Buß- und Bettag (19. November 2025)

Autorin / Autor:
Prälatin Gabriele Wulz, Ulm [praelatur.ulm@elk-wue.de]

Römer 2,1–11

Intention
Im Gespräch mit dem Predigttext aus Römer 2 soll das Thema Buße so zur Sprache kommen, dass beides Raum hat: unsere menschliche Verfasstheit, der Zorn Gottes und seine Güte.

Es müsste so vieles anders werden
„Als unser Herr und Meister Jesus Christus sagte: Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen, wollte er, dass das ganze Leben der Glaubenden Buße sei.“ So die erste der 95 Thesen, die Martin Luther im Herbst 1517 veröffentlicht hat.
Und der Funke hat gezündet und Menschen erfasst. So wie damals am Jordan, als Jesus verkündigte: Tut Buße und glaubt an das Evangelium.

Liebe Gemeinde am Buß- und Bettag,
unser ganzes Leben sei Buße. Unser ganzes Leben sei Hinwendung zu Gott. Tag für Tag gelte es umzukehren, in die offenen Arme Gottes heimzukommen.
Was die Menschen zur Zeit Jesu elektrisiert hat, was im Spätmittelalter in ganz Europa für Aufruhr und Veränderung gesorgt hat, ist hierzulande und heutzutage wohl kaum mehr als ein Achselzucken wert.
Buße? Was für ein seltsames Wort! Himmelreich – du, meine Güte. Und was soll das alles mit meinem Leben zu tun haben?
Dabei, und auch das ist nicht zu übersehen, ist die Verunsicherung groß. Und die Verzweiflung ebenso.
Dass es so nicht mehr weitergehen kann, ja so nicht weitergehen darf, spüren viele, ahnen manche. Und manche wollen ja auch was tun. Wollen aktiv Einhalt gebieten. Wollen die Verhältnisse verändern. Besser machen. Wollen das Leben lebenswerter machen. Nicht nur für sich. Sondern auch für die anderen. Die Opfer.
Es müsste doch so vieles anders werden, damit es nicht so kommt, wie es nicht kommen sollte und doch immer wieder kommt.

Umkehren zu Gott
Liebe Gemeinde, ich glaube, dass wir, die wir uns heute zum Gottesdienst am Buß- und Bettag versammelt haben, ein Stück weit eine stellvertretende Rolle haben.
Stellvertretend darin, dass wir die ganze Lebensangst, die großen Sorgen, die tiefe Ratlosigkeit angesichts der unlösbaren Probleme nicht als Wut gegen andere ausleben, sondern vor Gott bringen.
Und so tatsächlich zu Gott umkehren. Heimkommen. In Liedern. In Gebeten. Im Schweigen. Im Reden. Im Hören.
Wir kehren heute Abend um zu Gott. Kommen heim zu ihm. Und stellen ihm Fragen. Nach seiner Geduld, zum Beispiel. Nach seiner Barmherzigkeit und seiner Liebe.
Wir kommen zu ihm und vertrauen auf die offenen Arme des Vaters, der uns in unserer Verkehrtheit nicht allein lässt, sondern zu sich ruft.

Gottes Gerechtigkeit bringt uns zurecht
Ein Abschnitt aus dem Römerbrief, der Predigttext für den heutigen Buß- und Bettag, bringt heute Abend beides zur Sprache: Gottes Barmherzigkeit und seine Güte, aber auch seinen Zorn und das Gericht nach den Werken.
Gerahmt ist dieser Abschnitt aus dem 2. Kapitel dieses Briefs von der überwältigenden Erkenntnis des Apostels, die auch für Martin Luther so bahnbrechend gewesen ist: Das Evangelium ist eine Kraft, die rettet. Und zwar alle, die darauf vertrauen. Die Juden zuerst und dann die Griechen.
Denn im Evangelium wird die Gerechtigkeit offenbart, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben, wie geschrieben steht: Der Gerechte wird aus Glauben leben.
Denn Gottes Gerechtigkeit bringt uns zurecht. Rückt uns gerade. Macht uns zu neuen Menschen. Schenkt uns das ewige Leben.
Im Licht dieser Gerechtigkeit sehen wir, was ist, und stellen uns der Wahrheit über uns und unser Leben.

Paulus an die Römer Kapitel 2: Wahrheit über uns und unser Leben
Ich lese die Verse 1–11:
„Darum, o Mensch, kannst du dich nicht entschuldigen, wer du auch bist, der du richtest. Denn worin du den andern richtest, verdammst du dich selbst, weil du ebendasselbe tust, was du richtest. Wir wissen aber, dass Gottes Urteil zu Recht über die ergeht, die solches tun. Denkst du aber, o Mensch, der du die richtest, die solches tun, und tust auch dasselbe, dass du dem Urteil Gottes entrinnen wirst? Oder verachtest du den Reichtum seiner Güte, Geduld und Langmut? Weißt du nicht, dass Gottes Güte dich zur Buße leitet?
Du aber, mit deinem verstockten und unbußfertigen Herzen, häufst dir selbst Zorn an für den Tag des Zorns und der Offenbarung des gerechten Gerichtes Gottes, der einem jeden geben wird nach seinen Werken: ewiges Leben denen, die in aller Geduld mit guten Werken trachten nach Herrlichkeit, Ehre und unvergänglichem Leben; Zorn und Grimm aber denen, die streitsüchtig sind und der Wahrheit nicht gehorchen, gehorchen aber der Ungerechtigkeit; Trübsal und Angst über alle Seelen der Menschen, zuerst der Juden und auch der Griechen; Herrlichkeit aber und Ehre und Frieden allen denen, die da Gutes tun, zuerst den Juden und ebenso den Griechen. Denn es ist kein Ansehen der Person vor Gott.“

Es muss anders werden
Es muss anders werden. Alles muss anders werden. Denn wir merken ja, dass wir auf dem Holzweg sind, das Ziel verfehlen, gnadenlos immer wieder an den eigenen Maßstäben scheitern.
Wir merken, dass wir es nicht schaffen, Gerechtigkeit und Frieden miteinander zu versöhnen. Im Großen nicht, aber auch nicht im Kleinen.
Wir sehnen uns nach einem Leben ohne Angst und Trübsal.
Deshalb: Es muss anders werden. Vieles, alles muss anders werden. Aber wie kann das gelingen?

Unser Richten und Urteilen
Paulus ist an dieser Stelle im Römerbrief gnadenlos. Mit unseren verstockten, unbußfertigen Herzen häufen wir Zorn um Zorn an und finden keinen Ausweg, so sehr wir uns auch bemühten.
Unsere Maßstäbe, unser Richten und unser Urteilen – die führen allesamt in die Irre. Denn wer kann schon richten? Und: Wer kann vor Gott bestehen?
Niemand, sagt Paulus. Kein Mensch ist vor Gott gerecht. Und es ist keiner, der aus seiner eigenen Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit heraus leben und Bestand haben könnte.
Wenn aber niemand gerecht ist, dann kann auch niemand über andere richten.
Im Gegenteil, dann müssen wir erkennen: Worin wir andere richten und verurteilen, richten und verurteilen wir uns selbst.
„Was siehst du den Splitter im Auge deines Nächsten, aber den Balken in deinem Auge siehst du nicht?“ sagt Jesus. Und Paulus sagt: „Worin du den andern richtest, verdammst du dich selbst, weil du eben dasselbe tust, was du richtest.“
Offensichtlich waren damals wie heute dieselben Mechanismen am Werk: Das, was wir am meisten an anderen verabscheuen, ist immer auch das Eigene. Das, was uns am meisten an anderen provoziert, ist immer auch die eigene Unzulänglichkeit. Und mancher „Kulturkampf“, der derzeit so heftig und so verletzend geführt wird, hat genau darin seine Wurzeln.
Wir halten’s nicht gut aus, das Gegenüber so zu nehmen, wie es ist: als ein verängstigtes, verzweifeltes, um Ansehen peinlich bemühtes Wesen, das so gar nicht viel anders ist als man selbst.
Und all die Maskeraden, mit denen wir uns umgeben und schmücken, können doch nicht den Mangel verbergen.

Im Licht des Evangeliums
Im Licht des Evangeliums sehen wir das und erkennen:
Es gibt keine Reinheit, es gibt keine Heiligkeit von Menschen, die nicht durchmischt, durchwoben, durchtränkt wäre von Anmaßung, von Neid, von Angst.
Und alle Idealisierungen blenden aus, was als dunkle Seite zu allem menschlichem Leben gehört:
Wo Leben ist, ist Tod.
Wo Segen ist, ist Fluch,
Wo Frömmigkeit ist, lauert die Rechthaberei.
Wo reine Liebe gepredigt wird, ist Gewalt nicht fern. Und wo das authentische Leben gefeiert wird, da feiert die Selbstinszenierung fröhliche Urstände.
Nichts von dem, was wir tun, ist rein und lauter. Nichts von dem, was wir sind, ist frei von Widerspruch.
Ist das Evangelium? Kann das Evangelium, gute Botschaft, sein? Oder ist das doch so fremd, so anstößig, dass wir lieber die Ohren zuklappen?
Ausschließen kann ich das natürlich nicht. Aber ich will dafür werben, die Anstößigkeit dieser Rede auszuhalten. Zumindest für einen Augenblick.

Gottes Zorn
Liebe Gemeinde, der Zorn Gottes ist die Kehrseite seiner Leidenschaft für uns Menschen. Sein Zorn über das, was ist, gibt unserem Unbehagen an dem, was ist, einen starken Rückhalt. Es ist nicht gut, wie es ist. Aber wir können’s eben auch nicht gut machen. Und unsere Versuche, die großen Probleme zu lösen, schaffen neue, ebenso unlösbare Probleme. Was kann dann helfen?

Gottes Güte leitet mich zur Umkehr
Paulus sagt: Nur das Eingeständnis, dass es mit unserer Kraft nicht getan ist. Nur mit der Erkenntnis, dass ich nicht besser bin als meine Mitmenschen. Auch nicht besser als die ganz und gar unsympathischen. Auch nicht besser als die Väter und Mütter.
Das zu erkennen, ist der erste Schritt der Umkehr. Denn nicht der Zorn Gottes treibt mich zu dieser Erkenntnis. Sondern die Güte Gottes. Seine Gnade, mit der er nach mir sucht und meinen Mangel ausfüllt. Seine Geduld, seine Langmut, mit der er mich, aber auch diese Welt trägt und erträgt.
„Als ich es wollte verschweigen, da verschmachteten meine Gebeine…“, sagt der Psalmist. Das Reden, das Bekennen, das Eingestehen, dass ich auf Gottes Gnade angewiesen bin, das ist das Ende des Versteckspiels. Das ist der Beginn des neuen Lebens.

Umkehr ist Leben, Heimkehr, Freude
Aus solchem Bekennen aber wächst Freude. Und deshalb ist Buße auch nicht etwas Trauriges, sondern etwas Fröhliches. Wie ein Lebenselixier. Deshalb ist Buße ein Angebot, das aus Todesverstrickung ins Freie führt.
Gottes Güte treibt uns zur Umkehr, die uns erkennen lässt, wer wir sind und uns zugleich Perspektiven für das Leben eröffnet.
Umkehr ist Heimkehr. Ist Rückkehr. Ist Versöhnung mit Gott und Aussöhnung mit uns und unseren Nächsten.
Umkehr ist Leben.
Es ist an uns, welchen Weg wir wählen. Ob wir weitermachen wie immer. Als hilflos Getriebene. Oder ob wir’s anders machen. Die Mechanismen der Angst und der Gier unterbrechen. Das Richten versuchen zurückzustellen. Versuchen den anderen, die andere mit den Augen Gottes zu sehen.
Und uns klarmachen: Das ist nicht eine einmalige Geschichte. Sondern eine Lebensaufgabe.
Denn unser ganzes Leben sei Buße, so wie es unser Herr und Meister gesagt hat: Tut Buße.
Amen.

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