1. Sonntag nach Trinitatis (18. Juni 2017)

Autorin / Autor:
Pfarrerin i.R. Monika Schnaitmann, Tübingen [G.Schnaitmann@gmail.com ]

Johannes 5, 39-47

Ein schwer kranker Patient bedankt sich bei der Krankenschwester für die aufopfernde Pflege, die sie ihm seit langem angedeihen lässt. „Sie müssen sich doch nicht bedanken“, sagt diese zu ihm, „das tue ich doch alles für Jesus!“ – „Ach, und ich habe gedacht, sie täten es für mich.“
Welch ein Irrtum! Hier der Kranke in seiner Bedürftigkeit, der glaubte, es ginge um ihn. Da die Pflegerin, die es nicht ihm, sondern Jesus recht machen wollte.

ZeitsprungEs könnte sein, dass Jesus ihr gegenüber dieselben harschen Worte gebraucht hätte, wie damals gegenüber der jüdischen Obrigkeit.

(Verlesung des Predigttextes: Johannes 5,39-47)
Was war geschehen? Jesus kommt an den Teich Bethesda. Dort liegt ein chronisch kranker Mensch. 38 Jahre lang leidet er – das ist nicht nur eine Episode, die vorübergeht, es ist ein ganzes Leben. Er hat nur das eine – verständliche – Ziel, diesen Ort wieder verlassen zu können. Dazu diente der Gang zum heilenden Wasser immer dann, wenn es sich bewegte. Die Menschen damals erklärten sich diese Bewegung und die Heilungen damit, dass ein Engel das Wasser berühre und die Menschen aufgrund seiner Gegenwart gesund würden. Eigentlich ein schönes Bild: Da kommt Energie, helfenden Kraft aus Gottes Welt, die Heilung schenkt.
Aber die Kehrseite – das weniger schöne Bild ist, wie sie sich drängeln, um rechtzeitig eintauchen zu können. Nur die schnellsten hatten eine Chance.
Doch Jesus hat diesen einen Menschen im Blick, sieht seine besondere Not und stellt eine überraschend einfach Frage: „Willst du gesund werden?“ Damit wird das Lebensthema dieses Menschen angesprochen, das Thema, um das sich seine Gedanken ständig drehen und das ihn nicht loslässt. Er fordert den Menschen auf, das Krankenlager zu verlassen und sein Bett fort zu tragen. Jesus befindet sich im Haus der Barmherzigkeit und er tut Barmherzigkeit – am Sabbat!
Welch Frevel gegen die Zehn Gebote, welch Frevel gegen die Heilige Schrift! Der Aufschrei der jüdischen Obrigkeit ist groß, nimmt man doch für sich in Anspruch, die oberste Instanz dafür zu sein, wie die Schrift richtig zu lesen sei. Statt sich zu freuen über die Gesundung, klagen sie an: Am Sabbat ist Heilen verboten und Betttragen natürlich auch. Auch der Geheilte ist, wie der Patient jener Krankenschwester, nicht gemeint.

Das Streitgespräch geht weiter – mit unsThematisch überladen ist der Predigttext, und er birgt Sprengstoff in sich: die sich zuspitzende Kontroverse zwischen der johanneischen Gemeinde und dem orthodoxen rabbinischen Judentum, menschliche und göttliche Ehre, das Vermächtnis von Jesus und Mose. Doch es sind keine Verse, die zu einer grundsätzlichen Diskussion über Johannes und sein Verhältnis zu den Juden einladen.

Das Streitgespräch nach der Heilung am Teich Bethesda geht weiter – weiter aber nicht mit der gesetzestreuen jüdischen Obrigkeit, es geht weiter mit uns! Hätten wir uns über die Heilung gefreut. Würden wir uns über die Heilung heute freuen?
Was passiert mit und in uns, wenn Sicherheiten und Gewissheiten ins Wanken kommen, wenn wir uns neu orientieren müssen? Immer wieder verlieren Menschen von einem Moment auf den anderen alles, was ihnen einmal Sicherheit gab. Der Boden wankt, der doch so tragfähig schien. Der Tod eines geliebten Menschen, eine schwere Erkrankung, der Verlust des Arbeitsplatzes. Und wieder andere verlieren ihre Sicherheit allmählich – eine Freundschaft, eine Beziehung, die Ehe ist schleichend zerbrochen, das Gespräch mit den Kindern abgebrochen.
Und dann hin und wieder das gut gemeinte Bedauern: das hat er oder sie doch nicht verdient. Er oder sie ist doch so christlich, hat in der Bibel gelesen, ist in die Kirche gegangen. Doch aus der Bibel eine Versicherung zu machen, trägt nicht durchs Leben.

„Ihr sucht in der Schrift, denn ihr meint, ihr habt das ewige Leben darin; und sie ist's, die von mir zeugt.“

Wir haben doch sowohl „die Juden“ und ihre Haltung als auch „Jesus“ in uns. An zwei Begriffen möchte ich das deutlich machen: Ehre und Liebe. Wir sind die, die Ehre und Vergewisserung suchen, und doch auch die, die sich nach Liebe sehnen und Liebe weitergeben.

Die Jagd nach EhreJesus streitet gegen das, was die anderen für Glauben halten, ein Glaube, der verbunden ist mit der Frage nach der eigenen Ehre, mit Geltungsbedürfnis und Kontrolle.
Wir möchten doch erkannt und anerkannt werden, so wie wir sind mit allen Fehlern und Schwächen, als dem Zulänglichen und Misslungenen. Doch neigen wir eher dazu, ein Idealbild von uns aufzubauen, dem nachzujagen, was in der Gesellschaft augenscheinlich zählt: Leistung, Erfolg, Lob, Sieg und Ehre.
Helmut Goes hat das in einer Predigt über diesen Text am 17. Juli 1955 in Stuttgart-Uhlbach so formuliert:

„Es ist eine förmliche Jagd nach Ehrungen von Menschen, nach Ehrenurkunden, Ehrenbürgerschaften, Ehrenmitgliedschaften, Ehrendoktoren, Siegerehrungen, Heldenehrungen, Totenehrungen, Ehrentiteln und Ehrenstellen, Ehrenpokalen und Ehrenbezeigungen. Und es ist das reinste Gefängnis von Ehrsucht und Ehrgeiz, Ehrenkäs, Ehrenhändeln und falschen Ehrbegriffen, in das wir uns selbst begeben, in dem wir die von Gott verliehene Ehre ausschlagen und dafür auf das gegenseitige Beehren und Sichbeehren-lassen angewiesen sind.“

Jesus sagt:
„Wie könnt ihr glauben, die ihr Ehre voneinander annehmt, und die Ehre, die von dem alleinigen Gott ist, sucht ihr nicht?“

Unser Text ist eine Einladung, dass wir das lassen dürfen. Wir haben schon längst unsere Ehre, und zwar eine bessere Ehre als die, die wir uns selber zulegen oder nehmen können. Gottes Ehre ist die uns verliehene Würde, ist seine unendliche Liebe. Wer auf diese Ehre baut und ihr glaubt, ist nicht abhängig von der Jagd nach Ehrbezeichnungen. Wer auf diese Liebe und Ehre baut, misst sein Leben nicht an der Ehre, die ihm andere zusprechen oder nehmen, sondern an Jesus. Der fragt sich:

“Lebe ich mein Leben so, dass jederzeit und an jedem Ort Jesus selbst mein Begleiter sein könnte, ohne dass er sich meiner zu schämen brauchte? Lebe ich mein Leben so in allen Bezügen, in denen ich stehe, in all den gesellschaftlichen Strukturen, in die ich verwoben und für die ich verantwortlich bin in jeder Sekunde und an jedem Ort meines Lebens in allem, was ich rede und tue?“ (Martin Niemöller)

Leben in der LiebeAls Gott Mensch wurde, war es ein sichtbares Zeichen einer Liebesgeschichte. Er liebte diese Welt, wollte ihr nahe sein, in sie eingehen, sie berühren, von ihr berührt werden, sie verstehen und selber in ihr und durch sie erkannt werden.
Für Jesus ist der Glaube untrennbar verbunden mit dieser Liebe Gottes.
Johannes will die Gemeinde stärken und sie ermutigen, ihren Glauben zu leben. Das aber heißt: Glaube ist eine Haltung. Eine Haltung gegenüber Gott, eine Haltung gegenüber den Mitmenschen, eine Haltung gegenüber sich selbst. Und diese Haltung ist geprägt von Liebe.
Die Kenntnis von religiösen Schriften ist nicht ausschlaggebend dafür, ob man „das Leben“ hat, sondern die Frage, ob man Liebe in sich trägt. Es geht um die Frage, ob unsere Haltung lebensförderlich ist und Begegnung, Barmherzigkeit, ja sogar Feindesliebe ermöglicht.
In seinem Buch „Ungläubiges Staunen – über das Christentum“ schreibt der deutsch-iranische Schriftsteller Navid Kermani:

„Es ist die spezifisch christliche Liebe, insofern sie sich nicht nur auf den Nächsten bezieht. In anderen Religionen wird ebenfalls geliebt, es wird zur Barmherzigkeit, zur Nachsicht, zur Mildtätigkeit angehalten. Aber die Liebe, die ich bei vielen Christen(…) wahrnehme(…) geht über das Maß hinaus, auf das ein Mensch auch ohne Gott kommen könnte: Ihre Liebe macht keinen Unterschied.“

Der Mann am Teich Bethesda, der keinen Menschen hat, empfängt Liebe. Und Liebe stellt ihn auf die Füße. Für uns heute heißt das:
Dabeibleiben, hinsehen, hingehen – dass aus den Krankenzimmern Häuser der Barmherzigkeit und der Liebe werden – besonders dann, wenn die medizinische Hilfe nicht weiterkommt und einfach der Mensch gefragt ist. Vielleicht jener Engel, der um die Kräfte der Quelle weiß? Dass das ebenso anstrengend wie beglückend und erfüllend ist, können Menschen aus der Hospizbewegung erzählen.
Dabeibleiben, hinsehen, hingehen – dass alle, deren Krankheit jetzt nicht geheilt wird, doch den Hoffnungsstrahl spüren, die kleinen Wellen der Zuversicht, die Bewegung in das Wasser bringen, das manchen bis zum Hals steht.

Dabeibleiben, hinsehen, hingehen – und davon erzählen, dass mein Leben einen tiefen Grund hat und getragen ist, dass Gott in mir Wohnung nimmt, und die Hoffnung neue Möglichkeiten sieht, dass Gott in Jesus bei den Leidenden und Kranken ist.
Ein Mensch wird neu entfaltet, aufgerichtet, neu geschaffen. Manchmal genügt schon die Nähe, die Wärme der Hand, das offene Ohr, dem Kranken das Gefühl vermitteln, dass ER gemeint ist mit meiner Liebe.
Größeres lässt sich nicht sagen als dies: dass ein Mensch neu geschaffen wird. Die Evangelien erzählen, wie das möglich wird: in der Liebe, die Gott ist, die von Gott kommt, die zu Gott führt. Diese Liebe hat Gott uns Menschen anvertraut.
Amen.

Anregungen für diese Predigt sind entnommen aus: Hrsg. Kirchliche Bruderschaft, Walter Schlenker: Gott dienen ist höchste Freiheit III Predigtstudien, 2. Halbband 2004/2005 und 2. Halbband 2010/2011, Kreuzverlag; Gottesdienstpraxis III. Perikopenreihe, Band 3, 2005 und Band 3, 2011, Gütersloher Verlagshaus; Navid Kermani: „Ungläubiges Staunen – Über das Christentum“, S. 169, 2015, C.H. Beck.


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