4. Sonntag nach Trinitatis (13. Juli 2025)

Autorin / Autor:
Pfarrerin i.R. Annette Kick, Stuttgart [a.kick@gmx.de]

Lukas 6,36-42

IntentionBarmherzigkeit hat manchmal Sprengkraft. Sie bezeichnet eine Haltung Gottes gegenüber Menschen, die durch Augenhöhe, Zugewandtheit, Nähe, Empathie, Achtung und Großzügigkeit bestimmt ist. Menschliche Barmherzigkeit ist zum Beispiel, wenn ich nicht richte, wenn ich reichlich gebe, wenn ich um meinen eingeschränkten Blick weiß oder wenn ich nicht schlauer sein will als Jesus. Darum „werdet barmherzig“, wie Gott es ist.

PredigttextJesus sprach:Werdet barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Lasst frei, so werdet auch ihr freigelassen werden. (Fettdruck: abweichend vom Luthertext)
Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch zumessen.
Er sagte ihnen aber auch ein Gleichnis: Kann denn ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht alle beide in die Grube fallen? Ein Jünger steht nicht über dem Meister; wer aber alles gelernt hat, der ist wie sein Meister.
Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge, aber den Balken im eigenen Auge nimmst du nicht wahr? Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, danach kannst du sehen und den Splitter aus deines Bruders Auge ziehen.

Barmherzigkeit hat Sprengkraft„Barmherzig“. Wie klingt das in Ihren Ohren? Welche Bilder stellen sich ein, welche Gefühle? Wahrscheinlich unterschiedliche, je nachdem, wie ich betone. Warm und tröstlich klang es, als wir vorhin beteten: „Barmherzig und gnädig ist der Herr.“ Spöttisch oder verletzt klingt das: „Ach, wie barmherzig von dir…“

„Werdet barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist!“ Das ist das Leitmotiv unseres Textes.
Lukas stellt hier Aussprüche Jesu zusammen. Sie geben Richtlinien für das alltägliche Leben der Christen. Anders als die anderen Evangelisten rechnet er damit, dass es noch dauern kann bis zur Wiederkunft Christi. Und in dieser Zeitspanne kommt es darauf an, dass Christen erkennbar werden als Nachfolger Jesu. Die Zeitspanne reicht bis heute. Und noch immer – oder mehr denn je in einer zunehmenden Minderheitensituation – kommt es genau darauf an.
Auf den ersten Blick ist der rote Faden zwischen den zusammengestellten Sprüchen nicht erkennbar. Auf den zweiten Blick dann doch: „Barmherzigkeit“ in einem sehr weiten Sinn ist das verbindende Scharnier zwischen dem ersten Teil der Mahnrede, der um die Feindesliebe kreist, und unserem Text.
„Barmherzig“. Das klingt vielleicht ein bisschen altertümlich, verstaubt, zu einer vergangenen religiösen Sonderwelt gehörig.
Aber auf einmal, am 21. Januar dieses Jahres erklingt das Wort „barmherzig“ in allen Medien. „Barmherzigkeit“ geht wie ein Lauffeuer um die Welt. Ausgesprochen hat das Wort Bischöfin Marian Edgar Budde in einem ganz besonderen Augenblick. Beim Einführungsgottesdienst von Präsident Trump wendet sie sich an ihn und bittet ihn um „mercy“ für alle, die Angst haben vor seiner gnadenlosen Regierung.

Es war für mich als Christin wie ein Fanfarenstoß, der mich aus einem Alptraum weckte. Bis dahin hatte ich aus dem amerikanischen Wahlkampf nur von denjenigen Christen gehört, die Trumps gnadenlose Haltung gegenüber allen, die nicht seinem patriarchalen nationalistischen Menschen- und Weltbild entsprechen, als „christlich“ lobten. „Toxisch“ und vom Teufel sei die „Empathie“ für Homosexuelle, Ausländer und alle, die anders sind. Das schreibt etwa die junge christliche Influencerin A.B. Stuckey. Mütter seien besonders gefährdet, Mitgefühl für ihre „sündigen“ Kinder zu empfinden.

In solch gnadenloses Stimmengetöse hinein erklingt die Stimme einer Christin, die für Barmherzigkeit eintritt „im Namen unseres Gottes“. Sie schreibt später in ihrem Buch „Mutig sein“, dass der Inhalt ihrer Predigt ja sehr schlicht war; einfach das, was weltweit jeden Sonntag in der Kirche gepredigt wird. Besonders war nur die Situation. Und gerade da wollte sie „Zeugnis ablegen für eine Form des Christseins, die anerkennt, dass alle Menschen nach dem Bild Gottes geschaffen sind, und die sich darum bemüht, Jesus nachzufolgen auf seinem Weg der Liebe, der Demut und des Mitgefühls.“ Die Predigt ist für mich wie ein Weckruf: Lasst uns auch hier lauter und deutlicher für das Evangelium von der Barmherzigkeit einstehen und gegen das Geschrei einer angeblich christlichen Gnadenlosigkeit!
Kurz nach diesem Ereignis widmete Deutschlandfunk Kultur eine ganze Sendung der „Barmherzigkeit“. „Barmherzigkeit hat Sprengkraft“, hieß es da.
Es kamen Juden, Christen und Muslime zu Wort. In allen drei Religionen, sofern sie nicht fundamentalistisch verzerrt werden, ist „Barmherzigkeit“ zentral. Sprachlich gemeinsam ist sogar das hebräische und arabische Wort racham/rahma, abgeleitet von „Mutterschoß“. Mit „Mutterschößigkeit“ übersetzt die Theologin Magdalene Frettlöh das hebräische Wort.

Begriffe und Farben der „Barmherzigkeit“Die jeweilige Färbung der Barmherzigkeit ist verschieden. Für Christen ist es Jesus, der die alttestamentliche „Mutterschößigkeit“ des Vaters predigt und verkörpert. Am farbigsten hat Lukas sie beschrieben. Sein ganzes Evangelium ist in dieser Grundfarbe gemalt. Wenn Matthäus (5,48) in der Parallelstelle schreibt „seid vollkommen wie…“, ist Lukas sicher näher an Jesus: „Werdet barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist.“ Was Jesus hier als Grundhaltung fordert, erklärt und bebildert er in vielen Geschichten und Gleichnissen; am eindrücklichsten natürlich im Gleichnis von den verlorenen Söhnen, Lukas 15. Der Vater, der beiden „verlorenen“ Söhnen entgegenläuft, ist das Bild für den barmherzigen Gott. Zugleich ist das Verhalten dieses Vaters auch Vorbild für unser menschliches „Werdet barmherzig“.

Das deutsche Wort „barmherzig“ hat eine ganz eigene Farbe. Sicher umfasst es nicht alle Farbtöne des hebräischen Wortes und seiner griechischen Entsprechung. Mütterliche und väterliche Geborgenheit und Wärme klingen auch hier an, wenn von der Barmherzigkeit Gottes die Rede ist. Sie umhüllt wie ein schützender Mantel. Ich kenne auch Menschen, die anderen diese wohltuende Grundhaltung entgegenbringen. Aber es gibt bei Menschen auch eine Barmherzigkeit von oben herab. Da beugt sich jemand einmal herab, drückt einmal ein Auge zu, gibt einmal etwas ab. Barmherzigkeit nicht als Grundhaltung, sondern als gelegentliches Zugeständnis. Sie tut nicht gut, macht klein, demütigt die Empfangenden.
Bei Jesus aber geht es um Begegnung auf Augenhöhe, Empathie, Zugewandtheit, Achtung des anderen in seiner Andersheit.

Lukas verbindet göttliche und menschliche Barmherzigkeit ganz leichtfüßig mit einem einfachen „Wie“; als wäre es ganz einfach, wie der Vater zu handeln. Das ermutigt. Die Barmherzigkeit des Vaters fließt in unsere Barmherzigkeit gegenüber anderen Menschen und findet wieder Resonanz bei Gott („so werdet ihr…“). Das ist kein Zweckdenken und Aufrechnen, sondern man bewegt sich in einer Sphäre der Barmherzigkeit. Wir werden allerdings erst noch barmherzig, sind noch auf dem Weg, während Gott es schon ist.

Barmherzigkeit ist, wenn…Für Lukas gehören die etwas unverbunden wirkenden Aussprüche Jesu hier alle zu der Grundhaltung der „Barmherzigkeit“.

„Barmherzigkeit“ ist, wenn ich nicht richte
Wie sehe ich Menschen an, die anders sind, mir fremd? Ein negatives, ja vernichtendes Urteil ist blitzschnell getroffen. „Richtet nicht!“ Wie aktuell und brisant ist diese Aufforderung! Die sozialen Medien haben die Geschwindigkeit, Häufigkeit und Heftigkeit des Fallbeils, mit dem wir über Menschen, Gruppen, Meinungen urteilen, extrem gesteigert. Vor allem Kinder und Jugendliche leiden, werden krank unter diesem Fallbeil des ständigen Bewertens und Verurteilens.
„Richtet nicht!“ Lukas interpretiert diese Aufforderung zusätzlich durch „nicht verurteilen“ und positiv: „frei geben“, „freisprechen“. Ich stülpe nicht mein Raster über eine Person, sondern nehme mich zurück, um ihr Freiraum zu geben, so zu sein, wie sie wirklich ist.

„Barmherzigkeit“ ist, wenn ich reichlich gebe
Von der mentalen Großzügigkeit aus macht Lukas einen Ausflug zu seinem Lieblingsthema, zur materiellen Freigebigkeit. Sollte uns die Dankbarkeit für die Großzügigkeit Gottes nicht dazu motivieren? Gott gibt so überreichlich wie ein Verkäufer, der das Maß vollstopft und noch überlaufen lässt. In der Menge ist es vielleicht gar nicht so viel mehr als das, was ein geiziger Verkäufer gibt, der das Maß knapp füllt. Aber die Haltung, die uns da entgegenkommt, ist grundverschieden. Dem anderen viel zu gönnen, auch das ist eine Farbe von „Barmherzigkeit“.

„Barmherzigkeit“ ist, wenn ich um meinen eingeschränkten Blick weiß
Das Bild vom Balken und vom Splitter ist schief und übertrieben; trotzdem so sprechend, dass es in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen ist. Wir erleben das auf allen Ebenen, vom Persönlichen bis hin zu den großen gesellschaftlichen und weltpolitischen Konflikten: Die eigenen Schwächen werden geleugnet, das eigene Fehlverhalten gerechtfertigt. Beim Gegenüber sieht man das Negative mit dem Vergrößerungsglas. Der Balken, die Voreingenommenheit ist so fett, dass sie die Wahrnehmung völlig verzerrt. Als Unbeteiligte sind wir fassungslos, wenn zwei Seiten so miteinander umgehen. Als Beteiligte machen wir es oft genauso.
Wie ist ein offener, wertschätzender Blick möglich? Vielleicht muss ich zuerst mit mir selbst barmherzig sein. Der barmherzige Vater hat mich nicht perfekt gemacht und braucht mich nicht perfekt. Deshalb kann ich gelassen meine Schwächen erkennen. Je bewusster mir mein Balken wird, desto weniger behindert er meinen klaren Blick, wird zum Splitter. Und mit eigenen und fremden Splittern lässt sich meist ganz gut leben.

„Barmherzigkeit“ ist, nicht schlauer sein zu wollen als Jesus
Gnadenloses Beurteilen geht meist mit Besserwisserei einher. Wer glaubt, das überlegene balkenlose Wissen über Gott und die Welt zu haben, ist in Wirklichkeit blind. Er führt die, die auf ihn hören, in den Abgrund eines fundamentalistischen Glaubenssystems. Dabei gibt es für Christen kein höheres Wissen als das, was Jesus selbst lehrt: „Werdet barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist!“ Amen.

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