13. Sonntag nach Trinitatis (14. September 2025)

Autorin / Autor:
Pfarrer Matthias Hennig, Weilheim/Teck [Matthias.Hennig@elkw.de ]

Markus 3, 31-35

IntentionUnter dem unmittelbaren Höreindruck von Jesu irritierendem Verhalten gegenüber Mutter, Schwestern und Brüdern, will die Predigt (I) den Blick der Hörerinnen und Hörer angesichts möglicher eigener familiärer, gemeindlicher und gesellschaftlicher Engführungen weiten für Jesu grenzüberwindende Bewegung und sein performatives Predigen des Gottesreichs. (II) Der Predigtvortrag bietet der Gottesdienstgemeinde Vergewisserung in ihrer Verbundenheit mit (dem) Gott(essohn Jesus) an. (III) Damit will die Predigt zum befreiten Tun von Gottes Willen locken.

PredigttextEs kamen Jesu Mutter und seine Brüder und standen draußen, schickten zu ihm und ließen ihn rufen. Und das Volk saß um ihn. Und sie sprachen zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder und deine Schwestern draußen fragen nach dir. Und er antwortete ihnen und sprach: Wer ist meine Mutter und meine Brüder? Und er sah ringsum auf die, die um ihn im Kreise saßen, und sprach: Siehe, das ist meine Mutter und meine Brüder! Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.


I Engführungen – zum VerrücktwerdenLiebe Gemeinde, ist er jetzt völlig verrückt? In aller Öffentlichkeit erteilt Jesus seiner Mutter und seinen Brüdern eine Abfuhr. „Wer ist schon meine Mutter und meine Brüder?“ Was ist passiert?
Jesu Familie ist aufgeschreckt. Jesus geht zu weit. Immer weiter entfernt er sich von zu Hause. Er umgibt sich mit zweifelhaften Leuten, mit Zöllnern, mit Fischern. Schon treten ihm Schriftgelehrte entgegen. Wo er predigt, bringt er Menschen aus der Fassung. Kranke bringt er in Bewegung. Unglaubliches macht die Runde von Heilungen. Jung und Alt recken den Hals, wer der Mann aus Nazareth ist.
In der Familie ist man sich einig: Er ist „von Sinnen“ (3,21). Also machen sie sich auf, Jesus einzufangen. Nun kommen sie nicht in das Haus hinein, in dem er steckt. Zu viele sind da. Sie schicken nach ihm, lassen ihn rufen. Und Jesus? Der Sohn gibt der eigenen Mutter und den Geschwistern zu verstehen: Ihr habt mir hier gar nichts zu sagen, ich gehöre nicht zu euch. Vor allen Anwesenden stößt Jesus seine Angehörigen vor den Kopf.
Ist er denn völlig verrückt? Die Mutter und die Geschwister fragen sich das schon vorher. Jetzt fragen sich das wohl auch die Anwesenden im Haus. Und wir? Nicht genug damit, dass wir den öffentlich ausgetragenen Familienstreit erzählt bekommen. So grob wie Jesus von seiner Herkunftsfamilie abrückt, fragt man sich: Geht das mit dem Gebot zusammen, die Eltern zu ehren und Gottes Willen zu tun? Wahrscheinlich nur dann, wenn sich Jesus in erster Linie als Sohn des himmlischen Vaters versteht und deshalb jede Einschränkung durch die leibliche Mutter zurückweist. Das ist so verrückt, dass es erst am Ende des Markusevangeliums ein Mensch ausspricht. Ein Römer sagt unter dem Kreuz: Das ist wahrhaftig Gottes Sohn. Kaum jemand kann‘s fassen. Die Mutter nicht, die Brüder nicht, die Schwestern nicht, die meisten nicht. Wie soll einem die Himmelsstimme denn auch zu Herzen gehen: „Das ist mein lieber Sohn, auf den sollt ihr hören“? Nur wer von Jesus ganz ergriffen ist, dem geht ein Licht auf. Dann leuchtet es augenblicklich ein: Jesus ist in Person die gute Nachricht, Gottes Reich ist mit ihm da, er ist wahrhaftig Gottes Sohn.
Kopfschütteln. Man versteht das nicht. Man kommt nicht aneinander heran. Jesus ist drinnen, die Familie steht draußen. Stehen wir drüber? Wir kennen es doch in den Familien, in Unternehmen, in Vereinen und in Gemeinden. Selbst die Ältesten waren einmal so jung, dass sie anders dachten als die Altvorderen. Und es anders gemacht haben. Meinungs- und Mentalitätsunterschiede kommen dazu. Dann reiben sich z. B. experimentierfreudige an beständigen Gemeindegliedern. Oder den einen blutet das Herz, wenn kirchliche Räume umgenutzt werden, während anderen das Herz aufgeht, wo Kirche im öffentlichen Raum unterwegs ist. Was die einen als Öffnung empfinden, ist den anderen Preisgabe.
Doch in der Begegnung von Jesus und seiner Familie steckt viel mehr als persönliche oder soziale Entwicklungsgeschichten. Schon darin kann man sich unterbringen. Schon darüber ist es wert innezuhalten: Wer ist meine Mutter? Und wer in Sachen des Glaubens? Wer sind meine Geschwister? Und wer in der Gemeinde, der Kirche, der Glaubensgemeinschaft? Was verdanke ich ihnen? Was verdenke ich ihnen? Möglich, dass es sogar wie bei den ersten Leserinnen und Lesern des Markusevangeliums ist: dass Familien wegen des Christseins auseinandergeraten. So wie heute ganze Bevölkerungsteile einander sprach- und verständnislos gegenüberstehen. Immer schärfer tönen die Ab- und Ausgrenzungen, immer tiefer nisten sich Gruppen in ihrer jeweiligen Blase ein, die weltpolitischen Gesprächsabbrüche machen uns obendrein Angst.
Das ist wirklich zum Verrücktwerden: wie Menschen einander in die Enge treiben und das Leben zur Hölle machen. Dass das Himmelreich anbricht – das ist in den schlechten Nachrichten eine so gute Nachricht, dass sich Jesus auch nicht von Mutter, Brüdern und Schwestern einbremsen lässt. Gottes Geschichte nimmt hier ihren Lauf und überbietet jede Entwicklungsgeschichte.

II Weitung und Verortung – zum GewahrwerdenBewusst blickt Jesus „ringsum auf die, die um ihn im Kreise“ sitzen. Und sagt: Siehe, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder und Schwestern! Ihr, die ihr hier sitzt, ihr gehört zu mir, ihr seid mir die Wichtigsten. – Auch du übrigens, der du das heute vielleicht zum ersten Mal hörst und dich gerade sehr wunderst. Auch du gehörst dazu, wirst zu Mutter und Schwester und Bruder von Jesus erklärt. Gerade du, die du dich mit deiner Familie und deinen Familienverhältnissen schwertust und es deshalb überhaupt keine gute Idee findest, die Gemeinschaft von Christinnen und Christen mit einer Familie zu vergleichen. Da hast du recht. Was wir als „Familie“ alles kennen, taugt nicht, um sich als christliche Gemeinde zu verstehen. Wichtig ist nur, dass Jesu Blick „ringsum auf die, die um ihn im Kreise“ von Gesicht zu Gesicht wandert und den Einzelnen zu verstehen gibt: Siehe, ihr seid mir Schwester und Bruder. Du. Jedes Du, das sich angesprochen fühlt. Sogar Mutter Jesu bist du. Zum Beispiel, wo du Jesus zur Welt bringst, zu Gehör bringst, seiner Liebe dein Gesicht gibst, deine Hände, deine Gaben. Siehe, ihr seid meine Mutter, mein Bruder und meine Schwester.
Auch du gehörst dazu, der du gerade gar nicht weißt, wo du hingehörst. Gerade du, die du dich immer fremder fühlst in dieser Welt. Gerade du, der du das Gefühl hast, am falschen Platz zu sein. Ihr seid Mutter, Bruder, Schwester Jesu. Für euch bricht das Himmelreich an. Was zur Hölle auch passieren mag: Hiermit seid ihr lokalisiert. So verrückt es auch in euren Ohren klingen mag: Jesus verortet alle bei sich, bis zu denen seine Wege und Worte ihre Kreise ziehen.
Ich glaube, man kann sich den Blick Jesu „ringsum auf die, die um ihn im Kreise“ sind, gar nicht weit genug vorstellen. Ich kann es mir nur so denken, dass sich seine Augen durch die Zeiten bis auf unseren Kreis richten. Hier, in dieses Haus. Hier sieht er ringsum auf die, die um ihn im Kreise sitzen. Und trifft eine Feststellung!
Darauf kommt es an, liebe Gemeinde. Kein Appell aus Jesu Mund, keine Ermahnung. Wichtig ist nur, dass wir da sind, dass wir gewahr werden, was sich bei uns ändert, wenn uns die Worte zu Herzen gehen: „Siehe, das ist meine Mutter und meine Brüder! Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.“

III Freiheit – zum Tun und Lassen nach Gottes WillenIst das eine Vereinnahmung? Eine verrückte Zuschreibung an dich und mich? Das wäre es, wenn es nicht so befreiend wäre. Gottes Willen tun – das kann mich freimachen von menschlichen Wünschen, Windungen und Willenskollisionen. Als Jesu Schwester, Jesu Bruder angesprochen sein – du und ich können die Anrede als Freispruch zu einem Leben mit Gott in uns wirken lassen.
Keineswegs ist dir dabei die Welt egal und das Menschsein feind. Bei allen schlechten Nachrichten bist du Teil der guten Nachricht, liebe Schwester Jesu und lieber Bruder Jesu, liebe Gemeinde. Denn du erblickst in deiner Mitwelt Gottes Schöpfung, dir anvertraut zu bebauen und zu bewahren. Du nimmst es also nicht hin, wo Menschen einander als Mittel für eigene Zwecke missbrauchen und mit kurzfristigen Deals die Menschenwürde herunterhandeln. Du gewöhnst dich auch nicht an die Lügen und nicht an den Diebstahl der immer Reicheren an den immer Ärmeren. Du betest dabei nicht nur für dich, sondern für Freunde und Feinde, für den Frieden auf der Welt. Gerade beim Beten hältst du die Hoffnung lebendig, bewahrst du die Opfer der Kriege vor dem Vergessen, hältst du den Protest gegen das Töten hoch. Du tust Gottes Willen und brauchst dich nicht für den Moment um nichts mehr zu kümmern als um dieses fünfte Gebot. Das ist befreiend.
Jesus sieht ringsum auf die, die in den Kreisen um ihn sind zu allen Zeiten. Die Ansage lautet: Ihr gehört zu Gott, die ihr hier sitzt. Und ihr seid die, die Gottes Willen tun. Denn ganz bestimmt werdet ihr aufstehen und werdet in eure Häuser und Aufgaben und das neue Schuljahr gehen. Ihr macht euch gern auf den Weg, ja, vielleicht begleitet euch bei den ersten Schritten von der Kirche weg das Gefühl der Dankbarkeit. Dankbar seid ihr, dass ihr zu Gott gehört – deshalb sorgt euch nicht, euch in der neuen turbulenten Woche zu verlieren. Ihr geht aufgeräumt eures Weges – wie solltet ihr ein böses, bitteres Wort verlieren? Ihr geht als Menschen, die aus der Ruhe Kraft geschöpft und alles andere unterbrochen haben – wie solltet ihr jemanden unter Druck setzen oder in die Enge treiben? Ihr geht als Menschen, die um Gottes Liebe wissen, die er in jedes Menschenkind gelegt hat – ihr werdet die Stimme erheben, wo Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Ihr geht als beschenkte, begnadigte Menschen – ihr werdet also Geduld haben mit denen, die euch Mühe machen. Ihr geht mit der Erfahrung, dass Gott da ist und euch nicht euch selbst überlässt – deshalb werdet ihr hingehen zu der, die euch ruft und um Hilfe bittet. Ihr geht als Menschen, die Jesus mit seinem Blick berührt und in seinem Kreis sieht – deshalb seid auch ihr ein offener und kein geschlossener und erst recht kein besserer Kreis von Christinnen und Christen. Ihr seid Schwestern, seid Brüder unseres Herrn Jesus Christus. Amen.

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