12. Sonntag nach Trinitatis (04. September 2022)

Autorin / Autor:
Pfarrerin Dr. Friederike Portenhauser, Tübingen [friederike.portenhauser@uni-tuebingen.de]

Apostelgeschichte 9,1–20

IntentionDie Absicht der Predigt besteht darin, Menschen die Augen zu öffnen für Gottes Wirken in ihrem Leben.

HinführungAugen auf! Das sage ich zu meiner kleinen Tochter, wenn sie wieder mal verträumt durch die Wohnung läuft und ich den nächsten Zusammenstoß mit dem im Weg stehenden Stuhl kommen sehe. Augen auf! Das gilt auch im Straßenverkehr oder bei der Berufswahl. Es gibt viele Situationen, wo es wichtig ist, achtsam und vorausschauend unterwegs zu sein.
Augen auf! Nur mit offenen Augen sieht man, was vor sich geht. Aber manchmal muss einem erst jemand die Augen öffnen. Davon erzählt die Apostelgeschichte im 9. Kapitel.

Lesung des Predigttextes Apg 9,1–20 mit verteilten RollenDa der Predigttext sehr lang ist, bietet es sich an, ihn mit verteilten Rollen lesen zu lassen, evtl. als szenische Lesung mit Auftritt und Abgang der Personen. Wenn dabei durch den Auftritt der Personen erkennbar ist, wer jeweils spricht, können die kursiv gedruckten Passagen der Erzähler:in, die ausschließlich Redeeinleitungen sind, entfallen.

E: Erzähler:in
J: Jesus
P: Paulus
H: Hananias

E: 9,1 Saulus aber schnaubte noch mit Drohen und Morden gegen die Jünger des Herrn und ging zum Hohenpriester 2 und bat ihn um Briefe nach Damaskus an die Synagogen, dass er Anhänger dieses Weges, Männer und Frauen, wenn er sie fände, gefesselt nach Jerusalem führe.
3 Als er aber auf dem Wege war und in die Nähe von Damaskus kam, umleuchtete ihn plötzlich ein Licht vom Himmel; 4und er fiel auf die Erde und hörte eine Stimme, die sprach zu ihm:

J:„Saul, Saul, was verfolgst du mich?“

[E: 5 Er aber sprach:]

P:„Herr, wer bist du?“

[E: Der sprach:]

J: „Ich bin Jesus, den du verfolgst. 6Steh auf und geh in die Stadt; da wird man dir sagen, was du tun sollst.“

E: 7 Die Männer aber, die seine Gefährten waren, standen sprachlos da; denn sie hörten zwar die Stimme, sahen aber niemanden.
8 Saulus aber richtete sich auf von der Erde; und als er seine Augen aufschlug, sah er ……nichts.
Sie nahmen ihn aber bei der Hand und führten ihn nach Damaskus; 9 und er konnte drei Tage nicht sehen und aß nicht und trank nicht.

10 Es war aber ein Jünger in Damaskus mit Namen Hananias; dem erschien der Herr und sprach:

J:„Hananias!“

[E: Und er sprach:]

H: „Hier bin ich, Herr.“

[E: 11 Der Herr sprach zu ihm:]

J:„Steh auf und geh in die Straße, die die Gerade heißt, und frage in dem Haus des Judas nach einem Mann mit Namen Saulus von Tarsus. Denn siehe, er betet 12und hat in einer Erscheinung einen Mann gesehen mit Namen Hananias, der zu ihm hereinkam und ihm die Hände auflegte, dass er wieder sehend werde.“

[E: 13 Hananias aber antwortete:]

H: „Herr, ich habe von vielen gehört über diesen Mann, wie viel Böses er deinen Heiligen in Jerusalem angetan hat; 14 und hier hat er Vollmacht von den Hohenpriestern, alle gefangen zu nehmen, die deinen Namen anrufen.“

[E: 15 Doch der Herr sprach zu ihm:]

J:„Geh nur hin; denn dieser ist mein auserwähltes Werkzeug, dass er meinen Namen trage vor Heiden und vor Könige und vor das Volk Israel. 16 Ich will ihm zeigen, wie viel er leiden muss um meines Namens willen.“

E: 17 Und Hananias ging hin und kam in das Haus und legte die Hände auf ihn und sprach:

H:„Lieber Bruder Saul, der Herr hat mich gesandt, Jesus, der dir auf dem Wege hierher erschienen ist, dass du wieder sehend und mit dem Heiligen Geist erfüllt werdest.“

E: 18 Und sogleich fiel es von seinen Augen wie Schuppen, und er wurde wieder sehend; und er stand auf, ließ sich taufen 19 und nahm Speise zu sich und stärkte sich.
Saulus blieb aber einige Tage bei den Jüngern in Damaskus. 20 Und alsbald predigte er in den Synagogen von Jesus, dass dieser Gottes Sohn sei.


Sie haben es gehört:
Drei Personen sind aufgetreten in dieser Erzählung von verschlossenen und sich öffnenden Augen: Paulus, Hananias, Jesus. Beginnen wir bei Paulus.

(Teile der Predigt sind als Interviewsequenzen mit Paulus, Hananias und Jesus gestaltet. Die mit „P“, „H“ und „J“ gekennzeichneten Passagen werden von den Personen vorgetragen, die die jeweilige Rolle bei der Lesung des Predigttextes gesprochen haben.)

1. Paulus: Verschlossene Augen und offene OhrenIch gehe zurück zum Anfang des Textes. „Saulus schnaubte mit Drohen und Morden gegen die Jünger des Herrn“, heißt es da (V. 1). Mit einem blinden Eifer, so könnte man sagen, verfolgt da einer die Christen. Ein frommer Jude, ein Pharisäer, der überzeugt ist, dass er eine Bedrohung bekämpfen muss: diese Leute, die Jesus für den Sohn Gottes halten und meinen, die jüdischen Gesetze gelten nicht mehr für sie. Und dann, auf dem Weg nach Damaskus, wo er wieder einmal Christen gefangen nehmen will, geschieht es: Da ist plötzlich ein Licht vom Himmel, so hell, dass Paulus geblendet zu Boden stürzt. Und er hört eine Stimme, die Stimme Jesu, den er verfolgt. Als alles vorbei ist, steht er wieder auf – und ist blind. Erst war er blind vor Hass gegen die Christen. Jetzt ist er körperlich blind, muss sich an der Hand nehmen und führen lassen. Und seine Begleiter? Denen hat es die Sprache verschlagen: Sie haben zwar die Stimme gehört, mit der Paulus gesprochen hat. Aber gesehen haben sie niemanden.
Lassen wir Paulus selbst zu Wort kommen. Paulus, was hast du da eigentlich erlebt auf dem Weg nach Damaskus?

P: Da hat sich etwas Grundlegendes in meinem Leben geändert, das war eine Wende um 180 Grad. Ich habe völlig neue Prioritäten in meinem Leben gesetzt. Jesus hat mir die Augen geöffnet. Aber erstmal konnte ich drei Tage lang nichts sehen.

So wie schon im Alten Testament immer wieder erzählt wird, dass kein Mensch Gottes Angesicht sehen kann. Diese Wirklichkeit, die wir Gott nennen, ist so groß, dass wir sie nicht fassen können. Unsere Sinne reichen nicht aus, um sie zu begreifen.

P: Aber ich habe diesen Ruf gehört, diesen Ruf von Jesus. Es war ein Wagnis, mich darauf einzulassen. Es hat mich viel gekostet. Aber ich habe auch gemerkt, dass ich gar nicht anders konnte, als diesem Ruf zu folgen, wenn mein Leben Sinn ergeben, an sein Ziel kommen soll.

Könnte es sein, dass nicht nur Paulus so von Gott gerufen wird? Dass Gott in jeden Menschen etwas hineingelegt hat, das seine ganz eigene Bestimmung ist? Was uns unverwechselbar macht und was nur ich oder nur du in diese Welt bringen können? Nicht immer ist dieser Ruf von Gott einer, den wir äußerlich und zwingend wahrnehmen. Manchmal ist es auch ein Ruf des Herzens. Ein leiser Ruf im Inneren, ein Gespür für etwas, wo es mich hinzieht. Es lohnt sich zu hören – mit den Ohren des Herzens: Wo fühle ich Lebendigkeit? Wonach sehne ich mich?
Aber sag mal, Paulus: Für uns heute bist du eine Lichtgestalt des frühen Christentums. Dabei hast du so eine dunkle Vergangenheit als Christenverfolger. Wie gehst du damit um?

P: Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin (vgl. 1Kor 15,10). Ich bin ein Mensch mit Fehlern und Schwächen. Was ich in meinem Leben erreicht habe, ist nicht mein Verdienst. Ich verdanke es Gott.

Das bringt mich ins Nachdenken, Paulus. Wie gehen wir in unserer Gesellschaft mit Fehlern um? Zeige ich Schwäche oder nicht eher Stärke, wenn ich Fehler zugebe? Wenn ich meine Meinung ändere, bin ich dann wankelmütig oder bereit, mich weiterzuentwickeln? Wenn wir wie Paulus von der Gnade leben, könnten wir dann nicht auch gnädiger mit uns selbst umgehen, anderen verzeihen und eine zweite Chance geben?
Die Christen, die Paulus verfolgt, werden als Anhänger des „Weges“ bezeichnet. Christ:insein als Weg, auch das spricht für einen offenen und barmherzigen Umgang mit Irrwegen, Umwegen und Abwegen. So wie Martin Luther es einmal formuliert hat: „Das Leben ist nicht ein Frommsein, sondern ein Frommwerden, nicht ein Gesundsein, sondern ein Gesundwerden, nicht ein Sein, sondern ein Werden, nicht eine Ruhe, sondern eine Übung. Wir sind’s noch nicht, wir werden’s aber. […] Es ist nicht das Ende, es ist aber der Weg.“
Paulus ist auf diese Weise unterwegs. Er hat offene Ohren und lässt sich von Gott rufen. Er ist noch nicht fertig. Er macht sich auf den Weg, auch wenn er diesen Weg hinein in die Stadt, nach Damaskus, buchstäblich nicht sehen kann. Wie wäre es, wenn ich auch meine Ohren öffne und zaghaft dem leisen Ruf des Herzens folge, von dem ich noch nicht weiß, wohin er mich führt?

2. Hananias: Offene Augen und sehender GehorsamNoch einer wird von Gott gerufen in dieser Erzählung. Es ist einer, den wir nicht so gut kennen wie Paulus. Stell dich uns noch einmal vor, Hananias.

H: Ich bin Christ und wohne in Damaskus. Auf einmal habe ich erlebt, dass Jesus mir nahekommt, ich konnte ihn sehen und hören – vielleicht mit meinen Augen und Ohren, vielleicht mit den Augen und Ohren des Herzens. Jedenfalls hat Jesus mich mit meinem Namen angesprochen. Und ich habe antwortet: „Hier bin ich!“

In der Bibel gibt es immer wieder Erzählungen, in denen Menschen von Gott angesprochen werden und mit diesem „Hier bin ich!“ antworten. Der Mensch ist immer schon angesprochen, sein eigenes Reden ist immer schon Antwort. Das kennen wir von Kindern in ihrer Entwicklung: Sie müssen angesehen, angesprochen werden, um sich entwickeln zu können. Wenn kleine Kinder zwar körperlich versorgt werden, aber keine Zuwendung und Ansprache bekommen, verkümmern sie. Der Mensch wird am Du zum Ich, sagt der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber. In der ersten Schöpfungserzählung der Bibel (Gen 1) ruft Gott durch sein Wort alles, was lebt, ins Dasein. Wir sind Gottes Geschöpfe, mit unserem ganzen Leben antworten wir darauf, dass wir von ihm angesehen und angesprochen sind.
Hananias wird also von Jesus angesprochen, und er antwortet: „Hier bin ich!“ Hananias öffnet seine Augen und Ohren, er öffnet sich für das, was das Leben an Herausforderungen an ihn stellt. Und darin begegnet ihm Jesus. Offene Ohren hatte auch Paulus, aber er wurde blind. Hananias dagegen bleibt sehend. Er stellt sich Gott zur Verfügung, aber es ist kein blinder Gehorsam, den Hananias an den Tag legt. Du hast ja nicht nur „Hier bin ich!“ geantwortet, Hananias.

H: Nein. Denn was dann kam, war ungeheuerlich! Jesus gab mir den Auftrag, Paulus die Hände aufzulegen und so von seiner Blindheit zu heilen. Da musste ich einfach widersprechen! Schließlich war der Mann ein brandgefährlicher Christenverfolger! Jesus hat mir aber Raum gelassen für meine Zweifel. Er hat mir erklärt, dass Gott genau diesen Menschen ausgewählt hat, um die gute Nachricht von Jesus weiterzutragen. Schließlich konnte ich einwilligen. Aber gewundert habe ich mich immer noch. Gottes Wege sind manchmal so ganz anders, als ich es erwarten würde.

Hier werden gewissermaßen Hananias die Augen geöffnet für das, was Gott vorhat und was größer ist als alles, was Hananias sich vorstellen kann. Gott hat keinen blinden Gehorsam von Hananias verlangt. Es war ein sehender Gehorsam. Das heißt: Ich darf und soll selber denken, mich mit meinen Fragen und Zweifeln einbringen, im Gespräch mit Gott sein. Gott will mich so, wie ich bin: mit meinem Stirnrunzeln, meinem Zögern, meinen Widerständen. Er lässt sich auf mich ein, und er will mich auf den Weg locken, den er für mein Leben hat und den ich noch nicht sehe.

3. Jesus öffnet AugenUnd dann kommt noch ein Dritter ins Spiel. Einer, der in diesem Geschehen um Paulus und Hananias schon die ganze Zeit da war. Und doch fällt es uns oft so schwer, ihn wahrzunehmen: Jesus, Gott. Er hat mit Paulus gesprochen, der blind wurde. Er hat mit Hananias gesprochen und ihm die Augen geöffnet zu einem sehenden Gehorsam. Und jetzt, am Ende der Erzählung, ist er scheinbar nicht mehr da. Hananias geht zu Paulus und legt ihm die Hände auf. Paulus fällt es wie Schuppen von den Augen und er kann wieder sehen. Das alles spielt sich nur zwischen Hananias und Paulus ab. Oder doch nicht?
Diese Geschichte erzählt, wie geheimnisvoll Gott oft wirkt. Jesus heilt Paulus nicht direkt, sondern durch Hananias, den er angesprochen hat. Jesus hat Hananias nicht nur die Augen geöffnet, sondern auch die Hände, die er jetzt auf Paulus legt, um ihn zu heilen. Gott wirkt in unserem Leben oft durch andere Menschen. Ein Gespräch, manchmal nur ein Wort, ein Blick, ein Händedruck – das kann etwas lösen in uns, kann heilsam wirken, kann uns die Augen öffnen für etwas, wofür wir vorher blind waren.
Aber dieses „Augen auf!“ kommt für Paulus nicht sofort, sondern erst nach drei Tagen. Nach drei langen Tagen, in denen er blind war, sich zurückzog, nicht aß und nicht trank. Drei Tage braucht seine Verwandlung vom Christenverfolger zum Christusverkündiger, so wie Jesus erst am dritten Tag nach seinem Tod auferstanden ist. Dann lässt Paulus sich taufen, isst wieder und beginnt, den Menschen von Jesus zu erzählen. Dann öffnen sich seine Augen und auch sein Mund und seine Hände. Aber es braucht diese Zeit. Nicht nur das „Augen auf!“ ist entscheidend, sondern auch das „Augen zu!“. Ich kann nicht immer die Augen offenhalten für alles, was auf mich einströmen will. Nur wenn ich meine Augen auch mal schließe, kann ich dann wieder sehen, was Gott mir durch andere Menschen von seiner heilsamen Nähe mitteilen will und wie andere durch mich diese heilsame Nähe Gottes erfahren.
Jesu heilende, heilsame Nähe – Paulus erfährt sie durch die Worte des Hananias, der ihn liebevoll als Bruder anspricht und ihm den Geist Gottes zuspricht. Und Paulus erfährt diese heilsame Nähe auch dadurch, dass Hananias ihm die Hände auflegt. Die Worte und die Handauflegung gehören zusammen. Auch Jesus heilt in den Schilderungen der Evangelien oft mit Worten und Berührungen zugleich. Wir sind leib-haftige Menschen. Unser Glaube ist nicht nur etwas für unseren Kopf. Gottes heilsame Nähe erfahren wir auch in unserem Körper und im Herzen. Wo hat mich etwas berührt? Wo ist in mir etwas heil geworden? Wo ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen? Könnte es sein, dass darin Spuren von Gottes Wirken in meinem Leben zu finden sind? Amen.

Wichtige Anregungen für diese Predigt sind entnommen aus:
Kirchenjahr evangelisch, 12. So. n. Trinitatis, 04.09.2022, https://www.kirchenjahr-evangelisch.de/article.php#1061 [abgerufen am 27.07.2022]
Das Zitat von Martin Luther findet sich in seiner Auslegung zu Phil 3,13 (WA 7, 336, 31f.).

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