17. Sonntag nach Trinitatis (12. Oktober 2025)

Autorin / Autor:
Codekan i.R. Dr. Gottfried Claß, Friedrichshafen [class.g@gmx.de]

Josua 2,1-21

IntentionIn der gegenwärtigen politischen Situation im Nahen Osten über diesen Text zu predigen ist mehr als schwierig. Das Verhalten der israelischen Regierung ist mit Recht zu kritisieren. Die Morde und die Geiselnahmen der palästinensischen Hamas genauso. Das Töten muss aufhören. Soviel ist klar. Aber wie? Diese Geschichte erzählt: Man muss Israel nicht vernichten und auslöschen wollen. Man kann miteinander das Land bebauen. Ist das ein Weg auch für heute?

Predigttext2,1 Josua aber, der Sohn Nuns, sandte von Schittim zwei Männer heimlich als Kundschafter aus und sagte ihnen: Geht hin, seht das Land an, auch Jericho. Die gingen hin und kamen in das Haus einer Hure, die hieß Rahab, und kehrten dort ein. 2 Da wurde dem König von Jericho angesagt: Siehe, es sind in dieser Nacht Männer von den Israeliten hereingekommen, um das Land zu erkunden. 3 Da sandte der König von Jericho zu Rahab und ließ ihr sagen: Gib die Männer heraus, die zu dir in dein Haus gekommen sind; denn sie sind gekommen, um das ganze Land zu erkunden. 4 Aber die Frau nahm die beiden Männer und verbarg sie. Und sie sprach: Ja, es sind Männer zu mir hereingekommen, aber ich wusste nicht, woher sie waren. 5 Und als man das Stadttor schließen wollte, da es finster wurde, gingen die Männer hinaus, und ich weiß nicht, wo sie hingegangen sind. Jagt ihnen eilends nach, dann werdet ihr sie ergreifen. 6 Sie aber hatte sie auf das Dach steigen lassen und unter den Flachsstängeln versteckt, die sie auf dem Dach ausgebreitet hatte. 7 Die Verfolger aber jagten ihnen nach auf dem Wege zum Jordan bis an die Furten, und man schloss das Tor zu, als sie draußen waren. 
8 Und ehe die Männer sich schlafen legten, stieg Rahab zu ihnen hinauf auf das Dach 9 und sprach zu ihnen: Ich weiß, dass der HERR euch das Land gegeben hat; denn ein Schrecken vor euch ist über uns gefallen, und alle Bewohner des Landes sind vor euch feige geworden. 10 Denn wir haben gehört, wie der HERR das Wasser im Schilfmeer ausgetrocknet hat vor euch her, als ihr aus Ägypten zogt, und was ihr den beiden Königen der Amoriter, Sihon und Og, jenseits des Jordans getan habt, wie ihr an ihnen den Bann vollstreckt habt. 11 Und seitdem wir das gehört haben, ist unser Herz verzagt und es wagt keiner mehr, vor euch zu atmen; denn der HERR, euer Gott, ist Gott oben im Himmel und unten auf Erden. 12 So schwört mir nun bei dem HERRN, weil ich an euch Barmherzigkeit getan habe, dass auch ihr an meines Vaters Hause Barmherzigkeit tut, und gebt mir ein sicheres Zeichen, 13 dass ihr leben lasst meinen Vater, meine Mutter, meine Brüder und meine Schwestern und alles, was sie haben, und uns vom Tode errettet. 14 Die Männer sprachen zu ihr: Tun wir nicht Barmherzigkeit und Treue an dir, wenn uns der HERR das Land gibt, so wollen wir selbst des Todes sein, sofern du unsere Sache nicht verrätst. 15 Da ließ Rahab sie an einem Seil durchs Fenster hinab; denn ihr Haus war an der Stadtmauer, und sie wohnte an der Mauer. 16 Und sie sprach zu ihnen: Geht auf das Gebirge, dass eure Verfolger euch nicht begegnen, und verbergt euch dort drei Tage, bis zurückkommen, die euch nachjagen; danach geht eures Weges. 17 Die Männer aber sprachen zu ihr: So wollen wir den Eid einlösen, den du uns hast schwören lassen: 18 Wenn wir ins Land kommen, so sollst du dies rote Seil in das Fenster knüpfen, durch das du uns herabgelassen hast, und zu dir ins Haus versammeln deinen Vater, deine Mutter, deine Brüder und deines Vaters ganzes Haus. 19 So soll es sein: Wer zur Tür deines Hauses herausgeht, dessen Blut komme über sein Haupt, aber wir seien unschuldig; doch das Blut aller, die in deinem Hause bleiben, soll über unser Haupt kommen, wenn Hand an sie gelegt wird. 20 Und wenn du etwas von dieser unserer Sache verrätst, so sind wir frei von dem Eid, den du uns hast schwören lassen. 21 Sie sprach: Es sei, wie ihr sagt!, und ließ sie gehen. Und sie gingen weg. Und sie knüpfte das rote Seil ins Fenster. 

Liebe Gemeinde, eine Episode aus der Zeit der Landnahme Israels vor vielen tausend Jahren. Geflohen aus der Sklaverei in Ägypten kommen sie an die Grenze zum Gelobten Land, das Gott ihnen versprochen hatte. Die Geschichte ist schillernd. Zwiespältig. Bilder drängen sich auf. Stellen sich quer. Lösen vielleicht auch Empörung aus. Gerade angesichts der gegenwärtigen Situation im Nahen Osten. Die große Frage an uns ist die: Halten wir diese Geschichte aus oder macht sie uns so wütend, dass wir gar nicht mehr hören, was sie uns sagen könnte?
Die Botschaft dieser Geschichte ist: Man muss Israel nicht vernichten und auslöschen wollen. Man muss Juden nicht hassen. Man muss Juden nicht totschlagen. Dafür steht Rahab. Dafür steht ihr Handeln als Gerechte aus den Völkern.

Das Volk Israel steht am Jordan. Nun haben sie es fast geschafft. Am anderen Ufer liegt das „Gelobte Land“, das Land, das Gott ihnen versprochen hat. Josua schickt zwei seiner Männer aus. Sie sollen auskundschaften, wie die Lage dort drüben in Jericho ist, ob ein mächtiger Gegner sie erwartet. Und wo landen sie? In einem Etablissement. Es gehört einer Frau namens Rahab. Wahrscheinlich dachten die beiden Spione: Hier fallen wir am wenigsten auf und erfahren am meisten. Aber die Ankunft der Fremden bleibt nicht lange geheim. Schon steht die Sicherheitspolizei bei Rahab vor der Tür. Und dann geschieht Erstaunliches: Statt die jüdischen Männer ans Messer zu liefern, versteckt Rahab diese und setzt die Polizei auf eine falsche Fährte: „Ja, es sind Männer zu mir hereingekommen, aber ich wusste nicht, woher sie waren. Und als man das Stadttor schließen wollte, da es finster wurde, gingen die Männer hinaus, und ich weiß nicht, wo sie hingegangen sind. Jagt ihnen eilends nach, dann werdet ihr sie ergreifen.“

Rahab - Verräterin oder Werkzeug Gottes?Wie ist Rahabs Handeln zu beurteilen? Hat sie mit dem Feind kollaboriert, um ihre Familie zu retten, auch wenn sie damit die Niederlage ihrer Stadt in Kauf nimmt? Oder hat sie sich einbeziehen lassen in Gottes Geschichte mit seinem Volk? Wurde sie sein Werkzeug?
Rahab erklärt sich selbst gegenüber den beiden Fremden. Und man staunt, wie offen und ehrlich sie spricht – und wie tiefgründig theologisch. Ja, man habe bis nach Jericho von den gewaltigen Taten ihres Gottes gehört. Dass er sein Volk aus der ägyptischen Sklaverei befreit und durch das Schilfmeer hindurchgeführt habe. Diese und andere Geschichten hätten die Leute in Jericho in Schrecken versetzt. Und daraus zieht Rahab nun ihre eigenen Schlüsse: „Mir ist klar geworden: Dieser Gott ist offensichtlich stärker und größer als die mir bisher bekannten kanaanäischen Götter. Er hat euch das Land gegeben. Über Jerichos Zukunft ist bereits entschieden. Ich werde mich diesem Gott nicht in den Weg stellen.“
Liebe Gemeinde, wäre diese Erzählung eine reine Kriegsreportage, könnte man Rahabs Verhalten als Verrat oder berechnende Schläue abtun. Sie ist aber als Glaubensgeschichte erzählt: wie eine kanaanäische Frau den Gott Israels als wahren Gott entdeckt. Ja, mehr noch: wie sie aktiver Teil wird von Gottes Geschichte mit seinem Volk.

Verabredungen unter EidRahab nimmt nun die beiden Männer für die Rettung ihrer eigenen Großfamilie in Pflicht. Sie fordert von ihnen ein sicheres Zeichen. Man spürt ihre Angst vor Verrat und Meineid. Das ist sehr nachvollziehbar. Denn was für ein Risiko geht sie ein, ihr Schicksal und das ihrer Angehörigen in die Hände wildfremder Menschen zu legen! Noch dazu in einer kriegerischen Situation. Und von ihrem Beruf her weiß sie, wie Menschen ticken, wie wenig ihr Wort oft wert ist. Rahab ist nicht nur eine selbstlose Helferin. Sie will auch Sicherheit für den „Tag X“.
Die beiden Juden lassen sich auf eine solche Abmachung ein. Sie haben ja Rahab ihr Leben zu verdanken. Unter Eid werden Verabredungen für den Tag der Einnahme Jerichos getroffen. Das rote Seil spielt dabei die zentrale Rolle.

Das rote SeilRahab lässt die Beiden am roten Seil außerhalb der Stadtmauern herab. Es wird für sie zum Rettungsseil. Sie hangeln sich hinab ins Freie, und können unerkannt fliehen. Vielleicht kommen uns Erinnerungen in den Sinn, wo wir selbst in Gefahr waren. Was war unser Rettungsseil? Stellvertretend zwei Stimmen: „Das Gebet war für mich wie ein Glockenseil, an dem ich immer wieder zog in der Hoffnung, dass es in Gottes Ohren klingelt, dass er mich in meiner Not sieht. Und tatsächlich, er hat mir geholfen.“ – „Ich steckte in einem Irrgarten, wusste nicht mehr aus noch ein. Allein hätte ich nicht herausgefunden. Aber es gab Menschen, die mit mir den Weg suchten. Sie waren das Rettungsseil aus diesem Labyrinth. Gott hat sie mir geschickt.“
Das rote Seil wird dann auch umgekehrt für Rahab und ihre Familie zum Schutzzeichen, das ihr Leben rettet. Wenn die Israeliten ins Land kommen, soll sie das rote Seil ins Fenster knüpfen. Alle, die sich dann in ihrem Haus aufhalten, werden vom Tode verschont werden.
Das ruft Erinnerungen wach an die letzte Nacht in Ägypten, an den Aufbruch aus der Sklaverei. Damals befahl Gott den Hebräern: „Bestreicht die Türpfosten eurer Häuser mit dem Blut der geschlachteten Passahlämmer, so wird euer Leben verschont.“ (Vgl. Ex 12,7ff.) Ähnlich hier: Das Seil mit der roten Farbe, der Farbe des Blutes und damit des Lebens, wird zum Versprechen, dass das Leben von Rahab und ihrer Familie gerettet wird.

Das hebräische Wort für Seil „tikwa“ bedeutet zugleich „Hoffnung“. Rahab bindet mit dem roten Seil buchstäblich die Hoffnung an ihr Fenster. Und sie, die kanaanäische Frau, lässt sich mit dem Seil aus rotem Hanf in die Hoffnungsgeschichte des Volkes Israel und seines Gottes einbinden. So ist die Geschichte von Rahab auch die Geschichte einer Einladung an die Völkerwelt. Aber was heißt das heute? Was heißt das angesichts der verstörenden Bilder jeden Abend im Fernsehen, jeden Morgen in der Zeitung? In Deutschland sind Juden gefährdet wie noch nie seit 1945. Die Zahl antisemitischer Übergriffe ist bei uns seit dem 7. Oktober 2023, dem Terrorangriff der Hamas, sprunghaft gestiegen. Und bei aller notwendigen und berechtigten Kritik an politischen Entscheidungen in Israel bleibt doch die Botschaft: Man muss Juden nicht hassen. Man muss den Staat Israel nicht vernichten und auslöschen wollen. Und man kann – auch das ist Rahabs Botschaft! – in friedlicher Koexistenz leben. Man kann miteinander das Land bebauen. Man kann verlernen, Krieg zu führen. Man kann im Angesicht des anderen den Bruder, die Schwester erkennen.

Rahab - „im Dienste seiner Majestät“Unsere Erzählung ist noch für weitere Überraschungen gut. Rahab, Meisterin in Verführungskünsten, verführt die beiden jüdischen Männer mitnichten zur Verehrung fremder Götter. Nein, sie verführt diese zum Glauben an ihren eigenen Gott! Denn sie sagt ihnen den entscheidenden Satz: „Denn der EWIGE, euer Gott ist oben im Himmel und unten auf der Erde.“ Das ist eine Art Glaubensbekenntnis. Aus dem Munde dieser fremden Frau. Sie sagt ihnen: „Seht doch, die rettende Macht eures Gottes reicht bis auf die Erde. Darum habt ihr allen Grund, auf ihn zu hoffen, mit ihm zu rechnen.“ Rahab wird hier gleichsam zur theologischen Lehrerin.

Wie wirkt Gott in der Geschichte? Wir haben ja alle unsere klaren Vorstellungen von „unseren“ Heiligen, mit wem Gott seine Sache vorantreibt und mit wem nicht. Aber unsere heutige Erzählung wirft unsere Bilder über den Haufen. Selbst so anrüchige Gestalten wie Rahab können im „Dienste seiner Majestät“ stehen. „Du sollst dir kein Bildnis machen!“ – lautet das zweite Gebot. Weder von Gott noch von Menschen. Das wird hier konkret. Es ist Gottes ureigene Freiheit, wen er in seine Geschichte einbindet. Er folgt dabei nicht einfach unseren Moralvorstellungen. Und er mutet uns zu, auf Menschen, die wir schon längst abgestempelt haben, einen zweiten Blick zu riskieren. Rahab ist viel mehr, als viele in ihr sehen. Sie ist Lebensretterin, theologische Lehrerin und - eine der Vorfahren von Jesus.

Rahab, eine der Urmütter JesuJa, sie hat es tatsächlich bis in den Stammbaum Jesu geschafft. Als eine der ganz wenigen Frauen wird sie dort namentlich erwähnt. Hören Sie den Anfang des Matthäusevangeliums:
„Dies ist das Buch der Geschichte Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams. Abraham zeugte Isaak. Isaak zeugte Jakob. Jakob zeugte Juda und seine Brüder. Juda zeugte Perez und Serach mit der Tamar. Perez zeugte Hezron. Hezron zeugte Ram. Ram zeugte Amminadab. Amminadab zeugte Nachschon. Nachschon zeugte Salmon.Salmon zeugte Boas mit der Rahab.Boas zeugte Obed mit der Rut. Obed zeugte Isai. Isai zeugte den König David.“

Was verbindet Rahab und Jesus? Auf jeden Fall ihr ungeheurer Mut. Beide wagen es, in einer Welt voller Gewalt und Feindseligkeit Brücken zu bauen und Leben zu retten. Rahab wird gleichsam zum Rettungsseil für die beiden Spione. Jesus Christus wird zum Rettungsseil für die ganze Welt. Wir haben die Worte Rahabs gut im Ohr: „Euer Gott, ist Gott oben im Himmel und unten auf Erden.“ Das löst Gott in Jesus Christus auf neue Weise ein. In Jesus kommt Gott selbst auf die Erde, zum Greifen nah. Und schreibt seine Hoffnungsgeschichte weiter, schlägt ein neues Kapitel auf. Nicht nur Einzelne wie Rahab und Ruth, sondern die nichtjüdischen Völker insgesamt werden in die Hoffnungsgeschichte seines Volkes mit einbezogen. Das rote Seil der Hoffnung reicht bis in unsere Gegenwart, reicht bis in dein und mein Leben hinein. Wir dürfen nach ihm greifen. Denn Jesus Christus, die Hoffnung der Welt, hat uns versprochen: „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende“ (Mt 28,20b). Darum: Wenn die Welt wieder mal zum Verzweifeln oder zum Weinen ist, dann haltet euch an ihn. Er ist und bleibt das rote Seil der Hoffnung in eurem Leben, in dieser Welt. Amen.

Predigt zum Herunterladen: Download starten (PDF-Format)