10. Sonntag nach Trinitatis (24. August 2025)

Autorin / Autor:
Pfarrer i.R. Günter Knoll, Herrenberg [pfarrer-knoll@t-online.de ]

Markus 12, 28-34

IntentionJesus selbst stellt sich jeglichem Antisemitismus und Antijudaismus in den Weg. Im Gespräch mit einem Schriftgelehrten macht er deutlich, dass es ihm nicht um eine neue Religion geht, sondern um ein neues „Zum-Leuchten-Bringen des Glaubens Israels“ und um eine Öffnung hin zu allen Völkern.

PredigttextUnd es trat zu ihm (Jesus) einer der Schriftgelehrten, der ihnen zugehört hatte, wie sie mit-einander stritten. Als er sah, dass er ihnen gut geantwortet hatte, fragte er ihn: Welches ist das höchste Gebot von allen? Jesus antwortete: Das höchste Gebot ist das: „Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft.“ Das andre ist dies: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Es ist kein anderes Gebot größer als die-se. Und der Schriftgelehrte sprach zu ihm: Ja, Meister, du hast recht geredet! Er ist einer, und ist kein anderer außer ihm; und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und mit aller Kraft, und seinen Nächsten lieben wie sich selbst, das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer. Da Jesus sah, dass er verständig antwortete, sprach er zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes. Und niemand wagte mehr, ihn zu fragen.

Liebe Gemeinde,
heute ist Israelsonntag. Als evangelische Christen sind wir dazu aufgerufen, am heutigen Tag in besonderer Weise der Verbundenheit der christlichen Kirche mit dem bleibend erwählten Volk Israel zu gedenken. In einer liturgischen Anweisung für diesen Sonntag heißt es: Ziel der Gottesdienste ist es, Gott zu loben für die Erwählung seines Volkes und für seine Treue, die allen Völkern Zukunft in Gottes Bundeshandeln eröffnet.

Ob uns das gelingt? Ob wir dazu imstande sind angesichts einer verheerenden Bilanz des Verhältnisses von Kirche und Israel in der Geschichte und angesichts einer Gegenwart, in der Antisemitismus, Judenfeindlichkeit und Israel-Hass an der Tagesordnung sind? Und was ist mit dem Krieg gegen die Palästinenser im Gaza-Streifen? Ist das nicht Grund genug für scharfe Kritik der Weltgemeinschaft an der grausamen Politik der israelischen Regierung? Ob wir der Gegenwart Paroli bieten können? Versuchen wir’s! Unser Predigttext, der sozusagen am Anfang des Verhältnisses von Israel und Kirche steht, will uns dabei helfen.

Wo fängt es an? Bei Jesus, genauer gesagt bei dem Juden Jesus. Auch wenn wir wenig historisch Gesichertes über Jesus wissen – eines ist gewiss: Jesus war Jude, und er lebte die Religion seines Volkes. Grundlage seines Denkens und Handelns war die Heilige Schrift, die wir Christen das „Alte Testament“ nennen. In der Auslegung der Heiligen Schrift entwickelte Jesus das Evangelium Gottes, seine Botschaft: „Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen. Tut Buße und glaubt an das Evangelium!“ Und Jesus lebte diese Botschaft, dieses Evangelium in Vollmacht. Der Evangelist Markus, wie auch die anderen Evangelisten, berichten uns davon.

Der Ausgangspunkt war Jesu Taufe durch Johannes am Jordan, wo ihm die Gewissheit zu-teilwurde als Gottes Zuspruch: „Du bist mein lieber Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen.“ Mit dieser Zusage ging Jesus seinen Weg, voll des Heiligen Geistes, voll der Kraft Gottes und voller Erbarmen gegenüber den Menschen, die elend waren und der Liebe Gottes bedürftig. Jesus heilte, trieb böse Geister aus, ermutigte Verzweifelte, holte Ausgegrenzte in die Gemeinschaft hinein, speiste Hungrige, sprach Schuldige frei, segnete unmündige Kinder, rief in seine Nachfolge, weckte sogar ein totes Mädchen auf. Und immer tat er das im Rahmen seines jüdischen Glaubens, auf der Grundlage der Heiligen Schrift, auf die sich alle, die zum Volk Gottes gehören, berufen.
Das ging freilich nicht ohne Konflikte ab, denn die Heilige Schrift will ausgelegt, interpretiert und auf die jeweilige Situation angewandt werden. Da tut sich ein weites Feld auf und unter-schiedliche, ja gegensätzliche Positionen sind unvermeidlich. Jesus scheute die Auseinandersetzung nicht, im Gegenteil, er suchte sie geradezu, denn es war ihm am richtigen Verständnis des Willens Gottes, wie er in der Heiligen Schrift festgehalten und zum Ausdruck gebracht wird, gelegen.

Unser Predigttext zeigt uns Jesus mitten in der Auseinandersetzung mit anderen Auslegern der Heiligen Schrift. Oftmals grenzt er sich in solchen Auseinandersetzungen von seinen „Gegnern“ scharf ab. In unserer Geschichte aber läuft es ganz anders. Von einem Schriftgelehrten ist die Rede, der offenbar über längere Zeit Jesu Streitgespräche beobachtet hat. Jesu Position muss ihn beeindruckt haben. Voller Sympathie stellt er fest, dass Jesus jeweils „gut geantwortet“ hat.
Und jetzt will er’s wissen: „Welches ist das höchste Gebot von allen?“ Mit anderen Worten: Was ist der Kern unseres Glaubens als Volk Gottes, als Juden? Die Antwort Jesu überrascht – und überrascht auch nicht: Jesus zitiert wie selbstverständlich zwei kurze Sätze aus der Thora, dem jüdischen Gesetz. Zunächst das Schema Israel, das „Glaubensbekenntnis“ Israels: „Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft.“ Und dann zitiert er ein zweites Schriftwort: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Und Jesus fügt hinzu: „Es ist kein anderes Gebot größer als diese (beiden).“
Kürzer, prägnanter geht es fast nicht. Und Jesus bleibt ganz innerhalb des jüdischen Glaubenshorizonts: Gottesliebe und Nächstenliebe, das ist der Kern unseres Glaubens.
Und der Schriftgelehrte, wie ist seine Reaktion? Zustimmung auf der ganzen Linie: „Ja, Meister, du hast recht geredet.“ Und dann wiederholt er noch einmal, was Jesus gesagt hat und fügt seinerseits noch ein Schriftzitat (Hosea 6,6) hinzu: „das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer.“ Da sind sich zwei Ausleger der Heiligen Schrift einig geworden und liegen sich geradezu in den Armen. Jesus bringt das voller Begeisterung zum Ausdruck. Verständig habe ihm sein Gesprächspartner geantwortet, und setzt oben drauf: „Du bist nicht fern vom Reich Gottes.“ Womit Jesus wohl sagen will: Meine Botschaft: „Das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen“, entspricht auch deinem Glauben. Es ist unser gemeinsamer Glaube. Eine wunderbare Übereinstimmung.
Der Evangelist Markus schließt die Szene ab mit der Feststellung: „Und niemand wagte mehr, ihn (Jesus) zu fragen.“

Liebe Gemeinde, was für eine Folgerung ziehen wir aus dieser Geschichte? Was will uns der Evangelist Markus sagen, und mehr noch: Was will uns Jesus zu verstehen geben? Für mich ist es deutlich, ja eindeutig: Wer sich Jesus anschließt, insbesondere wer sich als Nicht-Jude Jesus anschließt und seiner Botschaft vom Evangelium Gottes Glauben schenkt, wer sich in die Nachfolge Jesu rufen lässt und an ihn glaubt, stellt sich nicht gegen das Judentum, sondern lässt sich hineinnehmen in das Volk Gottes und kann nur staunen und den Liedvers mitsingen:

Lobt Gott, den Herrn, ihr Heiden all,
lobt Gott von Herzensgrunde,
preist ihn, ihr Völker allzumal,
dankt ihm zu aller Stunde,
dass er euch auch erwählet hat
und mitgeteilet seine Gnad
in Christus, seinem Sohne.
(EG 293, Vers 1)

Es kann und darf keinen christlichen Antijudaismus oder Antisemitismus geben. Jesus Christus selbst mit seiner Botschaft steht dagegen. Jesus hat keine neue Religion gegründet, sondern den Glauben Israels neu zum Leuchten gebracht.
Alle Nicht-Juden haben durch ihn Zugang zum Gott Israels gefunden. Wir, die wir uns nach ihm Christen nennen, sollen in das Gotteslob Israels einstimmen mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern. Und dabei sollen wir im Auge behalten, dass Gottes Verheißungen an sein erwähltes Volk bestehen bleiben. Diese Sichtweise steht einer Kritik am Unrecht, dessen sich der Staat Israel im Gaza-Krieg derzeit schuldig macht, nicht im Wege.
Israelsonntag ist heute. Halten wir zusammen, wir Christen und die Juden, die Kirche und die Synagoge. Jesus Christus selbst hält uns zusammen im Glauben an den Gott Israels, seinen Vater und unseren Vater. Wir sind Geschwister. Amen.

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