1. Sonntag nach Epiphanias (09. Januar 2022)

Autorin / Autor:
Pfarrer i.R. Frieder Grau, Plochingen [frieder.grau@web.de]

Jesaja 42,1-9

IntentionDer Gottesknecht richtet Geknickte behutsam auf. Mehr noch: Er schützt das Lebensrecht derer, die nicht mehr richtig auf die Beine kommen. Und wir dürfen dabei mitwirken. Am Ende wird alles recht werden.

42,1 Siehe, das ist mein Knecht, den ich halte, und mein Auserwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat. Ich habe ihm meinen Geist gegeben; er wird das Recht unter die Heiden bringen. 2Er wird nicht schreien noch rufen, und seine Stimme wird man nicht hören auf den Gassen. 3 Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen. In Treue trägt er das Recht hinaus. 4 Er selbst wird nicht verlöschen und nicht zerbrechen,
bis er auf Erden das Recht aufrichte; und die Inseln warten auf seine Weisung.
5 So spricht Gott, der HERR, der die Himmel schafft und ausbreitet, der die Erde macht und ihr Gewächs, der dem Volk auf ihr den Atem gibt und Lebensodem denen, die auf ihr gehen: 6 Ich, der HERR, habe dich gerufen in Gerechtigkeit und halte dich bei der Hand. Ich habe dich geschaffen und bestimmt zum Bund für das Volk, zum Licht der Heiden, 7 dass du die Augen der Blinden öffnen sollst und die Gefangenen aus dem Gefängnis führen und, die da sitzen in der Finsternis, aus dem Kerker.
8 Ich, der HERR, das ist mein Name, ich will meine Ehre keinem andern geben noch meinen Ruhm den Götzen. 9 Siehe, was ich früher verkündigt habe, ist gekommen. So verkündige ich auch Neues; ehe denn es sprosst, lasse ich’s euch hören.


Es wird recht werden, liebe Gemeinde, es wird alles recht werden. Auch wenn jetzt noch viel – viel zu viel – Unrecht ist: in unseren persönlichen Beziehungen, zwischen Nord und Süd, gegenüber der Schöpfung, manches Unrecht auch in der Kirche. Aber: Es wird recht werden auf der ganzen Erde bis zu den hintersten Inseln. Denn er, der Gottesknecht, trägt das Recht hinaus unter alle Völker: von Israel bis Palästina, von Russland bis in den Kongo, von meinem Wohnzimmer bis zum Flüchtlingslager auf Lesbos. Das verspricht Gott.

Heute stellt uns Gott seinen Knecht vorKnecht? Niemand ist gerne Knecht. Der Knecht hat wenig Rechte. Aber dieser Knecht ist von Gott auserwählt. Gott hat an ihm Wohlgefallen, hat ihn mit seinem Geist ausgestattet, hält ihn bei der Hand, behütet ihn, hat ihm einen besonderen Auftrag übertragen. Der Knecht vertritt Gott. Wenn jemand zweifelnd fragt: Wo ist denn Gott? Hier ist er, im Gottesknecht. Er geht ganz in seinem Auftrag auf. Das ist ja das Wesen eines Knechts, dass er das ist, was ihm aufgetragen ist. Und diesem Gottesknecht ist aufgetragen, das Recht hinauszutragen in alle Welt.
Jeder Mensch soll Recht bekommen! Gott sei Dank leben wir in einem Rechtsstaat. Es gibt Grundrechte, Kinderrechte, Arbeitnehmerrechte, eine Behindertenrechtskonvention. Aber vielen Menschen wird das Recht verweigert, manchmal auch bei uns. Nur da, wo ein Mensch Recht bekommt, kann er Mensch sein. Man kann die menschliche Würde nicht tiefer verletzten als dadurch, dass man einem Menschen, einer Gruppe, einem Volk das Recht verweigert. Die Aufgabe dieses Gottesknechtes ist bitter nötig.
Dabei geht dieser Knecht leise, behutsam, unaufdringlich vor. Das Recht durchsetzen kann man nicht mit Gewalt oder mit lautem Getöse. Auch im Christentum meinte man zu oft, das Gottesrecht mit Gewalt und Druck durchsetzen zu müssen. Oder man will mit lautem Getöse und spektakulären Auftritten auf Gott aufmerksam machen. Welch schlimme Missverständnisse! Der Gottesknecht kommt leise zu den Menschen. Und zwar zu den Geknickten und zu denen im Dunkel zuerst.

Diese Mühseligen und Beladenen hat Gott besonders im BlickDa stand einer aufrecht wie ein aufgerichtetes Schilfrohr. Dann ist der Sturm zu stark. Das Schilfrohr knickt ab. Der früher Starke schleicht geduckt, ängstlich durchs Leben, eine ge-brochene Existenz. Er zer-bricht zwar noch nicht, aber was soll man mit einem geknickten Schilfrohr anfangen? Eine Stütze ist er jedenfalls nicht mehr. Oder da macht sich ein Flüchtling voller Hoffnung auf den Weg nach Europa; aber dann bleibt er an der Grenze hängen. Es geht nicht weiter. Oder da ist eine Frau voller Leistungskraft und Lebensfreude. Dann schleicht sich der Burnout ein. Lebenskraft und Gottvertrauen erlöschen. Der Docht glimmt nur noch. Es muss nicht mehr viel kommen, dann verlöscht er vollends. Die bisher Strahlende ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. Sie erntet mitleidige Blicke, wo früher Anerkennung war. Manchen Geknickten sieht man’s an. Manche verbergen die Brüche des Lebens hinter der Fassade der Normalität, glimmen aber innerlich ohne Hoffnung vor sich hin. Manche kommen äußerlich gut zurecht mit Coronabeschränkungen, mit digitaler Kommunikation, mit immer neuen An- und Absagen, mit mahnenden Worten von Virologen, aber die Lebensfreude glimmt nur noch. Die Zuversicht in Gott und die Welt ist angeknackst.
Der Gottesknecht hat den Auftrag, behutsam das Licht der Hoffnung wieder anzufachen. Leise richtet er Geknickte auf. Inkognito besucht er ein Flüchtlingslager. Verständnisvoll führt er einen Menschen aus dem Gefängnis seiner Corona-Angst und signalisiert: Es kommt der Tag, da wir uns wieder umarmen. Zart öffnet er Augen, vor Tränen blind geworden. Einfühlsam stärkt er bei Zweifelnden das nur noch glimmende Gottvertrauen. Nachhaltig kämpft er fürs Recht, wenn jemand Unrecht geschah.
Gott sei Dank gibt es Menschen, gibt es Gottesknechte und -mägde, die daran mitarbeiten, Menschen wieder aufzurichten – in der Seelsorge und Diakonie unserer Kirche zum Beispiel: Eine Frau mit Depressionen findet durch Therapie zu neuer Lebensbejahung. Der straffällig Gewordene erhält durch Resozialisierung eine Chance. Wer mit einer Behinderung lebt, hat durch Inklusion teil am Leben der Gemeinschaft. Wer als Flüchtling Schutz sucht, wird im Ort integriert. Wer alt geworden ist, soll selbst bestimmt leben bis ins hohe Alter. Die rechtlose indische Kleinbäuerin wird durch Brot-für-die-Welt in ihren Rechten unterstützt. Wir könnten die Reihe fortsetzen. In der Nachfolge des Gottesknechtes können wir nicht genug dafür tun, dass Menschen ihr Recht bekommen, sich aufrichten und ihre Lebenskraft neu leuchtet.

Aber was ist, wenn ein Geknickter nicht mehr auf die Beine kommt?Wenn der glimmende Docht sich beim besten Willen nicht mehr zu neuem Leuchten anfachen lässt? Soll man das geknickte Rohr dann nicht ganz zerbrechen? Denn Funktion hat es keine mehr. Soll man das glimmende Licht dann nicht vollends ausblasen und durch ein neues ersetzen? Denn außer Ruß produziert es nichts.
Da, liebe Gemeinde, sind wir bei der Spitze des Auftrags dieses Gottesknechts: Auch wer angeknackst bleibt, darf leben. Er soll nicht zerbrochen werden. Auch die fast erloschene Lebenskraft soll nicht ausgeblasen werden. Der Gottesknecht schützt sie. Da schreitet Genesung nach Krankheit ein Stück voran. Aber dann stockt sie auf bescheidenem Niveau. Da lässt sich eine Depression auch durch Therapie nicht vertreiben. Da bleibt Coronaangst auch im neuen Jahr. Da hat jemand so starke Einschränkungen durch eine Behinderung, dass Inklusion kaum möglich ist. Da kann ein Mensch sein Leben nicht mehr „selbst bestimmt bis ins hohe Alter“ gestalten; Demenz hat seine Selbstbestimmung zerstört. Da kriegt ein Strafgefangener die Kurve in ein bürgerliches Leben nicht; er verbleibt im Gefängnis. Da kann jemand kaum mehr beten; das Flämmchen seines Gottvertrauens lässt sich einfach nicht zum Leuchten bringen.

Gerade auf solche Menschen wirft der Gottesknecht ein neues LichtSie sind nicht mehr dadurch definiert, dass sie geknickt sind, sondern dadurch dass der Gottesknecht sie schützt und für ihr volles und besonderes Lebensrecht eintritt. Wenn wir mit einem Menschen nichts mehr anzufangen wissen – und wenn ich mit mir selbst nichts mehr anzufangen weiß – dann ist Gottes Treue noch lange nicht am Ende. Gerade mit solchen Menschen verbündet er sich. Mit ihnen schließt er seinen Bund. Gerade für sie gilt: Es wird recht werden. Nicht was sie nicht mehr leisten können, macht ihre Identität aus, sondern dass Gott ihnen seinen Lebensatem eingehaucht hat. Ihnen zuerst gilt das Gottesrecht. Solches Rechtsverständnis als Recht der Schwachen ist für Gott Ehrensache. „Ich, der HERR ist mein Name, will meine Ehre keinem anderen geben“, versichert er. Genau so will er Gott sein. Er verbindet sein Gottsein mit diesem Gottesrecht und Gottesknecht. So ist er Gott, oder er ist nicht Gott.
Es ist die besondere Aufgabe der Diakonie, das Lebensrecht solcher Menschen zu schützen, die sich kaum mehr aufrichten lassen. Es ist die besondere Aufgabe der Seelsorge, für das Recht solcher einzutreten, deren Glaube nur noch glimmt, die kaum mehr beten können, deren Gottesbeziehung geknickt ist. Sie sind geliebt. Im Namen Gottes!

Es wird recht werden, liebe Gemeinde. Schon jetzt? Bald?Gottes Verheißungen erfüllen sich selten so direkt wie zugesagt und wie gewünscht. Das ging schon dem Volk Israel so. Das Recht ist noch lange nicht bis in die hintersten Winkel der Erde gelangt. Es gibt noch viel zu viele Geknickte. Der Gottesknecht ist noch unterwegs und nicht am Ziel. Das Neue, von Gott verkündigt, ist vermischt mit viel Altem.
Und doch, liebe Gemeinde: Gott wird sein Recht der Liebe aufrichten; alles wird recht werden. Diese Verheißung entfaltet bis heute eine ungeheure Kraft. Gerade für Mühselige und Beladene, für Geknickte und fast Erloschene. Unzählige haben sich an diesem Versprechen festgehalten und aufgerichtet. Auch zu uns ist’s heute gesagt, damit im neuen Jahr Hoffnung nicht schwindet, Liebe nicht erlöscht und Glaube nicht zerbricht.

Bleibt noch die Frage: Wer ist dieser Gottesknecht?Der Prophet? Eine unbekannte Beauftragte? Israel? Sind wir es? Vielleicht ist an allem etwas dran. Für uns Christen schimmert unübersehbar ein besonders beauftragter Gottesknecht durch. In der Taufe hat Gott ihn erwählt: „Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.“ Er ruft die Mühseligen und Beladenen zu sich. Er bringt uns Gottes heilende Gerechtigkeit. Über ihm wurde der Stab gebrochen, sein Lebenslicht wurde ausgelöscht, damit wir leben. Er ertrug das Unrecht der Menschen. Aber gerade dadurch richtet er das Gottesrecht auf. Er macht es für uns vor Gott recht. Durch ihn sagt Gott zu mir: „Du bist mein geliebter Sohn, meine geliebte Tochter.“ Und am Ende wird durch ihn wirklich alles recht werden, auch das, was jetzt noch unrecht und gebrochen ist.
Amen.

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