1. Sonntag nach Epiphanias (10. Januar 2016)

Autorin / Autor:
Pfarrer Jochen Maurer, Stuttgart [Jochen.maurer@elkw.de]

Römer 12, 1-3; 12, 4-8

Am WendepunktWir sind am Wendepunkt.
Liebe Gemeinde:
Das mag ein wenig zu gewichtig klingen.
Aber gleich drei Verknüpfungen kann ich dafür benennen.

Zum Einen:
Advent ist die Zeit der Vorbereitung und Ausrichtung auf Gottes Kommen und gleichzeitig sehen wir die Not und Bedürftigkeit auf unserer Seite – im zunehmenden Licht der Kerzen.
Das Wesen des Christfestes ist dagegen die Freude an dem großen Geschenk, das in so unscheinbarem, ja armseligem Gewand begegnet, am Kind in der Krippe, im schummrigen Schein der Hirtenlaternen.
Epiphanias: Die Pracht der königlichen Gaben Weihrauch, Myrrhe und Gold, dazu der exotische Schein der Sternkundigen aus dem Morgenland rückt die kleine Familie im Stall in einen anderen, himmlischen Glanz: Der Morgenstern ist aufgedrungen – das Licht leuchtet in der Finsternis!
Der 6. Januar – Wendepunkt, an dem wir unser Gesicht dem Krippenkind zuwenden, dem gütigen Strahlen von Gottes Angesicht hinhalten.

Zum Zweiten:
Die schöne Weihnachtszeit – sie ist im Schwinden, es bleiben uns nur noch wenige Wochen, viele Christbäume sind bereits aus den Kirchen und Stuben verschwunden. Wir spüren schon den kühlen Zug der Passion – keine Geborgenheit in der Krippe ohne die Todesangst des Kreuzigungskandidaten – kein König der Juden ohne Dornenkrone!
Nun ist es in der Welt, dieses Licht – und die Welt wird’s ergreifen und kurzen Prozess mit ihm machen – am Wendepunkt vom himmlischen Ursprung zur Vollendung seines weltlichen Schicksals wollen wir uns an diesem Schein freuen, solange wir ihn haben.

Und schließlich hören wir heute, wie Paulus den Wendepunkt markiert:
In den Kapiteln 1-11 des Römerbriefs hat er den Christen in Rom die Bedürftigkeit aller Menschen auseinandergesetzt – egal, ob sie fromme Juden oder philosophisch gebildete Griechen sind, ungläubige Zweifler oder ob sie gleichgültig in den Tag hinein leben.
Alles, vor allem aber das Rätsel, warum ausgerechnet das jüdische Volk in seiner Mehrheit nichts findet an Paulus´ Botschaft vom Evangelium, läuft am Ende auf ein großes, staunenswertes Geheimnis zu.
Das ist der Wendepunkt.
Und von dort aus geht Paulus nun ins wirkliche Leben seiner HörerInnen.

„Ich ermahne euch nun, liebe Brüder,
durch die Barmherzigkeit Gottes,
dass ihr eure Leiber hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig ist.
Das sei euer vernünftiger Gottesdienst.
Und stellt euch nicht dieser Welt gleich,
sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes,
damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist,
nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene.
Denn ich sage durch die Gnade, die mir gegeben ist, jedem unter euch,
dass niemand mehr von sich halte, als sich's gebührt zu halten,
sondern dass er maßvoll von sich halte,
ein jeder, wie Gott das Maß des Glaubens ausgeteilt hat.“

Ich ermahne euch nun – schriftgelehrte Erinnerung, Pflicht und Kür zu unterscheiden„Ich ermahne euch nun“ – das mag manche von uns befremden.
Bisher, lieber Paulus, war doch alles ganz schön, freilich auch ziemlich kompliziert.
Und jetzt, wo du praktisch werden möchtest – da kommst du uns mit Ermahnungen?

Liebe Schwestern und Brüder:
Es ist wichtig zu verstehen, was Paulus da meint – und was auch nicht.
Die Ermahnung – sie zielt auf unser Gedächtnis ab; es ist nicht die Haltung eines moralischen Besserwissers, der es immer schon gewusst und lautstark auch allen gesagt hat, was zu tun und zu lassen ist.
Gottes Barmherzigkeit – erinnert euch daran!

Und erinnern – das ist für Paulus, studierter Schriftgelehrter, viel mehr, als wir meist darunter verstehen: Wenn wir uns erinnern, dann sind da oft blasse Farben; manchmal große Lücken – so begegnen wir unserem Leben in den Episoden, die uns so fern gerückt sind.
Erinnern: Dazu gehört für Paulus seit früher Kindheit der Sederabend zu Pessach, den er gefeiert hat, als wäre er eines der Kinder Israels, die an diesem Abend mit Mose aus der Sklaverei des Pharao in die Freiheit ziehen. Genau das bringt ihn, den Apostel des Evangeliums dazu, alle, die Abendmahl feiern, an den Tisch des Herrn zu setzen, als wären sie dabei in der Nacht, da er verraten ward.

Und genauso, wie das Abendmahl uns mit Jesus an diesem Abschiedsabend verbindet und gleichzeitig macht – so ist es für Paulus ja auch mit der Taufe: „So sind wir ja mit ihm begraben durch die Taufe in den Tod, damit, wie Christus auferweckt ist von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters, auch wir in einem neuen Leben wandeln“ – das schreibt Paulus wenige Kapitel zuvor.

Die Barmherzigkeit Gottes – für Paulus steht sie ganz am Anfang und auch das letzte Wort wird ein Wort der Barmherzigkeit Gottes sein.
Das heißt: Barmherzigkeit Gottes – das steht vor allem, was ich tue oder lasse; ja: Ein wenig ist sie der große Schabbat, der uns zum Nichtstun befreit – weil alles, auf das es ankommt, schon getan ist: Lasst die Pflicht und verlegt euch auf die Kür, wenn es ums wirkliche Leben geht.

„Was krumm ist, soll gerade werden“ – das Geheimnis der schöpferischen Barmherzigkeit„Ihr gedachtet, es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte, es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk.“
Vielleicht haben Sie erkannt, wer da spricht: Josef sagt das seinen Brüdern, die fürchten, nach dem Tod des Vaters Jakob, von Josef, dem Opfer ihrer üblen Tat, zur Rechenschaft gezogen zu werden.
Und wer von uns wüsste nicht, wie berechtigt diese Sorge ist, wie süß Rache sein kann, wenn man alle Macht und die, die einem übel mitgespielt haben, in der Hand hat?
Aber Josef beweist Großmut:
Denn leibhaftig hat Josef die schöpferische Barmherzigkeit Gottes durchlebt: Was krumm ist, soll gerade werden! Die Brüder hatten Böse im Sinn – aber ganz am Ende hat Gott es so gewendet, dass aus diesem Bösen Gutes für alle gewachsen ist.

„Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und wie unerforschlich seine Wege!“
Wir hören Paulus staunen über das Geheimnis der Barmherzigkeit Gottes, über sein unergründliches Wesen: Denn die unbedingte Entschlossenheit des Schöpfers zur Liebe seiner Geschöpfe führt noch einen Schritt weiter. Die Barmherzigkeit Gottes nimmt Gestalt an – in Jesus Christus! Wer diesem Menschen begegnet, trifft auf Gottes Herrschaft und deren Gesetzmäßigkeiten. Und diese stehen den Regeln, nach denen Menschen einander mitspielen, entgegen. Kein Wunder, dass sich die Herren, die die Spielregeln dieser Welt bestimmen, herausgefordert fühlen – und kurzen Prozess mit diesem König der Juden machen.
Und genau hier setzt Gottes schöpferische Barmherzigkeit an: Der König der Juden – was der römische Statthalter spöttisch und abschätzend übers Kreuz hat hängen lassen – wird geheimnisvoll zur letzten Wahrheit: Gegen die erklärten Absichten aller an Prozess und Tod Jesu Beteiligten!

Liebe Geschwister:
Das ist die Pflicht, die keine und keiner von uns zu erfüllen hat.
Die Erlösung der Welt vollzieht sich in dieser geheimnisvollen Spur, die das Wesen Gottes durch die Geschichte Israels und im Weg Jesu Christi ein für alle Mal genommen hat – und siehe, es war sehr gut! Das Wesen Gottes – es ist immer neu und unverfügbar und ist nichts anderes, als seine schöpferische Barmherzigkeit.
Und wir? Wir haben allen Grund, uns daran zu freuen – und sind frei zur Kür!

Ich – ein Opfer!? Von der Hingabe in der KürKür – das Wort suggeriert Leichtigkeit, Mühelosigkeit, ein Leben ohne (Über-)Forderung. Aber wer jemals eine Sportart oder Kunst mit Anspruch betrieben hat, weiß, dass es genau die Einfachheit und Schnörkellosigkeit in der Ausführung ist, die in den Augen der Jury die Note 10 verdient – und das ist das Anspruchsvollste überhaupt.

Ja: wie unbarmherzig wäre der schöpferische Gott, wenn er uns zur Tatenlosigkeit verurteilen würde!
Paulus erinnert an Gottes Barmherzigkeit: sie steht am Anfang – und auf sie läuft alles hinaus. Die Pflicht ist getan – und nun ist alles frei für unsere Kür: Unsere Kreativität zu einem dankbaren Leben, zur Teilhabe, zur Weitergabe von Gottes schöpferischer Barmherzigkeit.
Und Grenzen gibt es da wenige, Sie wissen schon: „Alles ist möglich dem, der glaubt.“

Interessant ist: Paulus sagt nicht „Kür“, sondern gebraucht den Begriff des Opfers.
„Gebt eure Leiber hin als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig ist.“
Ein Opfer bringen – das war in der antiken Welt der Weg, wie ein Mensch Gott etwas geben kann: als Ersatz und Wiedergutmachung, um einer Bitte Nachdruck zu verleihen oder als Dank für Rettung aus der Not.
Möglich, dass in extremen Ausnahmefällen Menschen ihre Kinder geopfert haben – aber in der Regel wurden die Forderungen der Gottheit durch Opfertiere, die als Ganzopfer verbrannt wurden, zufriedengestellt.

Sich selbst zum Opfer brachten Menschen, die sich in den Dienst Gottes stellten und ihm ihr Leben widmeten: als Priester, Leviten, als Einsiedler oder im Kloster. Nicht die eigenen Pläne verfolgen, sondern für Gott da sein.
Vieles davon schwingt mit, wenn wir heute unsere Opfer bringen: Verzichten, einen Verlust erleiden – Geld oder Sachen drangeben, und sehr oft, wenn Menschen ihr Leben lassen – oft für nichts.
Paulus ruft seine LeserInnen auf, sich mit Haut und Haar, mit all ihren Beziehungen und Verbindungen zu den Menschen und der Welt um sie herum als ein lebendiges Opfer Gott hinzugeben.
Nichts abgeben, auf nichts verzichten – aber alles heiligen, wie es Gott gefällt – Kür eben, die sich der schöpferischen Barmherzigkeit Gottes verdankt und ihm so alles zurückgibt.

Das ist schön, das ist die „Erneuerung des Sinnes“, zu der Paulus einlädt und die sich den Gesetzmäßigkeiten dieser Welt entgegenstellt.
Zu Weihnachten, auch in der Passionszeit, vor allem zu Ostern und an jedem Sonntag begegnen wir dem Geheimnis der schöpferischen Barmherzigkeit Gottes – um mit unserer Kür darauf zu antworten – das ist der vernünftige Gottesdienst, zu dem Paulus uns an diesem heutigen Wendepunkt einlädt.
AMEN

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