Jahreslosung (01. Januar 2023)

Autorin / Autor:
Landesbischof i.R. Dr. h.c. Frank Otfried July, Stuttgart

1. Mose 16,13

Du bist ein Gott, der mich sieht.
1. Mose 16,13

Das Spiel mit den EnkelnKuckuck – da bin ich! Meine Enkelkinder liebten oder lieben als kleine Kinder dieses Spiel. Und auch mich fasziniert, wie die Kleinen auf mein Gesicht reagieren, sobald ich meine Hände wieder wegnehme.
Kinder im Alter bis anderthalb Jahren sehen die Welt in ihrer eigenen Weise. Die Psychologie fand heraus, dass für die Kinder alles, was nicht in ihrem Blickfeld ist, sozusagen nicht existiert. Da reicht schon eine vors Gesicht gehaltene Hand – und für das Kind ist der Mensch nicht mehr da.
Man darf darum das Spiel nicht übertreiben. Lange darf ich meine Hand nicht vorhalten, wenn ich die Kleinen nicht erschrecken will. Wenn ich sie beobachte in ihrer kurzen Irritation und ihrem freudigen Strahlen, berührt es mich und erstaunt mich auch. Sie können mein Gesicht, mein Dasein in ihrer Erinnerung noch nicht fest genug etablieren, können darauf nicht bauen, um sich meiner Präsenz sicher zu sein.
Gleichzeitig kann nur durch mein kurzes „Weg“- und „Wieder-da“-Sein die Erfahrung und das Vertrauen aufgebaut werden, dass ich hinter meiner Hand wirklich noch da bin, wenn auch verborgen.
Sind wir als Erwachsene so anders? Im Blick auf Gott, meine ich? Auch wir kennen Momente, da scheint Gott verborgen zu sein. Wenn es uns nicht gut geht, wenn wir Schweres erfahren, ist es oftmals nicht einfach, von Gottes Zuwendung und Begleitung zu sprechen – während wir uns in guten, schönen Augenblicken leichter damit tun, Gottes Spuren wahrzunehmen.

Offenbar und verborgenDas ist völlig menschlich. In vielen Texten der christlichen Geschichte wird darüber nachgedacht. In verschiedenen Anläufen hat man über den „offenbaren“ und den „verborgenen“ Gott geschrieben und nachgedacht (Martin Luther). Das zeigt uns: Alle Glaubenden machen diese Erfahrung, dass Gott manchmal abgekehrt scheint, wir ihn nicht spüren können in unserem Leben.

Du bist ein Gott, der mich sieht…Die Geschichte aus dem ersten Mose-Buch, aus der unsere Jahreslosung stammt, kommt aber von der umgekehrten Erfahrung her. Hagar, um die es in der Geschichte geht, wurde vielleicht noch nie in ihrem Leben wirklich wahrgenommen. Sie hatte wenig Rechte, als versklavte Frau keine Selbstbestimmung und in den Augen anderer nur begrenzte Würde. Als sie Mutter eines Kindes werden sollte, war sie für Abraham, ihren Herrn, eher Mittel zum Zweck. Hagar ist dennoch stolz über ihre Schwangerschaft – doch das stößt Abrahams Frau übel auf, die Hagar sofort aus der Familie verbannt.

…gerade in der tiefsten KriseUnd so fällt sie tiefer als zuvor, wird in der Wüste allein gelassen. Dem Verhungern, Verdursten nah, nimmt sie auf einmal – trotzdem?, gerade! – die Gegenwart Gottes wahr. Gerade hier spürt sie Gottes wohlwollenden, gnädigen Blick auf sich ruhen. In Gestalt eines Engels wird ihr, ihrem Kind und dessen Zukunft ein gutes Leben und Segen zugesprochen.
„Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Der Satz, den Hagar sagt, kann im Hebräischen in zwei Worte gefasst werden: El-roi. Fortan ein Gottesname.

Wirklich wahr?El-roi: auch dein, auch mein Name für Gott? Können wir uns darauf verlassen, dass wir Gott nicht egal sind? Gerade auch dann, wenn wir ganz unten sind?
Es ist nicht immer leicht, daran zu glauben. Dieses Vertrauen ist kein Automatismus auf Knopfdruck. Wenn Gebete scheinbar verhallen, Bitten nicht erhört werden, die uns am Herzen liegen, Lebenswünsche sich nicht erfüllen wollen oder uns sogar großes Leid trifft, dann scheint Gott fern.
Die Bibel sagt nicht, dass so ein Zweifel nicht verständlich wäre oder nicht erlaubt. Der Psalter, das große Buch der Gebete, ist voll von Klagen und Fragen nach Gott. Sogar Jesus Christus hat in seiner Todesstunde ausgerufen: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Das ist biblischer Realismus. Wir sind und müssen nicht perfekt sein, auch nicht in Bezug auf unser Gottvertrauen.

Christus sehen und von ihm gesehen werdenUnd dennoch ist Gott uns – so die Verheißung und mein festes Vertrauen – gerade in Christus nah. Er ist der „Gesichts-Punkt“ christlichen Glaubens, ist uns menschlich nah. Christus ist der Gott, der nicht nur sieht, was Menschen erleiden, sondern Leidenswege sogar selbst gegangen ist: ja, sogar bis in die Gottverlassenheit hinein. Christus weiß, wie es uns gehen kann, wenn Gott fern scheint und nicht zu sehen ist. In den Lebenssituationen des äußeren und inneren Verlassenseins, wenn wir fragen: Sieht mich einer?, da gibt Christus mir die Zuversicht: Ja! Und ich kann beten: Gott, es ist wahr. Du bist ein Gott, der mich sieht.
Hagar macht die Erfahrung, dass Gott gerade dann ganz nahe ist, wenn wir vielleicht am wenigsten von ihm sehen. Was für ein Trost.

Ansehen haben und das Ansehen anderer achtenManche Forscher und Forscherinnen sagen: Wir leben in einer immer unübersichtlicheren Welt. Es gibt so viele mediale Angebote, Informationen im Sekundentakt, dass wir die Übersicht verlieren. Oft können wir nicht mehr einordnen, was wichtiger und weniger wichtig ist. Ja, manchmal können wir sogar richtige und falsche Informationen nicht mehr zuverlässig unterscheiden. Manche, die meinen, dass man sie nicht sieht, spielen ein übles Spiel in den sozialen Medien. Da wo Information oder gedanklicher Austausch stattfinden sollte, werden Hass und Feindschaft und Wut gesät. Dabei will man sich nicht zeigen und auch nicht gesehen werden.
Als Christinnen und Christen wissen wir uns von Gott gesehen, wahrgenommen. Das schenkt mir Würde und Ansehen. Ich kann mein Gesicht zeigen, denn bei Gott gesehen zu sein, stellt mich auch in Verantwortung für die Würde, Ansehen und das Gesicht anderer Menschen einzutreten. Gott schenkt und tritt für uns ein, damit wir auch schenken und für andere eintreten können.

El roi – das kürzeste GlaubensbekenntnisViele Menschen haben sich auf dem Kirchentag in Berlin 2017 unter dem Wort versammelt: „Du siehst mich“ – und über Gottes Gegenwart in unserem Leben und Sterben nachgedacht, darüber gebetet und die Gemeinschaft der Gesehenen erlebt. Denn dass Gott uns sieht, dass Gott unser Leben und diese Welt nicht gleichgültig ist, das ist wirklich der Grund-Satz unseres Glaubens.
Unsere Jahreslosung eignet sich darum als das kürzeste Glaubensbekenntnis, in dem alles Wichtige über Gott schon enthalten ist. Als Schöpfer hat Gott diese Erde angesehen (und dass sie gut ist!). Jesus Christus nahm Menschen mit Aufmerksamkeit, Mitgefühl und Liebe wahr (und zwar besonders die, die wenig oder kein Ansehen hatten!). Und der Heilige Geist vergewissert uns in zweierlei Hinsicht: dass wir bei Gott ungebrochenes Ansehen haben – und dass wir darum ausgesandt sind in diese Welt, um andere anzusehen, denen es an Ansehen mangelt: Menschen wie Hagar, versklavt, vertrieben, hungrig, heimatlos. Weil Gott gerade sie ganz besonders sieht. Und damit alle, deren Namen nicht genannt und deren Gesichter nicht gezeigt werden.

Wege in das neue Jahr 2023Die Wegstrecke, die vor uns in diesem Jahr liegt, ist noch vor unseren Augen verborgen. Wir können noch nicht sehen, was kommt. Vor manchem, was geplant oder überlegt ist, mögen wir uns fürchten, auf anderes freuen wir uns jetzt schon und es wird Unvorhergesehenes in unser Leben eintreten. Wir kennen die Wegstrecken, die wir gehen, noch nicht. Deshalb kennen viele auch eine Zwiegespaltenheit zu Beginn eines neuen Jahres.

Gott sieht alle Wege, die ich geheGerade an der Schwelle zu einem neuen Jahr nimmt er uns die Schwellenangst und will unser Begleiter sein. Er sieht uns und lässt uns nicht allein. Er schenkt uns den aufrechten Gang der Kinder Gottes. Er gibt uns Gesicht und erweitert unser Gesichtsfeld. Was für eine Ermutigung, wenn uns der Mut verlassen will. Er ist ein Sehender, der unser Leben in seinen Blick einhüllt und damit einmalig werden lässt. Bei ihm gehen wir selbst in eine neue Schule des Sehens.
Wir haben Ansehen. Bei Gott.
Gott schenke uns darum – in beiderlei Hinsicht – seinen liebevollen Blick!
Nicht nur in diesem Jahr.

Fotonachweis: Archivfoto: elk-wue.de / Gottfried Stoppel

Predigt zum Herunterladen: Download starten (PDF-Format)