Reformationsfest (31. Oktober 2025)

Autorin / Autor:
Pfarrer i.R. Georg List, Leonberg [Georg.List1@gmx.de]

5. Mose 6,4–9

Intention
Der Predigttext ist eine Kernstelle jüdischen Glaubens und Lebens und der gemeinsamen Bibel von Juden und Christen. Lassen sich Verbindungen finden zwischen diesem Text und den Kernanliegen der Reformation – trotz der getrennten und von christlicher Seite mit Schuld beladenen Geschichte, zu der auch die judenfeindlichen Äußerungen Luthers gehören?
Und wie lässt sich aus dem Bekenntnis zu dem einen Gott eine gemeinsame Hoffnungsperspektive wenigstens andeuten?

Predigttext
Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR ist einer.
Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.
Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst. Und du sollst sie binden zum Zeichen auf deine Hand, und sie sollen dir ein Merkzeichen zwischen deinen Augen sein, und du sollst sie schreiben auf die Pfosten deines Hauses und an die Tore.
(5. Mose 6,4–9)

Einleitung
Am Reformationstag erinnern wir uns an die befreienden Botschaften, die Martin Luther und andere Männer und Frauen der Reformationszeit uns lehren. Sie werden oft in kurzen Überschriften zusammengefasst: „allein die Schrift“, „allein aus Gnade und durch den Glauben“, „allein Christus“.

Für Martin Luther bildeten neben dem kirchlichen Machtapparat, den Bischöfen und dem Papst vor allem die Juden eine dunkle Folie. Er meinte, auf diesem Hintergrund leuchte das Evangelium umso heller. Über viele seiner Äußerungen gegen Juden können wir nur erschrecken und müssen uns schämen. Wir wissen ja, dass sie schlimme Folgen gehabt haben.
Deshalb ist es gut, dass der heutige Predigttext eine Kernstelle der hebräischen Bibel ist. Er führt uns als christliche Gemeinde mitten hinein in den jüdischen Glauben und die Art und Weise, wie jüdische Menschen diesen Glauben leben. „Höre, Israel – Sch’ma Jisrael!“ Christentum und Judentum sind nach wie vor „zwei Glaubensweisen“ (Martin Buber), die sich in den Jahrzehnten und Jahrhunderten nach Jesus voneinander getrennt haben. Sie haben aber, gerade durch Jesus, vieles gemeinsam. Wir wollen also jetzt hören, was Israel hört, und sehen, was es tut, und zwar mit Respekt. Dabei schauen wir auf drei gottesdienstliche Szenen.

Allein die Schrift (sola scriptura)
Als erstes sehen wir einen frommen Juden, der sich fürs Gebet vorbereitet. Er wickelt sich einen Lederriemen um den linken Arm und um den Kopf. An diesen Gebetsriemen sind schwarze Lederkapseln angebracht, eine an der Innenseite des Oberarms, also nahe dem Herzen; die andere auf der Stirn, als „Merkzeichen zwischen den Augen“. Darin befinden sich kleine Pergamentstreifen, auf denen das Sch´ma und weitere Bibelstellen geschrieben stehen. Diese Worte prägen das ganze Leben. „Sie sollen auf deinem Herzen sein“, sagt Mose. Überall sollen sie hörbar werden, zu Hause und in der Öffentlichkeit. Sie sind fester Bestandteil des Abend- und des Morgengebets, heißt es doch: „wenn du dich niederlegst oder aufstehst“.
Ähnlich ist es bei den kleinen Behältern, die an den Türen jüdischer Häuser angebracht sind. Wer durch eine solche Tür geht, kann die „Mesusa“ berühren und sich an den Einen erinnern, dem alles gehört und alles gehorchen soll.
Auf allen Wegen und den ganzen Tag, vom ersten bis zum letzten, begleitet und leitet er das Leben. Darum sollen Kinder diese Worte so bald wie möglich lernen. Und es ist der Wunsch eines frommen Juden, mit ihnen auf den Lippen sein Leben auszuhauchen.

Die Worte hören, sie aufschreiben, sie sichtbar um sich haben, sie lesen und rezitieren, damit sie erneut gehört werden können: So bleiben sie lebendig. Ein wahrhaft reformatorisches Konzept! Denn „der Glaube kommt aus dem Hören“, schreibt Paulus (Röm 10,17). Darum hat Martin Luther die Bibel ins Deutsche übersetzt. Alle sollen sie lesen und verstehen können. Und er hat die Hauptinhalte der Bibel und des christlichen Glaubens in kurzen, einprägsamen Sätzen zusammengefasst, die auswendig gelernt werden können. Sie erinnern sich an Ihren Konfirmandenunterricht? Auch Lieder sind ganz wesentlich. Leibliche Zeichen und Rituale gehören für Luther selbstverständlich dazu: „Des Morgens, so du aus dem Bette fährest, sollst du dich segnen mit dem heiligen Kreuz.“

Bibel, Gesangbuch, Katechismus und der Gottesdienst der Gemeinde mit der Predigt und der Feier der Sakramente: Das ist für lange Zeit die Grundausrüstung evangelischer Christen und Christinnen gewesen, Quelle ihres Glaubens. Können Juden uns daran erinnern? Sie gehen auf ihre Weise mit dem Wort um. Wir sollten nicht nachlassen, es auf unsere Weise zu tun.
Und im Übrigen: Wie jüdische Menschen mit biblischen Texten umgehen, ist anders, als wir es gewohnt sind. Aber nicht wenige Christinnen und Christen, darunter auch ich, haben viel vom Toralernen mit jüdischen Lehrerinnen und Lehrern profitiert.

Allein aus Gnade und durch den Glauben (sola gratia und sola fide)
Als zweites sind wir bei einem Gottesdienst am Torafreudenfest in der Synagoge dabei. Erst vor kurzem wurde es begangen, in diesem Jahr am 15. Oktober. Feierlich werden die prächtig gekleideten und gekrönten Schriftrollen aus dem Toraschrein gehoben und wie in einem Tanz durch die Synagoge getragen. Wer kann, berührt sie. An diesem Tag kommt die wöchentliche Lesung der Tora über das Jahr hin mit dem letzten Abschnitt aus dem 5. Mosebuch ans Ende. Die Beschäftigung mit dem Gotteswort kann aber nie zu einem Ende kommen. Deswegen wird im gleichen Gottesdienst schon der neue Zyklus gestartet: „Am Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde“ (1. Mose 1,1ff).
Große Freude habe ich in solch einem Gottesdienst gespürt, so wie es der Name des Festtags sagt; Dankbarkeit, dass Gott seinem Volk diese Worte geschenkt hat. Es ist verpflichtet, sie zu hören und zu halten. Aber das hat nichts mit irgendeiner Art von „Werkgerechtigkeit“ zu tun, wie es uns oft gesagt wurde. Die Tora ist eine Liebesgabe Gottes. Und die Reaktion darauf ist: „Ich habe meine Freude an deinen Geboten, sie sind mir sehr lieb“ (Ps 119,47). Diese Liebe soll das ganze Leben durchdringen und prägen. Darin drückt sich die Liebe zu Gott selbst aus, „von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft“ ihn zu lieben.

So umfassend soll die Gottesliebe sein, weil sie Antwort auf Gottes umfassende Liebe ist. Das schärft Mose seinem Volk immer wieder ein. Gott hat euch zum Eigentumsvolk erwählt, nicht weil ihr von euch aus irgendetwas vorzuweisen hättet, „sondern weil er euch geliebt hat“ (5. Mose 7,8) – also allein aus Gnade. Und Mose wird nicht müde, daran zu erinnern, durch welche Zeichen Gott seine Liebe gezeigt hat, angefangen damit, dass er die Israeliten aus der Sklaverei befreit und aus Ägypten herausgeführt hat.

In der Frage, was denn das „höchste Gebot von allen“ sei, stimmen Jesus und ein Schriftgelehrter, der ihn danach gefragt hat, völlig überein: Es ist das Gebot der Gottesliebe und – im gleichen Atemzug – das der Nächstenliebe (3. Mose 19,18). Und es ist kein Zufall, dass der Jude Jesus nach dem Evangelisten Markus (12,28ff) dabei das Sch´ma rezitiert: „Höre, Israel!“

„Du sollst Gott mit deinem ganzen Herzen und allen deinen Kräften lieben“ – „und deinen Nächsten wie dich selbst!“ Das heißt doch: Der Glaube, durch den wir Gottes Liebe empfangen, ohne dass wir etwas dazu tun könnten oder müssten, dieser Glaube kann nicht untätig bleiben. Wenn sich der Glaube nicht im Gehorsam gegen Gottes Gebote zeigt, bleibt er tot. Auch das ist etwas, was wir mit und von Israel „hören“ sollen.

Allein Christus (solus Christus)
Die dritte Szene: Wir sind im Namen des dreieinigen Gottes im Kreis um den Altar versammelt, auf dem Brot und Kelch für uns vorbereitet sind. Sie stehen für alle guten Gaben der Schöpfung Gottes. Und sie sind leibliche Zeichen seiner Liebe, die er uns in Jesus erwiesen hat. Johannes Brenz nennt die Sakramente „göttliche Wortzeichen“. In der Abendmahlsfeier in der Form der Messe spricht die Gemeinde: „Deinen Tod, o Herr, verkündigen wir und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit.“ Durch dieses „Geheimnis des Glaubens“ ist derjenige Gott, den Israel im Sch´ma als seinen Gott bekennt, auch unser Gott geworden – und wir sein Volk. Nicht anstelle Israels, sondern mit ihm. Das ist ein Grund, Gott zu danken: Eucharistie heißt „Dank“. Wir stimmen in das urchristliche Bekenntnis ein, dass der eine Gott Jesus „den Namen gegeben hat, der über alle Namen ist“ (Phil 2,9), nämlich seinen eigenen. Juden sprechen den geheimnisvollen Gottesnamen aus Ehrfurcht nicht aus. Er wird umschrieben, meist mit dem Titel: „der Herr“.
Der Apostel Paulus überliefert uns im 1. Korintherbrief (8,6) eine „christliche Variante“ des Sch’ma Jisrael: Es mag viele sogenannte Götter und Herren geben, aber „wir haben doch nur einen Gott, den Vater, von dem alle Dinge sind und wir zu ihm, und einen Herrn, Jesus Christus, durch den alle Dinge sind und wir durch ihn“.

Gott allein die Ehre (soli Deo gloria)
Die Frage ist: Handelt es sich dann noch um „einen“ Gott? „Der HERR ist einer.“ Das ist Kern des jüdischen Bekenntnisses – und doch auch des christlichen! Paulus jedenfalls hält daran fest. Aber an diesem Punkt sind die Wege auseinandergegangen.

Trotz aller Fortschritte in der Ökumene ist bis heute leider ein gemeinsames Abendmahl von evangelischen und katholischen Gläubigen offiziell nicht erlaubt. Der Kreis um den Altar mit Jesus Christus in der Mitte ist aber nicht geschlossen. Er selbst lädt ein, und seine Arme sind offen. Wenn wir Brot und Wein nach dieser Einladung unseres Herrn teilen, dann blicken wir voraus und hoffen, dass Gott seinen Verheißungen treu bleibt. Wir warten darauf, dass „die Vielen kommen werden von Osten und von Westen und mit Abraham und Isaak und Jakob im Himmelreich zu Tisch sitzen werden“ (Mt 8,11) – also gemeinsam mit Israel.
Wie wir uns das vorstellen sollen und wer dann alles mit am Tisch sitzen wird, das will ich Gott überlassen und ihm von mir aus keine Grenzen ziehen.

Der Apostel Paulus jedenfalls verkündet das Evangelium in dieser Erwartung. Gott hat seinen Sohn aus dem Tod auferweckt, ihm seinen eigenen Namen und die Macht gegeben, den Tod als „letzten Feind“ ganz zu überwinden. Dann aber wird der Sohn ihm alles wieder übergeben, damit Gott endgültig „alles in allem“, endgültig „der Eine“ sei (1. Kor 15,28).
Und das Bekenntnis, „dass Jesus Christus der Herr ist“, hat nichts anderes zum Ziel als die „Ehre Gottes, des Vaters“ (Phil 2,11).

So führen die reformatorischen Einsichten „allein die Schrift“, „allein aus Gnade und durch den Glauben“, „allein Christus“ auch bei der Abendmahlsfeier dahin, dass wir Menschen und die ganze Schöpfung in den Lobgesang der Engel einstimmen: „soli Deo gloria“ – Gott allein die Ehre! Amen.

Predigt zum Herunterladen: Download starten (PDF-Format)