13. Sonntag nach Trinitatis (03. September 2023)

Autorin / Autor:
Pfarrer Dr. Martin Weeber, Stuttgart [martin.weeber@elk-wue.de]

1. Johannes 4,7-12

IntentionDie Predigt will deutlich machen, dass Gott mit seiner Liebe zu uns in Vorleistung geht. Wir müssen uns seine Liebe nicht verdienen. Er macht den ersten Schritt. Und schön ist es, wenn wir seine Liebe weitergeben und auch unsererseits „erste Schritte“ tun. So soll das sein. Aber die Predigt will die Hörerinnen und Hörer auch von dem Druck entlasten, immer „lieb“ sein zu müssen.

Predigttext 1. Johannes 4, 7-12Ihr Lieben, lasst uns einander lieb haben; denn die Liebe ist von Gott, und wer liebt, der ist aus Gott geboren und kennt Gott. Wer nicht liebt, der kennt Gott nicht; denn Gott ist Liebe. Darin ist erschienen die Liebe Gottes unter uns, dass Gott seinen eingebornen Sohn gesandt hat in die Welt, damit wir durch ihn leben sollen. Darin besteht die Liebe: nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt hat und gesandt seinen Sohn zur Versöhnung für unsre Sünden. Ihr Lieben, hat uns Gott so geliebt, so sollen wir uns auch untereinander lieben. Niemand hat Gott jemals gesehen. Wenn wir uns untereinander lieben, so bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollkommen.

Liebe Gemeinde,
„immer nur lieb sein, das geht nicht.“ Dieses Zitat von Heide Simonis las ich am 14. Juli in der FAZ. Dieses Zitat eröffnete einen Gedenkartikel für die damals gerade Verstorbene ehemalige Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein.
„Immer nur lieb sein, das geht nicht.“
Heide Simonis hat aus Erfahrung gesprochen: Wenn man erfolgreich Politik betreiben will, wenn man etwas durchsetzen will: Dann kann man nicht immer nur lieb sein.
Als „direkt und durchsetzungsstark“ wurde Heide Simonis in diesem Zeitungsartikel beschrieben. Da kann man dann tatsächlich nicht immer nur lieb sein. Sonst setzen sich die anderen durch.
In der gleichen Zeitungsausgabe war ein großer Artikel zu lesen über den Bundeskanzler Olaf Scholz.
Dort wurde beschrieben, wie er sich in der Ampelkoalition verhält seinen Koalitionspartnern gegenüber:
„Scholz, der geduldige Vater, der die streitenden Kinder besänftigt und, wenn nötig, zur Ordnung ruft.“
Das hört sich fast so an, als hätte er unseren Predigttext gelesen.
Ich weiß nicht, wie Heide Simonis und Olaf Scholz zueinander standen – aber es wird da eine sachliche Spannung deutlich, die hinausgeht über persönliche Unterschiede:
„Lasst uns einander liebhaben“ und „Immer nur lieb sein, das geht nicht.
Eine Grundschullehrerin hat mir das Abschiedsgeschenk gezeigt, das sie am Ende des zweiten Schuljahres von ihrer Klasse erhalten hat.
Es war ein Album, für das jeder Schüler und jede Schülerin eine Seite gestaltet hat.
Es gab da eine Art von Formular, das von allen ausgefüllt wurde.
Unter anderem sollten da Eigenschaften der Lehrerin genannt werden.
Besonders interessant fand ich einen Eintrag.
Da hatte eine Schülerin geschrieben:
„Frau M. ist lieb und Frau M. ist streng.“
Die Schülerin hat da keinen Widerspruch gesehen.
Und ich denke, sie hat da etwas verstanden:
Liebe ist etwas anderes als „immer nur lieb sein.“
Gerade bei der Erziehung wird das deutlich:
Eltern, die immer nur lieb sind, tun ihren Kindern damit nichts Gutes.
Auch der geduldigste Vater, der die streitenden Kinder mit Engelsgeduld immer wieder besänftigt, ruft sie zur Ordnung, wenn es nötig ist.
Und es löst sich dann der Streit, sobald einer nachgibt.
Einer macht den Anfang.
Einer geht auf den andern zu.
Dann wird alles wieder gut.
Dann kann jedenfalls alles wieder gut werden.
Es ist gewiss nicht gut, wenn es immer die gleiche ist, die nachgibt.
Aber ganz ohne Einlenken geht es nicht.
Einer muss den Anfang machen.
Aber der Konflikt, der darf schon sein.
Liebe ist etwas anderes als „immer nur lieb sein.“
Wenn man sich das klar macht, dann geht einem vielleicht auch auf, dass der „Gott, der Liebe ist“ nicht einfach der „liebe Gott“ ist.
Gott ist Liebe – aber er ist nicht einfach der „liebe Gott“.
Gottes Liebe ist anspruchsvoll.
Gottes Liebe ist stark.
Gottes Liebe lässt sich ein auf Streit und Konflikt.

Einer macht den AnfangEiner macht den Anfang.
Dann wird alles wieder gut.
So sieht das auch der Schreiber des Briefes, dem der heutige Predigttext entnommen ist.
Aber er schreibt das nicht nur aus der Erfahrung eines Menschen, der sich auskennt damit, wie es zugeht zwischen Menschen.
Er schreibt das nicht nur als einer, der sich auskennt mit den Dynamiken, die sich in Gruppen abspielen.
Er schreibt das als einer, dem etwas über Gott aufgegangen ist.
„Darin besteht die Liebe: nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt hat und gesandt seinen Sohn zur Versöhnung für unsre Sünden.“
Gott hat den Anfang gemacht. Er hat die Initiative ergriffen.
Darin zeigt sich Gottes Liebe zu uns.
Er wartet nicht, bis wir unseren Trotz aufgeben.
Er wartet nicht, bis wir den Anfang machen.
Gott geht in Vorleistung.
Gott gibt uns einen Vertrauensvorschuss.
Martin Luther hat das einmal wunderschön beschrieben:
„Die Liebe Gottes findet das für sie Liebenswerte nicht vor, sondern sie erschafft es.“
Also: Gott liebt uns nicht, weil wir so liebenswürdig sind.
Andersherum: Wir sind liebenswürdig und liebenswert, weil Gott uns liebt.
So ist das: Wenn ich merke, dass ich geliebt werde, dann macht das was mit mir.
Wenn ich merke, dass ich geliebt werde, dann verändert mich das.
„Gott liebt mich“: Diese Erfahrung hat der Schreiber des Ersten Johannesbriefes gemacht.
Irgendwie ist ihm das an Jesus aufgegangen.
Und diese Einsicht beeindruckt ihn nachhaltig.
„Gott ist Liebe. Darin ist erschienen die Liebe Gottes unter uns, dass Gott seinen eingebornen Sohn gesandt hat in die Welt, damit wir durch ihn leben sollen.“
Das ist dem Briefschreiber aufgegangen:
Gott hat seinen Sohn Jesus Christus in die Welt gesandt, damit wir durch ihn leben sollen.
Aus Liebe zu uns hat er das getan.
Nicht als Belohnung, weil wir uns immer so brav verhalten.
Nein: Gott sendet seinen Sohn zu uns, obwohl wir uns alles andere als vorbildlich verhalten.
Diese Einsicht beeindruckt den Briefschreiber Johannes ungemein.
Diese Einsicht verändert sein Lebensgefühl grundlegend.
Er hat gemerkt:
Ich werde nicht besser, wenn ich unter Druck gesetzt werde.
Und die Leute werden nicht besser, wenn ich sie unter Druck setze.
Anders verhält es sich:
Ich werde besser, wenn ich merke, dass ich geliebt bin.
Ich werde besser, wenn ich merke, dass ich von Gott geliebt bin.
Und die Leute werden dann besser, wenn sie merken, dass ich sie liebe.
Die Liebe, die ich spüre, die gebe ich weiter.
Kann der, der spürt, dass er geliebt wird, noch lieblos sein?
Eigentlich nicht.

Selbst den Anfang machenDer Briefschreiber trägt Verantwortung für die Gemeinde.
Und wer Verantwortung trägt, der kann nicht immer nur lieb und nett sein.
Er muss Vorgaben machen, Fristen setzen, Aufträge erteilen.
Er muss kontrollieren, ob Abmachungen eingehalten werden.
Jede Rektorin einer Schule kann davon ein Lied singen.
Jeder, der einen Betrieb führt oder eine Abteilung leitet, weiß, dass er die Zügel in der Hand behalten muss.
Aber die Rektorin und der Chef dürfen nicht vergessen, ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter grundlegend zu schätzen, ja sie auf angemessene Weise zu lieben.
Und bei Eltern ist’s im Umgang mit den Kindern genauso:
„Immer nur lieb sein, das geht nicht.“ Aber die Liebe soll immer das Fundament der Beziehung bleiben.
Solche Menschen gibt es ja:
Menschen, denen man so eine Grundsympathie anmerkt.
Menschen, bei denen man den Eindruck hat: „Der will mich nicht in die Pfanne hauen.“
Ich denke: So eine Grundsympathie gedeiht ganz gut bei Leuten, die den Eindruck haben, dass Gott sie liebt – obwohl sie alles andere sind als vollkommen.
„Gott hat euch zuerst geliebt – und nun liebt euch untereinander.“
Vielleicht macht das der Kanzler schon ganz geschickt, wenn er wie ein „geduldiger Vater die streitenden Kinder besänftigt und, wenn nötig, zur Ordnung ruft“.
Wenn es sein muss, zur Ordnung rufen. Klar und deutlich.
Aber dann auch wieder versöhnlich sein und nicht nachtragend.
Die Rachegedanken wieder verfliegen lassen.
Den heißen Zorn wieder abkühlen lassen.
Immer wieder den ersten Schritt machen.
Und darauf vertrauen, dass Gott auch immer wieder auf uns zukommt.
Dann kommen alle voran.
Amen.

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