Gesetzmäßigkeit, Grundstruktur. Die Grundstruktur des Lebens Jesu war, die Lasten der Menschen mitzutragen: Er hat auf seinem Weg durch Galiläa und hinauf nach Jerusalem die Menschen wahrgenommen, die am Wegrand waren, unter ihrer Last litten und seine Hilfe brauchten. „Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken“, so hat er denen zugerufen, die unter ihren Lasten stöhnten. Aus der Verbindung mit Christus wachsen uns die Kraft und der lange Atem zu, Lasten mitzutragen. Aus der Verbindung mit Christus erwächst die innere Bereitschaft, uns von anderen beim Tragen eigener Lasten helfen zu lassen.

Entlastungspakete für Sorge und SchuldIn der Verbindung mit Christus wird auch das Gewicht der Sorgen, die auf uns lasten, abnehmen. Der heutige 15. Sonntag nach Trinitatis wird auch der „Anti-Sorgen-Sonntag“ genannt, weil, wir hörten es in der Schriftlesung, Jesus uns in der Bergpredigt zuruft: „Sorget nicht!“ Deshalb konnte Martin Luther in einem seiner letzten Briefe an seine Frau Katharina schreiben – von unterwegs, auf Streitschlichter-Tour in Eisleben: „Liebe Käthe, lass mich zufrieden mit deiner Sorge; ich habe einen besseren Sorger, als Du und alle Engel sind; der liegt in der Krippe und hängt an einer Jungfrauen Brust, aber sitzet gleichwohl zur rechten Hand Gottes, des allmächtigen Vaters; darum sei zufrieden!“ Nun, das sind große Worte, und ich glaube nicht, dass jemand, der heute mit großen Sorgen hierhergekommen ist, nachher ganz ohne diese Sorgen nach Hause gehen wird. Aber wo wir als Sorgenbeladene zu Christus kommen, wo wir vor ihm unsere Sorgen in die Sprache des Gebets übersetzen, da wird unser Blick nicht auf die Sorgen fixiert bleiben, da wird unsere Gewissheit gestärkt, dass wir nicht allein tragen müssen, dass da einer ist, der mitträgt: Christus.
In der Verbindung mit Christus wird die Schuldenlast, die Menschen bedrückt, von ihren Schultern genommen. Ja, unter Menschen, auch unter Christenmenschen, kommt es vor, dass wir einander nicht gerecht geworden sind, dass wir aneinander schuldig geworden sind. Wo Schuld vor Gott gebracht, vor Christus bekannt wird, schenkt er Vergebung. Vergebung, das große Entlastungspaket, das es möglich macht, dass Schuld nicht länger mitgeschleppt werden muss und zermürbt.

Freiräume für Entlastete: Gutes tun in der GesellschaftWo wir Lasten mittragen, wo unsere Lasten mitgetragen werden, da entsteht neuer Freiraum. Wo von Schuld und Sorge Belastete zu Christus kommen und sich von ihm erquicken lassen, da entsteht Freiraum für das, was Paulus seinen Hörerinnen und Hörern am Ende des Galaterbriefs noch ans Herz legt: „Lasst uns Gutes tun an jedermann, allermeist aber an des Glaubens Genossen.“
Der erste Teil dieses Satzes reißt einen weiten Horizont auf: Gutes tun an jedermann, auch über den Raum der christlichen Gemeinde hinaus. Wo sind wir heute als Christinnen und Christen in unserer vielstimmigen Gesellschaft gefragt, angesichts der Belastungen unserer Zeit? Ganz konkret gilt es in diesen Wochen, dass unsere Gemeinden zum einen sich intensiv darauf vorbereiten, wo und wie sie in ihren Räumen in der kalten Jahreszeit Energie einsparen können. Zum anderen gilt es aber auch zu überlegen, wie ein Kirchenraum, ein Gemeindesaal zu einem Ort der Wärme werden kann: wo Menschen sich aufwärmen können, wo Menschen soziale Nähe und Wärme erfahren, wo Menschen anzutreffen sind, die von der entlastenden Botschaft des Evangeliums berührt und bewegt sind, wo Entlastungspakete für die Seele zu bekommen sind, wo um Weisheit für die gebetet wird, die finanzielle Entlastungspakete schnüren müssen.

Freiraum für Entlastete: Gutes tun an den Glaubensgenossinnen und -genossen„Lasst uns Gutes tun an jedermann, allermeist aber an des Glaubens Genossen“, der zweite Teil des Satzes ist zu einer Leitlinie des Gustav-Adolf-Werks geworden: Ohne die anderen zu vergessen oder zu übersehen, gilt es, sich den Geschwistern derselben Konfession zuzuwenden. Das ist das Anliegen des Gustav-Adolf-Werks, jenes Werks der Evangelischen Kirche, das kleine evangelische Minderheitenkirchen in Ost- und Südeuropa und Südamerika unterstützt. Das Gustav-Adolf-Werk baut Brücken zwischen evangelischen Kirchengemeinden hier und in Übersee. Die Sorgen der kleinen evangelischen Gemeinden in Südamerika und in Ost- und Süd-Europa werden wahrgenommen. Lasten werden mit getragen. Das Gustav-Adolf-Werk bietet evangelischen Christinnen und Christen aus der Diaspora ein Forum, auf dem sie von ihren Erfahrungen berichten können und Solidarität und Unterstützung erfahren: für die evangelische Diakonie in Osteuropa, für die Aufbauarbeit evangelischer Schulen im Nahen Osten, für die Gemeindearbeit in den krisengeschüttelten Ländern Südamerikas. So werden wechselseitige Wahrnehmungen und gemeinsames Lastentragen ermöglicht. Das verbindet und weitet den Horizont auf beiden Seiten.

Quintessenz: Lasten tragen und Güte wagenJe näher wir dem gekreuzigten und auferstandenen Christus sind, desto näher sind wir uns auch untereinander. Seine Nähe gibt uns die Kraft und den Atem, Lasten mitzutragen. Und sie gibt uns die Freiheit, uns von anderen beim Tragen eigener Lasten helfen zu lassen. Darum geht es Paulus bei seinen Überlegungen zum alltäglichen Verhalten der Christen am Schluss des Galaterbriefs: „Selig seid ihr, wenn ihr Lasten tragt, selig seid ihr, wenn ihr Güte wagt.“ [EG 651] Amen.

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