10. Sonntag nach Trinitatis (31. Juli 2016)

Autorin / Autor:
Pfarrerin und Kirchenrätin Dr. Evelina Volkmann, Stuttgart [Evelina.Volkmann@elk-wue.de ]

Römer 11, 25-32

Liebe Gemeinde!

Unruhig ist er, der Paulus. Er wirkt erregt. Ihn treibt die Frage um: Was ist mit den Juden? Brauchen sie Jesus? Oder geht es auch ohne? Paulus selber ist Jude. Und er ist zugleich Christ. Er brennt für den Heiland. Von Jesus Christus zu sprechen – was gibt es Höheres? Menschen zum Glauben an ihn zu bringen – das ist sein Auftrag. Das tut er mit Leib und Seele. Er setzt sich dafür hundertprozentig ein. Dafür kämpft er. Nichts ist ihm zu viel. Selbstverständlich spricht er auch zu Juden und Jüdinnen von Jesus, dem Messias. Er erzählt ihnen: Glaubt an Jesus. Dann werdet ihr frei. Jesus ist auch für eure Sünden am Kreuz gestorben.

Doch nur wenige Juden werden Christen. Die allermeisten sehen keinerlei Anlass, sich zu Jesus zu bekehren. Warum auch? Jüdisch sein heißt doch: Gottes Kind sein. Warum dann noch zusätzlich Jesus? Paulus leidet. Warum lehnen so viele Juden das Evangelium ab?, fragt er sich enttäuscht. Macht er etwas falsch? Oder – schlimmer noch – hat Gott vielleicht einen Fehler gemacht, als er ihn auch zu den Juden schickte? Paulus ist frustriert. Ein bisschen Ärger schwingt sicherlich auch mit. Warum klappt es nicht mit den Juden und Jesus? Er fühlt sich ohnmächtig. Denn er kann daran nichts ändern.

Paulus klärt diese Frage in einem Brief.Es gibt Menschen, die verarbeiten Probleme, indem sie schreiben: Briefe, Romane, Gedichte, Tagebuch, … Paulus gehört auch zu ihnen. Er schreibt einen Brief – den Brief an die Gemeinde in Rom. In ihm ringt er mit der Frage: Wie sind Juden und Christen mit Gott verbunden? Und wie sind sie miteinander verbunden? In immer neuen Anläufen trägt Paulus Argumente und Bibelstellen zusammen. Das hilft! Am Ende hat Paulus das Problem gelöst. Er kommt zu einer klaren Antwort. Wir haben sie eben im Predigttext gehört. Jetzt entspannt sich Paulus und stimmt einen Lobpreis an.
Es lohnt sich, dieses Hin und Her des Paulus einmal genauer anzusehen.

Christen, die klug bei sich selber sind, halten Juden für verstockt.Paulus schreibt seinen Brief an Christen. Alle Christen haben durch ihren Glauben an Gott automatisch mit dem Volk Israel zu tun. Wer an Jesus glaubt, ist dadurch mit dem Judentum verbunden. Jesus war Jude. Jesus liest in der jüdischen Bibel. Jesus wirkt im Volk Israel. Manche von uns begreifen das, andere nicht. Paulus legt großen Wert darauf, dass wir das intensivst beherzigen. Denn unser jüdischer Hintergrund gehört zu uns dazu. Die jüdische Gegenwart um uns herum auch! Paulus kritisiert deshalb diejenigen Christen, die sich nicht darum scheren. Solche hat er tatsächlich vor Augen. Die sind sich selbst genug. Die wollen nicht in Frage gestellt werden. Die halten sich für klug. Er denkt an Menschen, die ihren christlichen Glauben ohne das Gespräch mit dem Judentum formulieren nach dem Motto: „Was gehen mich die Juden an? In Christus habe ich doch das bessere Teil erwählt.“ Solche Münder hören wir dann hochmütig sprechen: „Die Juden sind verstockt. Sie sind blind für das Evangelium. Darum hat Gott sie verworfen.“ Solche Gedanken kommen da auf, wo Christen sich selbst für klug halten.

Christen, die gemeinsam mit anderen klug sind, hören auf die jüdischen Geschwister und lassen sie ihren Weg mit Gott gehen.Paulus hingegen öffnet seine Gedanken. Er ist nicht „für sich selbst klug“. Er ist lieber gemeinsam mit anderen klug, gemeinsam mit den jüdischen Geschwistern. Er merkt: Sie bringen ganz andere Gesichtspunkte ein. Sie korrigieren mich. Sie bringen mich auf neue Ideen. Sie helfen mir, mich nicht nur um mich selbst zu drehen. Sie stellen mich radikal in Frage. Sie helfen mir, Vorurteile abzubauen. Sie sind genauso wie ich von Gott geliebte Menschen.

Paulus akzeptiert jetzt, was ihm ungeheuerlich vorkommt: Juden lehnen mehrheitlich das Heil in Jesus Christus ab. Sie sind – in seiner Sprache – „Feinde“ des Evangeliums. Sie sagen definitiv Nein zu seiner Mission. Sie sind verhärtet. Sie lassen sich in ihrem Glauben einfach nicht beirren. Und Paulus kann ihnen nicht mal einen Vorwurf machen: Denn Gott selber hat Israel so verhärtet.

Paulus akzeptiert das – schweren Herzens. Denn er persönlich hätte es zu gern anders gehabt. Doch wie das manchmal so ist: Wenn ich mich gegen eine Sache nicht mehr auflehne, dann kann ich sogar das Gute in ihr erkennen. Viele Menschen sprechen so, wenn sie eine tiefe Krise bewältigt haben. Ich kann zwar nicht da weitermachen, wo ich aufgehört habe. Aber mein jetziger Weg ist auch ein guter, sagen sie dann. Ich hätte mir das so sicherlich nicht ausgesucht. Aber es ist jetzt auch gut.

Paulus entdeckt: Die jüdischen Geschwister sagen Nein zu Jesus als Messias – und das bedeutet für uns Christen Heil. Die Juden weisen den christlichen Glauben ab. Also sucht Gott für den Glauben an seinen Sohn einen anderen Weg – den zu den Nicht-Juden, den Heiden. Wir Heiden werden dadurch Christen. Also müssen wir eigentlich sogar dankbar sein, dass die Juden Nein gesagt haben. Was wäre sonst aus uns geworden?

In Paulusʼ Augen sind die Juden hier dennoch ungehorsam. Und trotzdem lässt Gott sie nicht fallen. „Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen.“ Gottes Bund mit Israel besteht weiterhin. Was Gott mit Noah, mit Abraham, mit Mose, mit David abgesprochen hat, gilt immer noch: Das Heil für Israel. Die Juden sind nach wie vor Gottes erwähltes Volk. Das ist Gottes Geheimnis. Gott selber steht dafür ein. Kein Mensch – auch Paulus nicht – muss sich um Israels Heil kümmern. Gott selber schickt aus Zion den Erlöser für Israel. Der errettet ganz Israel. Gott hat Israel nicht verworfen.

Viele denken: Dieser Erlöser, der da am Ende der Zeiten kommt, das wird doch unser wiederkommender Christus sein. Er hat uns doch versprochen, wieder zu kommen. Also finden Juden schlussendlich doch in diesem Christus ihr Heil? Ja oder nein? Auch das ist Gottes Geheimnis. Der jüdische Philosoph Martin Buber erzählt dazu eine Geschichte: Der Messias kommt. Man fragt ihn: Warst du schon einmal da? Kommst du also das erste oder das zweite Mal? Dann hoffe er, sagt Martin Buber, möglichst dicht beim Messias zu stehen, um ihm ins Ohr zu flüstern: „Sag, bitte, nichts!“ (1)

Paulus vertraut die Juden in ihrem Anderssein Gott an. Dadurch ist Begegnung mit ihnen möglich, auch wenn man sich nicht ganz versteht.So lässt Paulus die jüdischen Geschwister ihren anderen Weg gehen! Er lässt sie anders sein. Er vertraut sie ganz Gott an. Auch wenn es ihm manchmal schwer fällt. Er hält es aus, wenn man sich gegenseitig nur begrenzt versteht.

Viele Christen verstehen beispielsweise nicht, warum Juden besondere Speisegebote einhalten. Sie empfinden die koschere Lebensweise als „gesetzlich“. Wie kann man nur? Umgekehrt verstehen viele Juden nicht, warum Christen in Jesus Gottes Sohn sehen. Eine Kirchengemeinde hat eine jüdische Lehrerin zu einer Thoralernwoche bei sich zu Gast. In der Pause steht eine kleine Gruppe im Innenhof des Gemeindezentrums zusammen. Das Gespräch kommt auf Jesus Christus. „Wie könnt ihr das nur glauben?“, bricht es aus der jüdischen Lehrerin heraus. Sie schüttelt den Kopf. Gleichzeitig hält sie sich vor Schreck und etwas beschämt die Hand vor den Mund. Was habe ich nur gesagt? Ich möchte niemanden verletzten, scheint sie zu denken. Es ist spürbar: In einem Menschen zugleich Gott zu sehen, ist für sie ungeheuerlich. Sie kann dies mit ihrer Ehrfurcht vor Gott nicht zusammenbringen. (2)

Aushalten, dass man sich nur begrenzt verstehen kann… Aber sich begegnen. Miteinander reden. Den Kontakt pflegen. Auch den Weg des anderen als einen Weg mit Gott ansehen. Ihn freundlich ansehen. Die eigene Position nicht absolut setzen. Und doch meinen Glauben mutig bekennen. Das ist Klugheit gemeinsam mit anderen.

Wir können stolz sein, dass unsere württembergische Landessynode vor einigen Jahren diese Klugheit gezeigt hat. Im Jahr 2000 nehmen sich die Synodalen Zeit und laden jüdische Gesprächspartner ein. Sie wollen von jüdischem Glauben aus erster Hand erfahren. Denn die Synode denkt über das Verhältnis von Christen und Juden nach. Ziel ist es, einen Text zu veröffentlichen. Dieser Text vom 6. April 2000 wird in der ganzen Landeskirche bekannt. Er räumt auf mit jeder Form der Judenfeindschaft. Er sagt: Wir Christen sind nicht an die Stelle Israels getreten. Wir stehen an der Seite des Gottesvolks. Wir bekennen uns zu demselben Gott, der Israel die Treue hält. Die Überschrift dieser Erklärung stammt von Paulus aus dem heutigen Abschnitt des 11. Kapitels im Römerbrief: „Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen.“ Das ist Klugheit gemeinsam mit anderen. (3)

Wir sehen nun, was wir mit dem Judentum gemeinsam haben!Wo solch eine Klugheit herrscht, da ist viel möglich: sich gegenseitig akzeptieren. Sich da, wo man verschiedener Ansicht ist, tolerieren. Und, was ganz wichtig ist: das Gemeinsame sehen. Und sich darin gegenseitig unterstützen. Judentum und Christentum verbindet so vieles! Denken wir nur an den wöchentlichen Gottesdienst. Im Rhythmus von sieben Tagen versammelt sich die jüdische Gemeinde am Sabbat in der Synagoge, die christliche am Sonntag in der Kirche. Die Menschen beten, sie singen, sie empfangen den göttlichen Segen. Und vor allem: Sie hören auf Gottes Wort. Deshalb liegt bei uns eine aufgeschlagene Bibel auf dem Altar. In jeder Synagoge gibt es daher eine Thorarolle.

Können Sie sich eine Kirchengemeinde ohne Bibel vorstellen? Sicherlich nicht! Können Sie sich eine Synagogengemeinde ohne Thorarolle vorstellen? Sicherlich auch nicht. In Esslingen wird 1938 die Synagoge gestürmt. Die Thorarolle wird verbrannt. Vor wenigen Jahren erst eröffnet in der ehemaligen Synagoge ein neues jüdisches Gemeindezentrum. Die kleine Gemeinde hat etwa 350 Gemeindeglieder. Sie möchte in ihren Gottesdiensten wieder aus einer eigenen Thorarolle lesen. Doch die Anschaffung ist sehr teuer, weil eine solche Rolle von Hand geschrieben wird. So kommt es zu einer beispiellosen Spendeninitiative der Esslinger Bürgerschaft. Und raten Sie einmal, wer alles auf der Spenderliste steht? Die evangelische Kirche, die katholische Kirche, die Griechisch-orthodoxe Kirche, aber auch die beiden muslimischen Gemeinden Esslingens und zahlreiche Vereine und Verbände. (4) „Die jüdische Gemeinde ist uns willkommen. Meinungsverschiedenheiten tragen wir hier in Esslingen unter Freunden aus“, heißt es.

Das ist Klugheit gemeinsam mit anderen. „Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen.“
Amen.

Anmerkungen:
(1) Klaus Wengst, „Freut euch, ihr Völker, mit Gottes Volk!“ Israel und die Völker als Thema des Paulus – ein Gang durch den Römerbrief, Stuttgart 2008, 373.
(2)Predigt Michael Volkmann, http://www.agwege.de/fileadmin/mediapool/einrichtungen/E_pfarramt_christen_juden/Texte_AG_und_Elkwue/Predigt_Israelsonntag_2010_Roemer_11v25-32.pdf [12.2.2016]
(3)„Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen“ oder „… der Treue hält ewiglich“ (Römer 11,29/Psalm 146b). Erklärung der Württembergischen Evangelischen Landessynode zum Verhältnis von Christen und Juden vom 6. April 2000, http://www.agwege.de/fileadmin/mediapool/einrichtungen/E_pfarramt_christen_juden/3_Erklaerungen_wttbg_Synode.pdf [8.2.16].
(4) Dagmar Weinberg, Thorarolle für die Esslinger Synagoge, Artikel in der Esslinger Zeitung vom 24.3.2015, http://www.alemannia-judaica.de/esslingen_synagoge_neu.htm#Presseberichte%202010%20bis%202012:%20von%20der%20%22Galerie%20im%20Hepp%C3%A4cher%22%20zur%20wiederer%C3%B6ffneten%20Synagoge [12.2.16].




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