1. Sonntag nach Trinitatis (07. Juni 2015)

Autorin / Autor:
Professor Dr. Michael Gese, Ludwigsburg [m.gese@eh-ludwigsburg.de ]

Lukas 16, 19-31

Liebe Gemeinde!
Sie lächeln uns von den Titelseiten der Illustrierten entgegen: die Gesichter der Reichen, der Schönen und der Mächtigen. Ob sie nun zur Schickeria gehören, bekannte Filmschauspieler sind, Fußballstars oder Top-Models, einflussreiche Politiker oder Mitglieder eines Königshauses – wir kennen sie mit Namen, sie haben für uns ein Gesicht. Die Armen und Elenden dieser Welt dagegen, sie verschwinden in einer gesichtslosen Masse, und ihre Namen sind uns unbekannt – denken wir etwa an die durch das Erdbeben in Nepal Verschütteten.

Armut hat Gesicht und NamenGenau das Gegenteil ist das hier! Im Gleichnis Jesu bleibt der Reiche gesichtslos und ohne Namen, während der Arme uns mit seinem Namen Lazarus bekannt ist. Wir sehen ihn vor uns, wie er da liegt und sich kaum noch rühren kann vor lauter Hunger und Not. Wie der Magen knurrt, die Haut geschunden und voller Geschwüre. So liegt er da vor der Tür des Reichen. Doch er bekommt nichts ab. Er hört nur, wie drinnen die Gläser klirren und man sich mit Champagner zuprostet. Man kann sich vorstellen, wie auf Silbertabletts edle Speisen aufgetragen werden und der Reiche mit seinen Freunden im Luxus schwelgt. Lazarus wäre schon glücklich, wenn er nur mit ein paar Brotkrumen den übermächtigen Hunger dämpfen könnte.

Das Bild vom reichen Mann und armen Lazarus hat für mich bedrängende Aktualität. Nicht nur in Deutschland, auch weltweit geht die Schere zwischen arm und reich immer weiter auf. Wie viele Menschen sterben an Hunger, wo doch für alle genug da wäre – wenn nur die Verteilung stimmte.

Festung EuropaWenn ich mir den Palast des reichen Mannes ausmale, vor dessen Portal der arme Lazarus darbend liegt, muss ich unwillkürlich an die Bilder der letzten Wochen denken: die Festung Europa, vor deren Tore die Flüchtlinge in Seenot treiben.
Natürlich wissen wir von den kriminellen Schlepperbanden, die sie in überfüllten Schlauchbooten aufs offene Meer schicken und dort ihrem Schicksal überlassen. Wir wissen, dass sie ganz bewusst den Tod der Flüchtlinge in Kauf nehmen, um sich an ihrem Elend zu bereichern.
Aber wir spüren auch, dass der Reichtum Europas uns in die Verantwortung nimmt. Europa kann nicht einfach nur die Grenzen dicht machen und den Kopf in den Sand stecken… Doch was ist zu tun? Wie mit den zigtausenden von Flüchtlingen umgehen, die noch auf die Überfahrt warten? Das sind große Herausforderungen.

Das Gleichnis am heutigen Sonntag ist eine Mahnung an uns, sich dieser Situation zu stellen. Das Gleichnis gibt den Armen Gesicht und Namen, so dass wir die Augen nicht länger vor ihnen verschließen können.

Mehr als ein moralischer AppellDoch Jesu Worte sind mehr als ein bloßer moralischer Appell. Hilfe tut not. Aber das ist nicht das Einzige, was Jesus uns sagen will. Nicht umsonst trägt der Arme den Namen Lazarus. Das heißt: „Gott hilft.“ Wo aber hilft denn Gott dem Armen, so könnte man zu Recht fragen. Von Armut und Krankheit gezeichnet, stirbt er. Gottes Hilfe ist da nicht in Sicht. Und wenn dann seine Seele von Engeln in den Schoß Abrahams getragen wird, dann fragt man sich unwillkürlich: Ist das nicht eine Vertröstung aufs Jenseits? Ziemlich befremdlich klingen die Jenseitsvorstellungen in diesem Gleichnis für uns: der Reiche, der jetzt in der Feuerhölle Durst leidet, und der Arme, der jetzt geborgen ist in Abrahams Schoß.

Wenn wir das Gleichnis hätten erzählen müssen, dann hätten wir den Reichtum des Reichen und die Armut des Lazarus anschaulich ausmalen können. Aber die Jenseitsvorstellungen, die wären vermutlich recht blass geblieben. Jesus gibt in seiner Erzählung wieder, wie sich die Menschen seiner Zeit das Jenseits vorgestellt haben. Doch seine Botschaft geht tiefer.

Das Leben – weiter und größerIch frage mich nämlich umgekehrt: Wie verstehen wir unser Leben? Ist es nicht typisch für uns, dass wir uns das Leben nur als die Spanne zwischen Geburt und Tod vorstellen? Haben wir damit nicht den Blickwinkel verengt und die jenseitige Dimension des Lebens ausgegrenzt? Ist das Leben nicht weiter und größer? Ich meine nun nicht, dass wir uns in Spekulationen über das Jenseits verlieren sollten.

Was aber will Jesus uns mit diesem Gleichnis sagen? Er will uns die Augen öffnen, dass sich das Leben nicht nur auf die diesseitige Perspektive beschränkt. Denn der Reichtum an sich wird in diesem Gleichnis nicht verteufelt – Jesus spricht davon, dass der Reiche das Gute schon in diesem Leben empfangen habe.
Was Jesus dagegen kritisiert, ist der Umgang mit dem Reichtum. Denn das ist die Gefahr, dass Reichtum uns den Blick für jene andere Dimension des Lebens verschließt, die hinter den Dingen liegt. Reichtum gaukelt uns vor, die Erfüllung des Lebens in irdischen Dingen zu suchen. So zu leben, als sei das Streben nach Annehmlichkeit und Wohlleben der Sinn des Daseins.
Reichtum macht ja nicht immer nur glücklich. Reichtum kann auch hartherzig machen oder ängstlich, unfrei und einsam. Manchmal kann sich ein Leben in Saus und Braus so leer und hohl anfühlen, weil dann nichts mehr bleibt, wofür es sich zu leben lohnt. Es fehlt der Sinn, wenn sich Reichtum nur im Innerweltlichen erschöpft.

Was Jesus in seinem Gleichnis auf die Zeit vor und die Zeit nach dem Tod verteilt, das gilt eigentlich schon hier und jetzt: Da ist eine unüberbrückbare Kluft zwischen einem Leben, das nur auf die Befriedigung von Wünschen gepolt ist und einem Leben, in dem es noch eine andere Dimension gibt. Das ist die entscheidende Frage an uns, ob wir uns herausrufen lassen, ob etwas von der jenseitigen Dimension in unser Leben hier und jetzt hineinragt. Denn dann ist die Rede von der jenseitigen Welt nicht bloß eine Drohung oder eine Vertröstung.

Gott hilft– Das ist der Name des Lazarus. Und das ist zugleich die Botschaft Jesu an uns.
Gott hilft – davon hat der Reiche nichts gespürt, obwohl Gott ihm doch so viel geschenkt hat. Er nahm seinen Reichtum völlig selbstverständlich. Erst dann, als es ihm schlecht geht, wacht er auf. Da merkt er, worauf es angekommen wäre im Leben. Er möchte, dass man seine fünf Brüder warnt.
Ich finde die Antwort so entwaffnend: „Sie haben doch Mose und die Propheten. Da steht doch alles drin. Sie brauchen keinen zusätzlich, der sie warnt. Auch keinen, der von den Toten aufersteht, um ihnen vom jenseitigen Leben zu künden.“ Sie müssten nur Augen haben zu erkennen und Ohren zu hören, so möchte man ergänzen.

Gott hilft – sagt Jesus zu uns heute. Liegt es nicht auch an unserer Wahrnehmung, ob wir das Wirken Gottes in unserem Leben erkennen? Dass wir bemerken, wo er uns bereits geholfen hat? Ob wir spüren, wie er uns ruft?
Ich möchte damit keine Notlage klein reden und behaupten, wir hätten nur Gottes Hilfe darin noch nicht erkannt! Das wäre vermessen. Es gibt die Not und das Leiden daran, dass man von Gottes Hilfe nichts spüren kann.

Ich denke: Jesus wendet sich in diesem Gleichnis dagegen, dass man sich mit seinen irdischen Gütern genug sein lässt und von Gott nichts mehr erwartet. Dass da keine Sehnsucht, kein Verlangen mehr da ist, dass das Herz abgestumpft und verhärtet ist und man die Not des anderen nicht mehr sieht. Dass wir etwas von Gottes Hilfe erwarten und nicht nachlassen, auf ihn zu hoffen, darauf kommt es an. Das wird unser Herz auch weich machen und offen für das Anliegen anderer.

Für mich kommt das in einer jüdischen Geschichte zum Ausdruck, die ich sehr mag:

Einer kommt zum Rebbe und erzählt: „Rebbe, es ist entsetzlich. Kommst du zu einem Armen – er ist freundlich, er hilft, wenn er kann. Kommst du zu einem Reichen – er sieht dich nicht einmal! Was ist das nur mit dem Geld!“
Da sagt der Rebbe: „Tritt ans Fenster! Was siehst du?“
„Ich sehe eine Frau mit einem Kind an der Hand. Ich sehe einen Wagen, der fährt zum Markt.“
„Gut. Und jetzt tritt hier zum Spiegel. Was siehst du?“
„Nu, Rebbe, was werd‘ ich sehen? Nur mich selber.“
Darauf der Rebbe: „Siehst du, so ist es. Das Fenster ist aus Glas und der Spiegel ist aus Glas. Kaum legst du ein bißchen Silber hinter die Scheibe – schon siehst du nur noch dich selber!“

Herr, lass unser Leben durchscheinend werden für dich,
dass wir unsere irdischen Tage nicht damit verbringen,
uns selbst zu bespiegeln, sondern dass wir dich erkennen
im Gesicht unserer Schwestern und Brüder. Amen.

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