1. Sonntag nach Trinitatis (02. Juni 2024)

Autorin / Autor:
Codekan i.R. Dr. Gottfried Claß, Friedrichshafen [class.g@gmx.de]

Jeremia 23,16-29

Die FrageWem kann man noch trauen? Viele Menschen treibt diese Frage um. Sie sind verunsichert. Misstrauen hat sich breit gemacht wie eine neue Epidemie. Misstrauen gegen „die da oben“. Gegen die Medien. Gegen die sog. Experten. Auch den Kirchen trauen viele nicht mehr so richtig. Und Gott – ist er noch der Vertrauensanker?
Wem kann, wem soll man trauen? Um diese Frage geht es auch in unserem heutigen Predigttext. Machen wir einen Zeitsprung. Wir sind am Anfang des 6. Jahrhunderts vor Christus. Die Großmacht Babylon hat das kleine Juda mit seiner Hauptstadt Jerusalem unterworfen. Doch der König von Juda und einflussreiche Kreise wollen das Joch der Besatzungsmacht abschütteln. Kann der Aufstand gelingen? Oder ist er politischer Selbstmord? Das ist damals nicht nur eine politische Frage, sondern auch eine religiöse.
Die Fachleute dafür sind die Propheten. Fast alle sagen: „Ja, ihr habt Gottes Segen. Ihr werdet das babylonische Joch abschütteln.“ Nur einer stimmt nicht ein in diesen mächtigen Chor. Es ist der Prophet Jeremia. Hören wir ihn im „Originalton“, seine leidenschaftlichen Worte gegen die „falschen Propheten“:

„So spricht der HERR Zebaoth: Hört nicht auf die Worte der Propheten, die euch weissagen! Sie betrügen euch, sie verkünden euch Gesichte aus ihrem Herzen und nicht aus dem Mund des HERRN. Sie sagen denen, die des HERRN Wort verachten: Es wird euch wohlgehen –, und allen, die im Starrsinn ihres Herzens wandeln, sagen sie: Es wird kein Unheil über euch kommen. Aber wer hat im Rat des HERRN gestanden, dass er sein Wort gesehen und gehört hätte? Wer hat sein Wort vernommen und gehört? Siehe, es wird ein Wetter des HERRN kommen voll Grimm und ein schreckliches Ungewitter auf den Kopf der Gottlosen niedergehen. Und des HERRN Zorn wird nicht ablassen, bis er tue und ausrichte, was er im Sinn hat; zur letzten Zeit werdet ihr es klar erkennen. Ich sandte die Propheten nicht, und doch laufen sie; ich redete nicht zu ihnen, und doch weissagen sie. Denn wenn sie in meinem Rat gestanden hätten, so hätten sie meine Worte meinem Volk gepredigt, um es von seinem bösen Wandel und von seinem bösen Tun zu bekehren.
Bin ich nur ein Gott, der nahe ist, spricht der HERR, und nicht auch ein Gott, der ferne ist? Meinst du, dass sich jemand so heimlich verbergen könne, dass ich ihn nicht sehe?, spricht der HERR. Bin ich es nicht, der Himmel und Erde erfüllt?, spricht der HERR.
Ich höre es wohl, was die Propheten reden, die Lüge weissagen in meinem Namen und sprechen: Mir hat geträumt, mir hat geträumt. Wann wollen doch die Propheten aufhören, die Lüge weissagen und ihres Herzens Trug weissagen und wollen, dass mein Volk meinen Namen vergesse über ihren Träumen, die einer dem andern erzählt, so wie ihre Väter meinen Namen vergaßen über dem Baal? Ein Prophet, der Träume hat, der erzähle Träume; wer aber mein Wort hat, der predige mein Wort recht. Wie reimen sich Stroh und Weizen zusammen?, spricht der HERR. Ist mein Wort nicht wie ein Feuer, spricht der HERR, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt?“

An wen soll man sich halten? Nein, das Volk von Juda ist ja nicht zu beneiden. Es steht zwischen Jeremia und den anderen Propheten. Wer hat Recht? Wem sollen sie ihr Vertrauen schenken? Aber für uns ist es ein Glücksfall, dass Jeremia diese Auseinandersetzung so führt – so leidenschaftlich, so ins Grundsätzliche vordringend. Denn er gewinnt dabei Erkenntnisse, die auch für uns immens bedeutsam sind.

Ist Gott nur ein naher Gott?Wer ist Gott? Darauf spitzt sich diese Auseinandersetzung zu. Gott selber stellt die alles entscheidende Frage in den Raum: „Bin ich nur ein Gott, der nahe ist, spricht der HERR, und nicht auch ein Gott, der ferne ist?“ (V. 23). Jeremias Gegner reden von Gott als einem immer nahen Gott, der stets hilfreich ist, gütig und verzeihend und sie vor allem Unheil bewahrt. Das kommt bei den Leuten gut an. Damit sammeln sie Sympathiepluspunkte. Denn ein solcher Gott passt zu unseren menschlichen Wünschen und Vorstellungen. Gott als sicherer Rückhalt in allen Lebenslagen. Ist nicht auch uns dieser nahe Gott wichtig? Ja, auch unsere Verkündigung betont oft sehr einseitig: „Gott ist immer da. Gott ist dir stets nah – und hilft.“ Doch stimmt das? Werden wir damit Gott gerecht? Oder haben wir damit einen Gott nach unserem Bilde geformt? Einen Gott, der nur bestätigt und beschwichtigt. Der uns nie unbequem oder unbegreiflich wird. Bei dem keine Fragen offenbleiben.

Jeremia führt an dieser Stelle die Auseinandersetzung mit der Übermacht der anderen Propheten in aller Schärfe: Ihr habt die Leute um den wahren Gott betrogen. Ihr seid schuldig, dass das Volk den Namen seines Gottes vergessen hat. Und der Name steht ja für Gott selbst, für sein Wesen. Wir erinnern uns, wie Gott geantwortet hat, als Mose am brennenden Dornbusch nach seinem Namen gefragt hat. Mit diesem geheimnisvollen „Ich werde sein, der ich sein werde“ (2. Mose 3,14). Dieser Name steht für den nahen und den fernen Gott. Dieses „Ich werde sein“ bedeutet im Hebräischen nicht einfach das bloße Existieren. Es bedeutet vielmehr: „Ich, Gott, bin wirksam, ich werde für euch da sein“. Aber zugleich fügt Gott hinzu: Wie ich für euch da bin, wie ihr meine Wirksamkeit erfahrt, das steht in meiner Freiheit, das ist mein Geheimnis. In diesem Namen, mit dem Gott sich vorstellt, steckt also eine große Spannung. Gott sagt zu Mose und dem Volk Israel: Ihr könnt auf eurem Weg in die Freiheit mit mir rechnen, aber mich nicht in eure Wunschvorstellungen einbauen. Ich bleibe unverfügbar. Denn ich bin der heilige Gott. Euch nahe, und doch der ganz Andere.
Liebe Gemeinde, kann man Gott trauen? Genauer gefragt: Welchem Gott kann man trauen? Der allezeit nahe Gott der Hofpropheten erwies sich als Täuschung. Er verführte die Leute dazu, sich in Sicherheit zu wähnen: „Gott ist auf unserer Seite. Also kann uns nichts passieren.“ Doch Jeremia mit seinen Warnungen sollte Recht behalten. Der Aufstand gegen die Besatzungsmacht wurde schnell niedergeschlagen. Große Teile der Bevölkerung wurden nach Babylon deportiert. Der Staat Juda war am Ende. Ebenso die Hofpropheten und ihr allzu harmloser Gefälligkeitsgott. Er hatte sich als Illusion erwiesen. Im babylonischen Exil erinnerten sich die Menschen aber an Jeremia, dass er ja ganz anders von Gott gesprochen hatte, als dem nahen und dem fernen. Und das ließ sie wieder Hoffnung fassen: „Jetzt durchleben wir eine Zeit der Gottesferne. Aber wir können auf Gott warten. Es kommt der Tag, da wird er sich uns wieder zeigen. Seine Geschichte mit uns wird weitergehen.“
Das spricht unmittelbar in unsere Gegenwart hinein. Wir sind manchmal ganz erschlagen von all dem Unheil, was in der Welt passiert. Von den vielen zerstörerischen Kräften. Können wir in diesen Krisenzeiten Gott noch trauen, ihm etwas zutrauen? Wir kommen von Pfingsten her. Gottes Geist ist in dieser Welt. Er macht uns Mut, auf Gott zu warten – und ihn nicht abzuschreiben, weil wir so wenig von ihm sehen. Dieser heilige Geist macht uns Mut, zu beten, zu klagen, zu bitten – Gott in den Ohren zu liegen, dass er aus seiner Verborgenheit heraustritt und uns Zeichen seiner Treue gibt.

Wie Gott auch im Zorn um seine Menschen ringtWenn man Jeremias Scheltrede auf sich wirken lässt, könnte man meinen: Jetzt reiht sich auch Gott ein in die Phalanx der Wutbürger, die ihre Emotionen lautstark und medienwirksam herausschreien. Aber im Unterschied zum Wutbürger kennt die Bibel keinen „Wutgott“. Sie unterscheidet zwischen Wut und Zorn. Jeremia redet vom Zorn Gottes. Dieser ist nicht das Gegenteil seiner Liebe, eher deren kämpferische Seite. Gerade weil Gott an der Beziehung zu seinen Menschen so viel gelegen ist, richtet sich sein Zorn gegen alles, was dem Menschen schadet und wodurch er sich selbst schadet.
In Juda werden damals Recht und Gerechtigkeit schändlich missachtet. Die Gier der Reichen führt zu vielen Verlierern und Abgehängten. Und am Jerusalemer Tempel hat sich ein wüstes Göttergemisch eingenistet, anstatt Gott allein die Ehre zu geben. All das ist Gott ein Dorn im Auge. Denn damit werden seine Gebote mit Füßen getreten. Doch was tun seine Hofpropheten? Sie tun so, als ob Gott zu diesen Zuständen „Ja und Amen“ sagen würde. Sie beruhigen Gewissen, die nicht beruhigt werden dürfen. Sie lassen die Leute im Namen Gottes blindwütig weiter ins Verderben laufen. Anders Jeremia. Er ruft laut und schrill: Haltet ein! Besinnt euch! Kehrt um! Nehmt endlich Gottes Gebote wieder ernst. Dann, nur dann habt ihr Zukunft.“ So ringt Gott in dieser zornigen Gerichtsrede um sein Volk. Gerade weil ihm sein Volk so am Herzen liegt, zeigt er seine Zornesseite so deutlich.
Und heute? Unsere Gesellschaft verroht immer mehr. Der Zusammenhalt schwindet. Man stößt in den Läden oder auf den Straßen auf so viele gereizte Menschen, die „gleich auf 180 sind“. Umso überraschter ist man, wenn man auf einen freundlichen, gelassenen Menschen trifft. Ich bin überzeugt, dass in dieser Situation Gott auch um uns ringt. Lasst euch nicht von diesem vergifteten Klima anstecken! Es gibt Bibelworte, die sind wie eine Schutzimpfung dagegen. Zum Beispiel diese pfingstliche Losung: „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit“ (2. Timotheus 1,7). Diesem Geist können wir uns öffnen. Jeden Morgen neu. Unsere Welt wartet auf Menschen, die Gottes Menschenfreundlichkeit verbreiten. Es soll an unserem Ort spürbar werden, dass es hier eine christliche Gemeinde gibt. So fragt Gott jede und jeden von uns immer wieder neu: Wes Geistes Kind bist du? Welche Kräfte leben durch dich? Einem Gott, der mit solchen Fragen um uns ringt, dem sind wir ganz gewiss nicht gleichgültig. Diesem Gott können wir unser Vertrauen schenken.

Einer Frage dürfen wir bei unserem heutigen Predigttext nicht ausweichen: Drohen bei uns Gefahren, bei denen wir als Kirche wie Jeremia warnend und eindringlich die Stimme erheben müssen? Ich sehe in Deutschland zunehmend unsere Demokratie, dieses kostbare Geschenk, gefährdet. Offensichtlich wollen immer mehr Menschen autoritär beherrscht werden. Bis vor gut zehn Jahren gab es in Deutschland ein wirkmächtiges Tabu, Rechtsextreme zu wählen. Nur eine kleine Minderheit hielt sich nicht daran. Doch dieses Tabu ist gefallen. Als hätte es in Deutschland den schrecklichen Irrweg des Dritten Reichs nicht gegeben. Hier ist Gefahr im Verzug. Hier steht viel auf dem Spiel. Hier ist unser klares Nein gefragt: Den Rechtsextremen geben wir nicht unser Vertrauen.

Zum Schluss: Wem können wir noch trauen? Das war unsere Ausgangsfrage. Jeremia hat uns auf einen spannenden Weg mitgenommen. Und uns deutlich gemacht: Es lohnt sich, sich auf den nahen und fernen Gott zu verlassen. Mit ihm können wir auch Krisen und Erschütterungen durchstehen. Er weiß, wie gefährdet wir sind. Darum hört er nicht auf, um uns zu ringen. Selbst in seinem kämpferischen Zorn verbirgt sich seine große Liebe. Amen.

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