19. Sonntag nach Trinitatis (15. Oktober 2023)

Autorin / Autor:
Pfarrer Albrecht Conrad, Stuttgart [Albrecht.Conrad@elkw.de]

Jakobus 5,13-16

IntentionBei Jakobus lernen wir, wie das Füreinander-da-Sein in der Gemeinde aussehen kann.

Jak 5,13 Leidet jemand unter euch, der bete; ist jemand guten Mutes, der singe Psalmen.
14 Ist jemand unter euch krank, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde, dass sie über ihm beten und ihn salben mit Öl in dem Namen des Herrn.
15 Und das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen, und der Herr wird ihn aufrichten; und wenn er Sünden getan hat, wird ihm vergeben werden.
16 Bekennt also einander eure Sünden und betet füreinander, dass ihr gesund werdet. Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich ist.

Liebe Gemeinde, lassen Sie uns mit einem Schwaben beginnen, mit Viktor von Weizsäcker:
1886 in Stuttgart geboren. Sohn des Ministerpräsidenten des Königreichs Württemberg.
Später ausgebildet zum Arzt, dann Universitätslehrer.
Beteiligt an den Anfängen der psychosomatischen Medizin, die nicht nur die körperlichen Vorgänge des Menschen im Blick haben will, sondern den ganzen Menschen, seinen Geist, seine Seele, seinen Lebenslauf, sein Umfeld, seine Beziehungen.

Kranksein als NotIn einem Aufsatz aus dem Jahre 1926 schreibt Weizsäcker: „Das wirkliche Wesen des Krankseins ist eine Not und äußert sich als eine Bitte um Hilfe.“ (Warum wird man krank, S. 121)
Zu kurz denkt also, wer Krankheit nur für einen körperlichen Defekt hält. Für einen Fehler in der Leibmaschine, den die Ärztin oder der Arzt als eine Art Mechaniker behebt und dann läuft die Sache schon wieder rund.
Nein: „Das wirkliche Wesen des Krankseins ist eine Not und äußert sich als eine Bitte um Hilfe.“ Zu dieser Not gehört es, dass Krankheit Menschen isolieren kann.
Mal auf ganz harmlose Weise:
Wir schicken unsere Kinder nur ungern zum Spielen in ein Haus, in dem gerade die Magen-Darm-Krippe tobt.
Mancher Erkältete betritt den Raum mit einem überlauten: „Ich gebe heute niemandem die Hand – zur Sicherheit!“
Und gut in Erinnerung ist uns die Isolation in den Zeiten der Pandemie – so lang ist’s gar nicht her.

Solche Isolation mag bisweilen medizinisch nötig sein. Doch Krankheit kann Menschen ernstlich in die Einsamkeit treiben, selbst wenn sie nicht ansteckend ist.
Mancher sondert sich auf eigenen Antrieb hin ab: Der Kranke möchte sich und seinen lausigen Zustand den anderen Menschen nicht zumuten. Sein Schamgefühl verbietet ihm alle Kontakte.
Doch stürzen Kranke auch ungewollt in Einsamkeit: Die Gesunden meiden sie. Die Starken meiden die Schwachen. Ist ja auch schwierig. Leidende kosten Zeit. Machen Mühe. Sind oft nicht leicht zu behandeln. Und der Starke, der Gesunde stößt an seine Grenzen: Wie wenig können wir tun. Wo wir doch sonst so sehr auf Erfolge aus sind.
Ja. „Das wirkliche Wesen des Krankseins ist eine Not“, nicht zuletzt die Not der Einsamkeit. Und selbst, wenn ein Mensch kerngesund ist: Sollte ihn Einsamkeit plagen, ist er auf alle Fälle in Not. Und diese Not „äußert sich als eine Bitte um Hilfe“.

Hilfe erbitten, Isolation durchbrechenDoch wen um Hilfe bitten? Zu unserer Überraschung nennt der Predigttext aus dem Jakobusbrief als Anlaufstelle nicht zuerst das Fachpersonal. Das legte sich ja eigentlich nahe: „Ist jemand unter euch krank, der rufe zu sich“ – den Arzt!
Doch genau das schreibt Jakobus nicht. Das heißt jedoch nicht, dass die Kranken nicht zur Ärztin oder zum Arzt gehen sollten. Natürlich gehe, wer ernstlich krank ist, umgehend in die Praxis. Das hätten auch die Menschen im Frühchristentum nicht gewollt, dass Kranke die ärztliche Hilfe meiden.
Der Jakobusbrief sieht aber, dass das wirkliche Wesen des Krankseins eben eine Not ist und dass es zur Linderung dieser Not mehr bedarf als die Medizin. Es bedarf der Schwestern und Brüder im Herrn. Es bedarf der Nähe des Herrn Jesus selbst.
Darum: „Ist jemand unter euch krank, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde, dass sie über ihm beten und ihn salben mit Öl in dem Namen des Herrn.“
So bricht die Isolation. So wird die Not der Einsamkeit gelindert. Denn einsam darnieder zu liegen, isoliert vor sich hin zu leiden, dazu ist der Kranke nicht bestimmt. Und zur Not der Krankheit gehört das Wissen darum, dass das Leben so einsam nicht gemeint ist. Selbst wenn die Krankheit sich so schnell nicht heilen lässt: So zu leiden, so einsam zu sein, das kann nicht die Bestimmung sein.
Daher schreibt Viktor von Weizsäcker an einer anderen Stelle, „das Ziel der Medizin sei nicht, jemand gesund zu machen, vielmehr sei die ärztliche Therapie nur hineingestellt, nur ein Teil der Aufgabe, einem Menschen auf dem Wege zu seiner letzten Bestimmung Dienste zu leisten“. (Warum wird man krank, S. 238)
So gehen wir natürlich zum Arzt, wenn wir ernstlich krank sind. Doch bedarf es mehr als nur einen Arztbesuch, um auf dem Wege zu unserer letzten Bestimmung voran zu kommen. Denn bestimmt sind wir letztlich dazu, in Gemeinschaft zu leben. In Beziehungen.
Unser Predigttext gibt uns Hinweise dazu, wie wir dieser Bestimmung näher kommen. Diese Hinweise stecken in den scheinbar unbedeutenden Wörtern. Sie tragen schon in ihrem Namen die Bestimmung der Gemeinschaft: Es sind die Pronomen, zu Deutsch: die „Fürwörter“. Kleine Wörter, die wir brauchen, wenn Menschen füreinander da sind.

Leidet jemand „unter euch“Das Erste dieser Fürwörter des Jakobus: „unter euch“. Übersetzen lässt sich auch „bei euch“. „Leidet jemand unter euch“, so heißt es. Oder: „Ist jemand bei euch krank.“
Die christliche Gemeinde ist eine Gemeinschaft der Verschiedenen. Alle gehören dazu. Ganz gleich, wie ein Mensch gestimmt ist. Ganz gleich, in welcher Situation er steckt. Ganz gleich, was ihn gerade umtreibt. Ganz gleich, in welchen Nöten er ist: Dieser Mensch ist „unter euch“, er ist „bei euch“, er gehört zu euch, zu eurer Gemeinde.
Es sind nicht „die Schwachen“, es sind „eure Schwachen“. Es sind nicht „die Kranken“, sondern „eure Kranken“. Unter euch, bei euch gibt es Schwache, Leidende und Kranke. Das sind die, die uns am nötigsten brauchen, bei denen möchte uns Christus am liebsten sehen. Dort ist euer Platz.

Gebet „über ihm“Das Zweite der Fürwörter des Jakobus: „über ihm“. „Ist jemand unter euch krank, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde, dass sie über ihm beten und ihn salben mit Öl in dem Namen des Herrn.“
Dieses Fürwort lenkt den Blick auf den Kranken selbst. Andere Christinnen und Christen sollen über ihm beten.
Jetzt stellen Sie sich einmal vor, Sie lägen ernstlich erkrankt zuhause im Bett. Würden Sie die Ältesten, den Kirchengemeinderat, rufen? Ihn bitten, er möge doch um Ihr Bett herumstehen? Über Ihnen beten? Sie salben „mit Öl in dem Namen des Herrn“?
Das wäre zumindest ungewöhnlich. Ganz ehrlich: Sogar die Pfarrerin oder den Pfarrer rufen wir nur, wenn wir in höchsten Nöten sind. Stattdessen sagen wir auch in großer Not: Das muss ich mit mir selbst ausmachen. Ich kann mir nur selber helfen. Oder ins Zynische gewendet: „Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner.“
Wenn das das Lebensmotto des Gelähmten aus der Schriftlesung gewesen wäre, hätte er niemals Heilung erfahren.
Zum Glück hat er sich helfen lassen.
Hat zugelassen, dass Freunde „über ihm“ ihn tragen.
Hat es ertragen, dass die Freunde oben sind und er unten.
Hat es hingenommen, dass für einige Zeit ein Gefälle in die Beziehung kommt, weil er jetzt Hilfe braucht und andere ihm helfen.
Unsere Beziehungen sind nicht immerzu im Gleichgewicht. Mal ist der eine stark, mal die andere. Mal ist die eine schwach, mal leidet der andere. Und wer Hilfe haben will, der muss sich auch helfen lassen. Er muss ertragen, dass für den Moment der Hilfe andere „über ihm“ sind, ihn tragen, ihn pflegen oder über ihm beten.
Und so sollten wir uns eben nicht schämen zu sagen: „Ich brauche dich.“ Ganz im Gegenteil: Wer sagen kann: „Ich brauche dich“, der weiß, dass er angewiesen ist. Dass er sich verdankt. Dass er in Not ist und Hilfe nötig hat. Wer sagen kann: „Ich brauche dich“, der hat einen großen Schritt hin zu seiner Bestimmung getan. Der hat nämlich erkannt, dass er zu einem Leben in Beziehung bestimmt ist. Zum Miteinander. Und damit sind wir beim letzten Fürwort des Predigttextes:

„Einander“ bekennen, „füreinander“ betenDas Letzte der Fürwörter heißt: „Einander“. „Bekennt einander eure Sünden und betet füreinander.“ Liebe Gemeinde, die deutsche Grammatik lehrt uns, das Wort „Einander“ drücke eine „gegenseitige Bezüglichkeit“ aus. Man könnte das vielleicht schöner sagen, nicht jedoch besser. „Gegenseitige Bezüglichkeit“. Wir sind aufeinander bezogen. Und ohne solche Beziehungen vermag niemand von uns zu leben.
Der Jakobusbrief sieht diese Bezüglichkeit in zwei Dingen: Einander die Sünden bekennen. Füreinander beten.
Noch einmal ganz ehrlich: Einander die Sünden bekennen – dazu können wir uns, wenn überhaupt, nur in den allerengsten Beziehungen durchringen. Und so bilden wir auch jetzt nicht in dieser Kirche kleine Murmelgruppen und bekennen uns einige Minuten lang unsere Sünden.
Doch vielleicht ist ja das schon eine Sünde, dass wir uns so oft auf uns selber beziehen. Dass wir solche Sätze sagen wie: „Das muss ich mit mir selbst ausmachen. Ich kann mir nur selber helfen.“
Und vielleicht ist das schon ein Sündenbekenntnis: Sich öffnen. Eingestehen, wie sehr man einander braucht. Einander in Anspruch nehmen. Einander um Hilfe bitten.
Und vor allem: Füreinander beten. Wenig führt Christinnen und Christen näher an ihre Bestimmung heran, als wenn sie bei Gott füreinander einstehen. In der Fürbitte vereinigt sich all dies:
Wir können in Nöten sein, krank oder auch gesund.
Das Gefühl der Einsamkeit kann uns plagen.
Wir sind aufeinander angewiesen und bezogen.
Wir treten einander helfend an die Seite.
Wir treten füreinander ein im Gebet.
Bis wir eines jüngsten Tages unserer Bestimmung gemäß frei sind von aller Krankheit und Not.
Dann stehen wir gemeinsam vor Gott.
Solange dies aber noch aussteht, singen und beten wir füreinander und miteinander:

"Wenn wir in höchsten Nöten sein
und wissen nicht, wo aus noch ein,
und finden weder Hilf noch Rat,
ob wir gleich sorgen früh und spat,
so ist dies unser Trost allein,
dass wir zusammen insgemein,
dich anrufen, o treuer Gott,
zur Rettung aus der Angst und Not." (EG 366,1.2)
Amen.


An dieser Predigt haben mitgeschrieben: Fulbert Steffensky (Schwarzbrotspiritualität, S. 165); Gottfried Voigt; Viktor von Weizsäcker (Warum wird man krank, hg. von Wilhelm Rimpau, Frankfurt a. M. 2008, S. 121 u.238).

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