1. Sonntag nach Trinitatis (22. Juni 2025)

Autorin / Autor:
Pfarrerin Susanne Joos, Stuttgart [Susanne.Joos@elkw.de]

Johannes 5,39-47

IntentionDie Provokation Jesu als Einladung verstehen, sich einer lebendigen Beziehung zu öffnen.

Zwischen zwei WundernLiebe Gemeinde, eben noch hat Jesus am Teich Betesda einen Gelähmten aufgerichtet. Der war krank seit 38 Jahren. „Nimm dein Bett und geh“, sagt Jesus zu ihm, und der Mensch kann tatsächlich aufstehen. Nimmt seine Matte und nimmt sein Leben wieder in die eigenen Hände.
Da ist etwas geschehen, womit keiner mehr gerechnet hat. Nach 38 Jahren!

Später zieht Jesus ans andere Ufer des Sees Genezareth. Eine große Menge folgt ihm. Obwohl viel zu wenig zu essen da ist für all die Leute, werden 5000 satt.

Dazwischen entbrennt ein Streit. Jesus wird angegriffen von den Verantwortlichen im Tempel. Nicht weil er geheilt hat – das war unstrittig. Sondern, weil er dies am Sabbat getan hat.
Mit welchem Recht missachtet Jesu die Gebote?
Wie kommt er dazu, sich auf Gottes Ebene zu stellen?

Jesus reagiert auf die Vorwürfe mit einer herausfordernden Rede.
Ein Ausschnitt daraus ist unser Predigttext.
Ich lese aus dem Johannesevangelium Kapitel 5,39-47:

„Ihr sucht in den Schriften, denn ihr meint, ihr habt das ewige Leben darin und sie sind’s, die von mir zeugen; aber ihr wollt nicht zu mir kommen, dass ihr das Leben hättet.
Ich nehme nicht Ehre von Menschen an. Aber ich kenne euch, dass ihr nicht Gottes Liebe in euch habt. Ich bin gekommen in meines Vaters Namen und ihr nehmt mich nicht an.
Wenn ein anderer kommen wird in seinem eigenen Namen, den werdet ihr annehmen. Wie könnt ihr glauben, die ihr Ehre voneinander annehmt, und die Ehre, die von dem alleinigen Gott ist, sucht ihr nicht?
Meint nicht, dass ich euch vor dem Vater verklagen werde; der euch verklagt, ist Mose, auf den ihr hofft. Wenn ihr Mose glaubtet, so glaubtet ihr auch mir; denn er hat von mir geschrieben.
Wenn ihr aber seinen Schriften nicht glaubt, wie werdet ihr meinen Worten glauben?“

KonfrontationLiebe Gemeinde, lassen wir uns ein auf Jesus, oder schauen wir von außen zu?
Halten wir ihn für einen guten Menschen, ein spannendes Vorbild, oder lassen wir zu, dass wir in ihm Gott begegnen, dass es da um uns geht, um unser Leben?

Jesu Diagnose ist hart.
Ich durchschaue euch. Ihr habt keine Liebe zu Gott in euch. Ihr sucht nur die Ehre von anderen. Ihr nehmt mich nicht an.

Ich weiß nicht, liebe Gemeinde, ob dieses Urteil Ihnen und uns heute Morgen gerecht wird.
Ich weiß nicht, ob dieses Urteil damals seinen Gegnern gerecht wurde, den führenden jüdischen Kreisen. Der Bruch zwischen Juden, die in Jesus den Messias sahen und denen, die das nicht konnten, steht im Hintergrund des Johannesevangeliums. Es war ein schmerzhafter Bruch für beide Seiten.
Wo man sich gegenseitig Glauben und Liebe abspricht, wird es oft ungerecht.
Ist es nicht Gott selbst, der den Glauben in uns wirkt?
Von uns aus ist es gar nicht möglich, zu Gott zu kommen.
Dennoch: Wie finden wir ewiges Leben? Leben, das über das Alltägliche hinausgeht?
Wo stehen wir uns womöglich selbst im Weg und verfehlen dabei genau das, was wir ersehnen?

Leben suchen„Ihr sucht in den Schriften“, stellt Jesus fest. „Und sie sind‘s, die von mir zeugen.“
Ja, wir lesen in der Bibel. Wir lesen von den Glaubenserfahrungen der Generationen vor uns. Wir begegnen vielfältigen Stimmen, die von ihren Gotteserfahrungen erzählen.
Wir suchen Orientierung bei Mose und den Propheten.
Im Leben und in den Worten Jesu.
Wir sind fasziniert von der Schönheit der biblischen Geschichten.
Wir diskutieren, und wir streiten darüber, welche Auslegung die angemessene ist.
Wir wollen es richtig machen.
Und versäumen trotzdem das Wesentliche?

„Ihr sucht in den Schriften, denn ihr meint, ihr habt das ewige Leben darin und sie sind’s, die von mir zeugen; aber ihr wollt nicht zu mir kommen, dass ihr das Leben hättet.“
An unseren Versuchen, uns das Leben zu erarbeiten, werden wir offenbar scheitern.
Ganz gleich, ob wir es mit Bibelstudium versuchen oder mit anderen Dingen.

Da ist ein Vater, dem sein christlicher Glaube wichtig ist, der sich sein Leben lang bemüht hat, es richtig und gut zu machen. Der schon als Jugendlicher Verwandten geholfen hat. Der eine eigene Familie gegründet hat, der immer viel gearbeitet hat. Der in seinen Augen alles getan hat, um seinen Kindern gute Perspektiven zu ermöglichen, der ihnen oft großzügig entgegenkam. Und trotzdem erlebt er, wie ein Kind sich von ihm abwendet. Wie ein Enkel seinen Weg nicht recht findet, wie Gespräche in der Familie mühsam werden und Verbindungen abbrechen. All dies belastet ihn enorm, doch seine Anstrengungen führen ins Leere.

„Ihr bemüht euch“, so höre ich Jesu Worte, „aber ihr wollt nicht zu mir kommen. Solange ihr versucht, euren eigenen Ansprüchen gerecht zu werden, bleibt ihr euch selbst ausgeliefert.
Mit eurem Versuch, durch das Halten der Gebote das Leben zu finden, verfehlt ihr Moses.
Mose hat sich auf Gott eingelassen, auf eine für ihn oft herausfordernde Beziehung. Die Gebote hat er empfangen als Zeichen dieses Bundes mit Gott. Er hat von Gott geschrieben, und so – auf verborgene Weise – auch von mir, von Jesus. Aber ihr glaubt ihm nicht.“

Zu ihm kommenWas aber ist damit gemeint, Mose zu glauben?
Wie ist das möglich: zu Jesus kommen, zu Gott kommen?

Vielleicht können unsere menschlichen Liebesbeziehungen ein Gleichnis dafür sein.
Wir können Ratgeber über die Liebe lesen, psychologische, philosophische und viele weitere. Dann aber treffen wir einen Menschen, der uns anzieht. Lernen ihn kennen. Jetzt wird es spannend. Bleiben wir innerlich auf Abstand? Lassen uns ein Hintertürchen offen? Bleiben wir außen vor – oder lassen wir uns ein? Lassen wir zu, dass wir berührt werden? Dass wir mit unseren verletzlichen Seiten in Kontakt kommen? Dass der andere uns manchmal nicht versteht, es uns schwer macht?
Halten wir es aus, dass wir selbst nicht immer so sind, wie wir gerne wären, dass auch wir den anderen verletzen, dass wir einander nicht gerecht werden? Und bleiben trotzdem dran, um aneinander zu wachsen?
Das ist ganz und gar nicht leicht. Die Liebe fordert uns heraus wie kaum etwas anderes. Ein Leben lang.

Ich verstehe Jesu Worte so:
„Wenn ihr in den Schriften lest, dann lasst euch ein auf eine lebendige Beziehung.
Lasst zu, dass ihr mir begegnet, dass ihr durch mich Gott begegnet.“
Da geht es dann nicht mehr um einzelne Buchstaben oder Worte: Ist das nun genau so oder anders gemeint? Da geht es um Liebe.“
Dann sind wir plötzlich mittendrin. In Kontakt mit dem, aus dem alles Leben kommt und der uns noch im Sterben neu schafft. Da begegnen wir uns selbst, auch den Abgründen in uns selbst. Und gleichzeitig dem, der Ja zu uns sagt, trotz allem.
Da wachsen wir vielleicht sogar manchmal über uns selbst hinaus. Weil wir nicht mehr von dem abhängig sind, was uns gelingt.
Weil wir uns verlassen können, loslassen, ins Leben eintauchen, lieben und geliebt werden.
Auch wenn wir scheitern, auch wenn unsere Liebe einseitig bleibt, bleiben wir gehalten.

Die Theologin Ina Prätorius hat einmal (sinngemäß) gesagt: Mich beunruhigen nicht so sehr die Bibelstellen, die ich nicht verstehe. Mich beunruhigen die, die ich verstehe.

Denn es wird aufregend, wenn ich merke: Jetzt bin ich angesprochen, jetzt bin ich gemeint. Hier beginnt ein Weg, der manchmal herausfordernd ist und manchmal sehr tröstlich. Ein Weg in Gottes Gegenwart, die ohne Anfang ist und ohne Ende.

FreiheitWo wir uns in Gott verwurzeln, da gewinnen wir innere Freiheit.
Es ist gut, sich immer wieder selbst zu fragen:
Was bedeutet mir die Ehre von anderen Menschen?
Wessen Applaus, wessen Anerkennung sind mir wichtig?
Brauche ich es, in bestimmten Kreisen zu verkehren, wo man sich gegenseitig beehrt und so die eigenen Ängste beruhigt?
Natürlich brauchen wir auch die Anerkennung und Wertschätzung von anderen Menschen. Wir sind darauf angewiesen, dass andere uns wahrnehmen, sich an uns freuen, dass wir wichtig sind für andere.
Keiner von uns kann ganz für sich leben, wir brauchen Resonanz von anderen.
Doch wäre es fatal, wenn wir uns davon abhängig machen würden, dass andere uns Anerkennung zollen. Wir müssten dann Erwartungen erfüllen, die wir vielleicht gar nicht erfüllen möchten. Wir müssten unser Fähnlein in den Wind hängen. Wir würden unfrei.
Zu glauben heißt: Ich darf sein. Meine Lebensberechtigung muss ich mir nicht verdienen. Ich darf mich freuen an dem, was mir gelingt. Ich kann zu meinem Ungenügen und meiner Schuld stehen, ohne mich herauszureden oder mich selbst zu rechtfertigen. Ich kann sie aushalten, weil ich gehalten bin. Die Liebe, die aus Gott kommt, trägt.
Darauf kann ich mich verlassen im Leben und im Sterben und darüber hinaus.

Zuschauen oder mitmachen?Erst wird ein Mensch von Jesus aufgerichtet am Teich Betesda, nach 38 Jahren wird er aus seiner Starre gelöst und bricht auf ins Leben.
Später inspiriert Jesus Reiche und Arme zu teilen, was sie haben, und 5000 Menschen werden satt, gegen alle Wahrscheinlichkeit. Es sind sogar noch zwölf Körbe Brot übrig.

Und wir, bleiben wir Zuschauer und Zuschauerinnen, bleiben wir auf Abstand?
Oder gehen wir hin, lassen wir uns ein, werden wir Teil der Geschichte?

Möge Gott uns helfen, unsere Absicherungen loszulassen und uns vom Leben berühren zu lassen.
Möge Gott uns solchen Glauben schenken. Amen.

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