Vorletzter Sonntag des Kirchenjahrs / Volkstrauertag (16. November 2025)
Hiob 14,1-6.13.15-17
Intention
Die Predigt stellt sich der Spannung zwischen der oft schmerzhaften Erfahrung von Vergänglichkeit und der christlichen Hoffnungsbotschaft. Hiob zeigt: In Leid, Klage und Anklage ist bereits die Hoffnungsbotschaft enthalten, dass wir nicht auf ewig der Vergänglichkeit preisgegeben sind.
Vergänglichkeit
Liebe Gemeinde, in den trüben Tagen des Novembers werden wir daran erinnert, dass unser Leben nicht ewig währt, sondern einmal ein Ende haben wird. So wie die Blätter von den Bäumen fallen und zu Erde werden, so werden auch wir wieder zu Erde werden. So wie im Herbst die Natur sich zur Ruhe begibt, so werden auch wir am Ende unsrer Tage zur letzten Ruhe getragen werden.
Immer wenn wir auf dem Friedhof stehen, wird uns das bewusst: Unser Leben ist vergänglich. Bei jeder Beerdigung hören wir: Erde zu Erde, Asche zu Asche und Staub zu Staub. Der Tod beendet unser Leben. Und es ist gut, wenn wir diese Tatsache nicht aus unserm Leben verdrängen, sondern uns immer wieder damit beschäftigen. Am Ende des Kirchenjahres sind es die letzten drei Sonntage, die uns dazu einladen, uns mit unserer Endlichkeit und unserem eigenen Sterben zu befassen.
Für viele Menschen und vielleicht auch für uns selbst ist das nicht so einfach. Sich bewusst zu machen, dass das Leben einmal enden wird, finde ich schwer vorstellbar. Und doch erfahren wir das immer wieder: Menschen, die uns nahestanden, sind auf einmal nicht mehr unter uns. Das ist Realität. Das macht Angst. Das stellt alles auf den Kopf.
Dass unser Leben endlich und begrenzt ist, erfahren wir aber auch nicht nur durch die direkte Konfrontation mit dem Tod. Wir erfahren immer wieder, dass es Dinge gibt, die nicht in unserer Hand liegen, die wir nicht steuern, nicht aufhalten können.
Was löst diese Erfahrung, dass unser Leben begrenzt ist und wir nicht alles in der Hand haben, in uns aus? Vielleicht Ohnmacht. Vielleicht Hilflosigkeit und Verzweiflung. Vielleicht auch Wut. Möglicherweise stellen wir uns auch die Frage: Warum muss das so sein?
Hören wir dazu aus dem Buch Hiob die ersten beide Verse des Predigttextes:
„Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe, geht auf wie eine Blume und welkt, flieht wie ein Schatten und bleibt nicht.“
Dass wir Menschen vergänglich sind, ist kein Zufall. Es ist auch nicht einfach eine biologische Notwendigkeit. Es liegt nicht nur in der Natur der Dinge, sondern ist von Gott so bestimmt. Er setzt unserem Leben eine Grenze. Er hat es so gesetzt, dass unser Leben einen Anfang und ein Ende hat. Er ist und bleibt der Herr über Leben und Tod. Nicht umsonst reden wir bei der Beerdigung davon, dass Gott den Toten zu sich gerufen hat, dass er diesem Leben ein Ende gesetzt hat.
Jetzt könnte man ja meinen, wenn wir Menschen sowieso aufgehen wie eine Blume und wieder zusammenfallen, wenn wir wie ein Schatten vergehen, dann sei unser Leben völlig unwichtig, dann spiele es keine Rolle, was wir denken oder tun, dann wären wir Gott gleichgültig.
So aber ist es gerade nicht. Auch wenn unser Leib vergeht, wird Gott uns nicht vergessen. Obwohl wir vergängliche Geschöpfe sind, schaut der unvergängliche Schöpfer nach uns. Er achtet uns und sieht nach uns. Wir sind ihm nicht egal, sondern er sieht nach uns, nach jedem einzelnen. Trotz unserer Sterblichkeit sind wir für Gott wichtig. Er schaut nach seinen Menschen.
Gericht
Wir hören die nächsten beiden Verse des Predigttextes:
„Doch du tust deine Augen über einen solchen auf, dass du mich vor dir ins Gericht ziehst.
Kann wohl ein Reiner kommen von Unreinen? Auch nicht einer!“
In unserm Glaubensbekenntnis heißt es, dass Jesus Christus „kommen wird, zu richten die Lebenden und die Toten“. Am Ende unserer Tage wird Gott selbst das letzte Urteil über uns alle sprechen. Das hat für mich etwas Tröstliches. Kein weltliches Gericht und kein anderer Mensch spricht das letzte Urteil über mich, sondern der gnädige Gott allein. All unsere Urteile bleiben vorläufig. Wir haben es in der Schriftlesung aus dem Römerbrief gehört (Röm 14,7–13): „Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder du, was verachtest du deinen Bruder?“ Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden.
Ich sehe darin eine große Entlastung. Denn natürlich kommen wir in unserem Alltag nicht ohne Urteile über andere Menschen aus. Wir brauchen ein weltliches Gesetz, das unser Zusammenleben regelt. Der Theologe Eberhard Jüngel hat es einmal so schön auf den Punkt gebracht: „Unsere vorläufige Friedensordnung würde sofort zusammenbrechen, wenn auf Erden nicht Menschen über Menschen richten würden. Doch das Richten ist und bleibt eine den Menschen im Grunde überfordernde Last.“ Denn es liegt in der Natur des Menschen, sich zu irren. Deshalb heißt es im Johannesevangelium: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein…“
Wie tröstlich und befreiend ist es da, dass wir darauf hoffen dürfen, dass Christus als Richter kommt. Er ist derjenige, der uns zur Verantwortung zieht, der nach unserem Leben fragt, der wissen will, was wir getan, gedacht und gesagt haben. Es ist Gott nicht gleichgültig, was wir tun. Christus begegnet uns als der Richter in Zukunft, aber auch schon in der Gegenwart.
Hiob
Wenn ich auf das Leben mancher Menschen blicke, dann kommt es mir manchmal so vor, dass für viele Gott schon in diesem Leben Gericht hält. Da ist schon so viel Elend, dass es fast nicht mehr schlimmer kommen kann. Manche Ehe sieht aus wie eine Hölle auf Erden. Manchmal ist das Mobbing in der Schule oder am Arbeitsplatz so heftig, dass es kaum noch auszuhalten ist. Und in manche Familie ist durch Tod oder Krankheit so viel Leid hereingebrochen, dass es kaum zu ertragen ist.
Auch bei Hiob war es so. Hiob werden die Klageverse des heutigen Predigttextes zugeschrieben. Einige werden seine Geschichte kennen:
Hiob ist ein frommer und gottesfürchtiger Mann. Er achtet auf Gottes Gebote und liebt seine Mitmenschen. Er besitzt tausende Schafe, Kamele, Rinder und Eselinnen. Er hatte viele Knechte und Mägde. Und dann bricht in dieses schöne Leben unendlich schweres Leid herein. Die Tiere werden gestohlen und die Knechte werden von räuberischen Banden getötet. Selbst seine eigenen Kinder werden nicht verschont, sondern kommen durch ein Erdbeben alle um.
Und damit nicht genug. Er bekommt auch noch eine schlimme Hautkrankheit: Üble Geschwüre übersäen seinen Körper von der Fußsohle bis zum Scheitel. Hiob erlebt so furchtbar viel Leid, dass er es kaum tragen kann. Er steht nun nicht mehr auf der Sonnenseite des Lebens, sondern auf dessen Schattenseite. Nach so viel Unglück rät ihm seine Frau, doch endlich Gott abzusagen, doch endlich von Gott zu lassen, der so viel Unglück über ihre Familie gebracht habe.
Da kommen drei Freunde, um ihn zu trösten. Und sie weinten mit ihm und saßen sieben Tage und sieben Nächte bei ihm, um mit ihm zu schweigen. Denn sie sahen, dass der Schmerz sehr groß war (vgl. Hiob 2,11–13).
Sieben Tage. Liebe Gemeinde, können wir das, solange stumm sein und das Leiden des anderen aushalten? Einfach da sein, ohne zu reden, nur zuhören, mitempfinden, vielleicht auch mitweinen? Wie lange halten mir so etwas aus? Ein paar Minuten? Eine halbe Stunde?
An einem Sterbebett vielleicht auch längere Zeit. Angesichts der Erfahrungen von Leiden, von Tod und Vergänglichkeit ist es oft angemessen, einfach nur zu schweigen. Es ist kein Zeichen von Schwäche, wenn wir verstummen. Im Gegenteil, es braucht sehr viel Kraft, das auszuhalten. Und wenn wir oft zu schnell mit aufmunternden Worten darüber hinweggehen, dann nicht nur aus einem gut gemeinten Trostbedürfnis heraus, sondern vielleicht oft auch, um uns selbst zu entlasten.
Schweigen und Verstummen brauchen ihren Platz bei der Begleitung Leidender, aber auch angesichts des Todes. Bei jeder Beerdigung schweigen wir gemeinsam vor der eigentlichen Feier oder am offenen Grab. Das Schweigen bringt zum Ausdruck: Ja, wir leiden mit und sind ebenso sprachlos wie ihr, dass dieser Mensch nicht mehr unter uns ist. Und wir wissen, dass wir Menschen vergänglich sind. Aber Schweigen und Verstummen angesichts von Tod und Vergänglichkeit ist nicht alles.
Klage
Wir hören aus dem Predigttext:
„Sind seine Tage bestimmt, steht die Zahl seiner Monde bei dir und hast du ein Ziel gesetzt, das er nicht überschreiten kann:
so blicke doch weg von ihm, damit er Ruhe hat, bis sein Tag kommt, auf den er sich wie ein Tagelöhner freut.“
Hiob klagt. Und je mehr seine Freunde mit ihren wohlmeinenden, frommen Antworten dagegenreden, desto lauter klagt er. Mehr noch: Hiob klagt an. Er verklagt Gott. Er getraut sich, sich gegen Gott zu wenden. Er macht Gott für sein Elend verantwortlich. Aber diese Klage geht nicht ins Leere. Sie geschieht nicht anonym. Sie hat ein Gegenüber. Hiobs Gegenüber ist Gott selbst. Seine Klage geschieht in der Sprache des Gebets.
Hiob wurde vom Leid so erdrückt, dass er Gott anflehte: „Schau weg! Lass mich in Ruhe! Du bringst mir nur Unglück! Ich will deine Gegenwart nicht.“
Auch wenn Hiob Gott in dem allen nicht versteht, in ihm ist ein leidenschaftlicher Hunger und Durst nach Gerechtigkeit. Hiob lehnt sich auf gegen das Unrecht, das ihm widerfährt, und ringt darin mit seinem Gott. Er nimmt vor Gott kein Blatt vor den Mund. So kommt Hiob zu Gott, er spricht sein Leid und seine Wut vor ihm aus. Auch wir dürfen dies in unserer Not jederzeit tun.
Hoffnung
Doch Hiob bleibt dabei nicht stehen, denn er betet weiter:
„Ach dass du mich im Totenreich verwahren und verbergen wolltest, bis dein Zorn sich legt, und mir eine Frist setzen und dann an mich denken wolltest! Du würdest rufen und ich dir antworten; es würde dich verlangen nach dem Werk deiner Hände. Dann würdest du meine Schritte zählen und nicht achtgeben auf meine Sünde. Du würdest meine Übertretung in ein Bündlein versiegeln und meine Schuld übertünchen.“
Schon in Hiobs Klage klingt eine Hoffnung an, eine Hoffnung, die für uns in Jesus Christus konkrete Gestalt annimmt.
Wir sind nicht auf ewig der Vergänglichkeit preisgegeben. Da ist vor 2000 Jahren etwas passiert, das unsere Vergänglichkeit in ein anderes Licht stellt. Da ist durch Jesus Christus etwas in die Welt gekommen, das ihr Gesicht verändert hat: Jesus Christus ist nicht im Tod geblieben, sondern ist auferstanden und hat das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht. Leid und Tod haben nicht das letzte Wort. Gott hat sie für uns überwunden.
So fällt in diese trüben Novembertage österliches Licht herein, denn wir haben eine Hoffnung, die über den Tod hinausgeht. Das macht mich zuversichtlich bei jeder Beerdigung, bei jeder Sterbebegleitung und auch im Hinblick auf meinen eigenen Tod.
Beides macht unser Leben aus. Ein Leben, das nur schöne und angenehme Zeiten kennt, gibt es nicht. Oft erreicht uns ein Unglück, mit dem wir nicht gerechnet haben. Dann ist Gott uns verborgen. Wir verstehen ihn nicht: Wir klagen und fragen, wie er so etwas zulassen kann. Wir begehren vielleicht auf gegen ihn. Wir schreien ihn an: „Lass mich in Ruhe!“
Und es ist gut, wenn wir das tun und mit unserer Not nicht hinter dem Berg halten. Aber es ist auch gut, dass wir vom verborgenen Gott dann zum offenbaren Gott fliehen. Dass wir in solchen Zeiten uns vom zornigen Gott weg hin zum gnädigen Gott in Christus bewegen dürfen.
Ich denke, das macht Glauben aus: Sich immer wieder von der Anfechtung, wo Gott uns rätselhaft begegnet, sich an den Gott zu wenden, der sich in Christus als der Gnädige gezeigt hat. Der will und wird uns neue Hoffnung geben. Der wird uns Zuversicht schenken. Der wird uns neuen Lebensmut zusprechen.
Hören wir zum Abschluss noch einmal Worte aus der Schriftlesung, aus dem Römerbrief (14,8.9):
„Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn.
Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebende Herr sei.“
Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
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