2. Advent (04. Dezember 2022)

Autorin / Autor:
Pfarrerin Gabriele Walcher-Quast, Heilbronn [gabriele.walcher-quast@elk-wue.de]

Hoheslied 2,8-13

IntentionDas Hohelied als Adventstext führt uns zur Sinnlichkeit als Quelle erfüllender und schöpferischer Kraft. Traut euch, diese Kraftquelle anzuzapfen. Das wechselseitige Liebesspiel der Liebenden und Geliebten, und ihres vor der Tür stehenden Liebsten, ihr Locken und Werben macht Lust, der Aufforderung und Einladung zu folgen: Mach dich auf! Geh Christus in seiner leidenschaftlichen Liebe entgegen. Da kündigt sich ein anderer Advent an. „Wie soll ich dich empfangen und wie begegn ich dir?“ Diesmal nicht als das göttliche Kind in der Krippe – süß, unschuldig, zart, oder auch: süßlich, kitschig, harmlos. „Wie soll ich dich empfangen und wie begegn ich dir“ – dem lustvoll- sinnlichen Geliebten?

WartenUnd wieder nimmt sie ihr Handy in die Hand und schaut auf das Display. Hat er mir eine Nachricht geschickt? Hab ich es – aus Versehen – stumm geschaltet? Nein! Wird er anrufen? Was hindert ihn? Was hält ihn auf? Kann er mir aus irgendeinem Grund nicht schreiben? Oder will er nicht? Er hat meine Nummer. Ich habe sie ihm auf den Unterarm geschrieben. Ist sie verwischt? Hab ich eine Zahl undeutlich geschrieben? „Ich melde mich“, hat er gesagt. Wird er sein Versprechen halten? Werde ich ihn wiedersehen? Ich will dich wiedersehen. In deine Augen schauen, dein Lachen hören, dem Tanz deiner Schritte folgen, wieder mit dir zusammen Klavier spielen. Das war so schön. Wo bist du? Wo bleibst du?
Da ploppt seine Nachricht auf und ihr Herz macht Sprünge. Ihr Puls rast. Schmetterlinge im Bauch, ein Freudenwirbel im Kopf. Ein seliger Schauer durchfließt ihren ganzen Körper. Sie werden sich wiedersehen.
Liebe Gemeinde, so kann Warten auch aussehen. So erzählt das Hohelied vom Warten. Adventszeit ist ja Wartezeit. Hören sie den Predigttext für den heutigen ersten Advent.
„Da ist die Stimme meines Freundes! Siehe, er kommt und hüpft über die Berge und springt über die Hügel. Mein Freund gleicht einer Gazelle oder einem jungen Hirsch. Siehe, er steht hinter unsrer Wand und sieht durchs Fenster und blickt durchs Gitter. Mein Freund antwortet und spricht zu mir: Steh auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm her! Denn siehe, der Winter ist vergangen, der Regen ist vorbei und dahin. Die Blumen sind hervorgekommen im Lande, der Lenz ist herbeigekommen, und die Turteltaube lässt sich hören in unserm Lande. Der Feigenbaum lässt Früchte reifen, und die Weinstöcke blühen und duften. Steh auf, meine Freundin, und komm, meine Schöne, komm her!“

Der andere Advent
Frühlingsduft und Liebesgeflüster. Wahrlich: da kündigt sich ein anderer Advent an. „Wie soll ich dich empfangen und wie begegn ich dir?“ Diesmal nicht als das göttliche Kind in der Krippe – süß, unschuldig, zart, oder auch: süßlich, kitschig, harmlos. „Wie soll ich dich empfangen und wie begegn ich dir“ – dem lustvoll- sinnlichen Geliebten? Du kommst mit Leidenschaft zur Welt. Stürzt dich als Liebender ins Weltabenteuer. Als körpernaher Freund, der hüpft und springt wie eine Gazelle, und wie ein junger Hirsch, sprengst du meinen Advent, meine Erwartung. Es knistert vor Sehnsucht, Begehren und Verlangen. Du suchst das Abenteuer, suchst die Liebesbeziehung mit uns Menschen, mit deiner Gemeinde, mit mir. Ich erwarte einen, der hilft und tröstet und rettet – und du kommst als Geliebter, sinnenfroh und sinnlich. „Wie soll ich dich empfangen und wie begegn ich dir?“ Du willst unsere Liebe. Du willst meine Liebe, willst von mir begehrt und leidenschaftlich herbeigesehnt werden.

GegenseitigkeitSie haben sich geschrieben – er ihr und sie ihm. Sie haben sich wiedergesehen – bei ihm, bei ihr. Sie leben aufeinander zu, lernen, lieben sich, tanzen, singen, musizieren. „Wenn ich mit dir zusammen spiele, spiele ich besser, weil du so voll Liebe bist“, sagt er am Klavier. „Wenn ich mit dir tanze, tanze ich besser, weil deine liebende Aufmerksamkeit mich sicher macht“, sagt sie. Er lässt sich ein auf ihre Bewegung. Sie lässt sich ein auf seinen Klang. Sie lassen sich ein ins Spiel – ins Spiel der Liebe, die wartet, erwartet, die sich leidenschaftlich austobt und ruhig und leicht dahinplätschert wie eine gemeinsame Melodie. „Mein Geliebter gehört mir und ich gehöre ihm…“(Hld 2, 16). „Ich gehöre meinem Geliebten und sein Verlangen steht nach mir“ (Hld 7,11). So voll Liebe entsteht ihre tragfähige Gegenseitigkeit und gegenseitige Zugehörigkeit – nicht Mann, nicht Frau – nicht mehr, nicht weniger – nicht oben, nicht unten – nicht besser, nicht schlechter – nicht groß, nicht klein.

Sein Kommen verändert die WeltEine neuschaffende Kraft bricht sich Bahn. Mitten in unserem Winter und der Kälte und Härte dieser Zeit gurren Tauben, brechen Blüten auf, reifen Feigen, blühen Weinstöcke. Mitten im Winter berauschender Frühlingsblütenduft und vollmundiger Geschmack. Prall und üppig. Frisch und intensiv. Dynamisch und lebendig. So kommt Gott. Körperlich und sinnlich. In dieser Sinnenfreude zeigt Gott uns seine – noch ganz anderen – Möglichkeiten. Neben unserer trübe, einsam und arm gewordenen Wirklichkeit, weitet sich der Blick auf die göttliche Wirklichkeit, mit der wir so wenig rechnen, auf die wir so wenig bauen, und die wir doch so sehr ersehnen.
„Wie soll ich dich empfangen und wie begegn ich dir?“ „Voller Lieb und Lust“ will er die Seinen kraftvoll verändern: seine Geliebten, seine Gemeinde, seine Welt. In der Bewegung auf ihn zu bekommt die Sehnsucht nach dem, was er verheißt, wieder ihren weiten Raum: die Sehnsucht nach erfüllender Liebe und erfülltem Leben, die Sehnsucht nach Verbunden-Sein, nach Frieden, die Sehnsucht nach Heilung und Ganz sein, nach Tröstung.
Setz deine Hoffnung auf den fernnahen Geliebten. Er setzt – gerade auch in trüber Zeit – deine schöpferische Hoffnungskraft frei. Er reißt dich heraus aus deiner klein gewordenen Adventserwartung, aus der bescheidenen Suche nach einem stillen besinnlichen Advent, jenseits hektischer Geschäftigkeit. Er lockt dich heraus in eine adventliche Bewegung auf ihn zu. Er lockt dich in seinen Liebesfrühling mitten im Winter.

AufbruchSteh doch auf meine Freundin, meine Schöne und komm doch – hör doch den adventlichen Ruf des kommenden Messias – der Fernnahe kommt voller Lieb und Lust zur Welt. Er ruft. Komm heraus. Mach dich auf. Geh ihm entgegen. Sein geliebtes Lieben treibt ihn in dieses riskante Abenteuer. Diese erwachsene göttliche Liebe liebt mit leibhaftiger Lust und sinnlicher Leidenschaft mit Sehnsucht, Eifersucht und Begehren.
Steh auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm her! Dieses „Komm doch“ übersetzt Martin Buber mit: „Mach dich auf zum Gehen .und geh vor dich hin!“ Und das erinnert an die biblische Aufbruchsgeschichte schlechthin. „Mache dich auf, Abraham!“ Lockend ruft die Stimme des Geliebten zum Aufbruch. Zu neuer Hoffnung, neuen Ufern, ins ursprüngliche Sein. Lockend reißt die Stimme heraus aus der Depression, aus der Niedergeschlagenheit in die verlockende Zweisamkeit, in die Bewegung auf den anderen hin. Lass dich rufen, herausrufen auf bisher unbegangene Wege – in der Liebe, im Glauben, im Hoffen, im Denken. Mit Sinnlichkeit als Lebenselixier.

Das Mögliche verwirklichenDas Hohelied als Adventstext führt uns zur Sinnlichkeit als Quelle erfüllender und schöpferischer Kraft. Traut euch, diese Kraftquelle anzuzapfen. Das wechselseitige Liebesspiel der Liebenden und Geliebten, und ihres vor der Tür stehenden Liebsten, ihr Locken und Werben macht Lust, der Aufforderung und Einladung zu folgen: Mach dich auf! Geh Christus in seiner leidenschaftlichen Liebe entgegen. Steh doch auf meine Freundin, meine Schöne werde gewahr, wie sich unter seinem Kommen die Welt verändert. Wie du zu ihm und wieder zu dir selber kommst. Wie das Leben nach dürftigen Zeiten unwiderstehlich machtvoll wiedererwacht. Wie die Freude wiedererwacht, die Lust auf Leben als Bewegung von innen nach außen, auf den Anderen hin.

Er kommt, er kommt mit Willen, ist voller Lieb und LustSinnlich und lebendig feiern wir diesen Advent 2022: voller Sehnsucht nach Christus, dem Geliebten, der Seele, Geist und den ganzen Körper erfüllt. Der uns ganz werden lässt, jede Zelle spürend, pulsierend, offen, seidig berührt, mit Zärtlichkeit erfüllt, überfließend, tastend.
Sinnlich und lebendig feiern wir Advent, mit dem Gefühl für jedes Haar auf unserem Kopf, jede Zelle in unserem Körper, jeden Wirbel unter der Haut, zart bespannte Flügel der Schulterblätter, Herz und Nieren, dem Geschmack eines Kusses auf den Lippen, zarte Berührung der Wangen, ein Hauch von Paradiesesduft in der Nase. Sein Sinn und seine Sinnlichkeit, sein Blick, seine lockende Stimme, Lust und Freude leiten und trösten uns.

„Er kommt, er kommt mit Willen,
ist voller Lieb und Lust,
all Angst und Not zu stillen,
die ihm an euch bewusst.“

Amen.


Wichtige Anregungen für diese Predigt sind entnommen aus:
Magdalene L. Frettlöh, Liebesfrühling im Winter. Erotische Lyrik als Gleichnis adventlicher Sehnsucht. Göttinger Predigtmeditationen, 77.Jahrgang, Heft 1.
Dorothee Sölle, Erotik, in: dies., Mystik und Widerstand. Du stilles Geschrei.
Audre Lorde, Vom Nutzen der Erotik: Erotik als Macht, in: dies., Sister outsider- Nicht Unterschiede lähmen uns, sondern Schweigen, München 2021.


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