14. Sonntag nach Trinitatis (18. September 2022)

Autorin / Autor:
Professor Dr. Michael Gese, Ludwigsburg [m.gese@eh-ludwigsburg.de ]

Jesaja 12,1-6

IntentionDie vorliegende Predigt will der Dimension des Zornes Gottes nachgehen und zu einem tieferen Verständnis des Lobes Gottes anleiten.

Liebe Gemeinde!
Wie schön ist es, wenn man Gott loben kann für all das Gute, das man empfangen hat! Wenn man voll Dankbarkeit in den Jubel einstimmen und ihm mit Freude Lieder singen kann, wie es der Psalm uns ans Herz legt: „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat!“ (Ps 103,2 = Wochenspruch). Wie aber ist das für Menschen, denen heute gar nicht nach Loben zumute ist? Die in ihrer Situation gerade nichts Gutes sehen können, wofür Sie Gott loben sollten? Fühlen sie sich da nicht ausgeschlossen?
Wir hören heute ein herrliches Loblied als Predigttext. Voller Überschwang und Freude – und doch übergeht es die nicht, denen momentan nicht nach Loben zumute ist!
Hören Sie Jesaja 12,1-6 aus der Lutherübersetzung von 1984:

12,1 Zu der Zeit wirst du sagen:
Ich danke dir, HERR, dass du bist zornig gewesen über mich
und dein Zorn sich gewendet hat und du mich tröstest.
2 Siehe, Gott ist mein Heil,
ich bin sicher und fürchte mich nicht;
denn Gott der HERR ist meine Stärke und mein Psalm
und ist mein Heil.
3 Ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfen
aus den Heilsbrunnen.
4 Und ihr werdet sagen zu der Zeit:
Danket dem HERRN,
rufet an seinen Namen!
Machet kund unter den Völkern sein Tun,
verkündiget, wie sein Name so hoch ist!
5 Lobsinget dem HERRN, denn er hat sich herrlich bewiesen.
Solches sei kund in allen Landen!
6 Jauchze und rühme, du Tochter Zion;
denn der Heilige Israels ist groß bei dir!

Eine Zumutung?!Ist das nicht eine Zumutung?! „Ich danke dir, Herr, dass du bist zornig gewesen über mich und dein Zorn sich gewendet hat und du mich tröstest.“ Wie kann man Gott für seinen Zorn danken? Diese Worte haben mich beschäftigt: Da dankt jemand für den Zorn Gottes. Wie kann das sein, und was ist das eigentlich: Zorn Gottes? Hat diese dunkle Seite überhaupt Platz in unserem Gottesbild? Haben wir uns unsere Vorstellungen von Gott so zurechtgestutzt, dass so etwas wie Zorn gar nicht mehr vorkommt? Wir mögen ja viel lieber die blumigen, lieblichen Worte aus der Bibel. Die picken wir uns heraus, die anderen lassen wir weg. Wenn man die Lutherbibel zur Hand nimmt und nur die fett gedruckten Stellen liest, dann hüpft man automatisch von einer lieblichen Stelle zur nächsten. Es ist typisch, dass in unserem Predigttext der Vers 2, also die schönen, vollmundigen Worte dick gedruckt sind: „Gott ist mein Heil, ich bin sicher und fürchte mich nicht“ – das geht runter wie Öl. Das andere aber stößt hart auf: „Ich danke dir, Herr, dass du bist zornig gewesen.“ Doch ich will gerade bei der Provokation bleiben, denn sie entspricht dem Urtext!

Wo begegnet uns der Zorn Gottes?Ich habe mich gefragt: Wo begegnet uns der Zorn Gottes? Vielleicht sind es gerade die Momente im Leben, wo uns nicht nach Loben und Danken zumute ist, wo sich einem die Kehle zuschnürt und man nur noch fragt: Warum musste das so kommen? Da ist die Freude weg, da ist der Glanz aus dem Leben gewichen, und alles grau und trist geworden.
Als der Prophet seinen Israeliten damals dieses Lied vorsang, da lebten sie in einer weltpolitisch schwierigen Situation. Ich könnte mir vorstellen, dass es ihnen die Kehle zuschnürte und ihnen gar nicht nach Singen und Loben zumute war. Sie waren in die Hand der Feinde gefallen, ihr Land war gebrandschatzt und viele waren verschleppt worden. Selbst der Tempel, der Ort der heiligen Freude, war nur noch eine Ruine. Ihr Leben war mit einem Mal zerbrochen. Hatte der Prophet Jesaja ihnen nicht das ganze Unheil vorhergesagt? Hätte es da nicht nahegelegen, sich von Gott enttäuscht abzuwenden? Aber Jesaja und die anderen Propheten wollen, dass sie umkehren und neu ihr Vertrauen auf Gott setzen. Sie sollen erkennen, dass Gott größer ist, nicht nur herrlicher, sondern auch furchtbarer, als sie es sich in ihren Vorstellungen ausgemalt hatten.

Gottes Zorn und Gottes LiebeAuch uns soll die Rede vom Zorn Gottes daran erinnern, dass Gott unsere Vorstellungen übersteigt. Und dass darum nichts selbstverständlich ist. Es kann sein, dass unser Lebenskonzept durchkreuzt wird und unsere Rechnungen nicht aufgehen. Gott ist unermesslich und seine Größe unausforschlich. Aber es wäre auch falsch, würde man nur die dunkle Seite Gottes im Blick behalten. Jesaja stimmt ein Freudenlied an – nicht nur für die Fröhlichen, sondern gerade auch für die, die den Zorn erlebt haben: „Zu jener Zeit wirst du sagen: Ich danke dir, Herr, dass du bist zornig gewesen über mich und dein Zorn sich gewendet hat und du mich tröstest.“ Hier spricht einer, der den Zorn kennt. Und der mit einem Mal spürt: Gott wendet das Leid. Er führt das Leid herbei, aber er bleibt dabei nicht stehen. Er führt hindurch. Und: Er tröstet auch wieder. Von diesem Trost her bekommt alles einen anderen Sinn. Darum: Man darf den Zorn Gottes nie isoliert betrachten, denn sonst könnten wir Gott nie begreifen. Vielmehr sollen wir ihn sehen im Zusammenhang mit seiner Liebe, seiner Zuwendung, seinem Trost.

„Zu jener Zeit…“Doch wie lässt sich das zusammendenken? Wer den Zorn Gottes zu spüren bekommt, kann von Liebe zunächst nichts erkennen. Höchstens im Nachhinein – dann, wenn die Wunden wieder verheilt und viele Jahre darüber gegangen sind. Vielleicht kann man dann erahnen: Das, was ich erlitten hatte, hatte einen Sinn. Ganz bewusst steht am Anfang: „Zu jener Zeit wirst du sagen: […].“ Es wäre eine Überforderung, wollte man den Dank einfordern, solange man in der Situation steckt. Dank für den Zorn, das ist erst im Rückblick möglich. Vielleicht lässt sich dann spüren, dass wir auch in der Zeit der Not nicht allein waren, dass wir auch da von ihm geliebt waren und getragen, auch wenn der Trost noch fern schien. Immer wieder erzählen mir Menschen in der Seelsorge, dass etwas Schweres und Leidvolles sie näher an Gott gebracht habe. Und dass es eine Erfahrung war, die sie heute nicht missen wollten. Wie aber sollen wir uns das vorstellen?

Viktor Frankls ErfahrungViktor Frankl, der Begründer der Logotherapie, erzählt in seinen Lebenserinnerungen, wie er mitten in den schrecklichen Erlebnissen von Auschwitz plötzlich von dem Gedanken beseelt wurde, dass er diese Grausamkeiten eines Tages am „Rednerpult in einem großen, schönen, warmen und hellen Vortragssaal […] vor einer interessierten Zuhörerschaft“ vortragen werde. Alles, was ihm an Schrecklichem widerfährt, registriert er von da an als Material für seinen späteren Vortrag. Und dieser Gedanke gibt ihm Kraft. Er hilft ihm, mit dem angetanen Unrecht besser umzugehen. Er weiß, dass alles, was geschieht, Inhalt seines späteren Vortrags sein wird. Durch glückliche Umstände überlebt er das KZ, und es kommt tatsächlich zu dem besagten Vortrag: „Ein Psychologe erlebt das KZ“. Das Buch wird zum Bestseller. Und zugleich waren die Erfahrungen, die Frankl gemacht hatte, die Grundgedanken seiner späteren Logotherapie. Er erkannte, wie wesentlich es für den Menschen ist, Sinnhaftigkeit zu erfahren. Und dass gerade darin Überlebenskraft steckt. So konnte sich Frankl von dem, was er erlebte, innerlich distanzieren, und zugleich das sinnlose Leiden einem später sich zu erschließenden Sinn zuordnen.

Vertieftes GotteslobDas ist – zugegebenermaßen – eine unglaubliche Geschichte. Aber sie lehrt uns, dass der Hinweis auf eine zukünftige neue Sicht der Dinge nicht bloß eine Vertröstung ist. „Zu der Zeit wirst du sagen: […]“ Dieser Blick kann schon jetzt Auswirkung auf mein Leben haben. Er wird mich verändern.
Und wenn manchen unter uns die Zuversicht abhandengekommen ist, wenn sie in einer Situation leben, in der sie Gott nicht unbeschwert loben können, dann schenkt dieses Lied neue Kraft. Wir erleben ja zur Zeit, wie manche Selbstverständlichkeit ins Wanken geraten ist. Wir wissen nicht, was die kommenden Zeiten bringen werden. Das Lied lehrt uns, unsere eigene Situation von einem anderen Blickwinkel anzuschauen: „Zu jener Zeit wirst du sagen…“ Das ist nicht nur der Blick auf unsere Situation in einigen Jahren, sondern es ist der Blick Gottes auf mein Leben. Und aus dieser Perspektive haben Lob, Dank und Freude ihren Platz!
Loben und Danken, das fällt leicht, wenn einem nichts Schweres auferlegt wurde. Aber es wird ein oberflächliches Loben und Danken bleiben. Gott loben und danken, gerade wenn ich erlebt habe: Er führt mich durch Schweres hindurch und lässt mich nicht allein, das ist ein Lobpreis, der aus der Tiefe emporsteigt. Es ist der Lobpreis, der durch die Tiefe gegangen ist und der erfahren hat, dass Gott den Tod überwindet und Leben schenkt. Ein solches Lied weiß von Gott viel mehr zu sagen, weil es von einem Gott weiß, der selbst in die Tiefe hinabgestiegen ist. Das hat bereits einen österlichen Klang. Und darum ist jeder Jubel, der aus der Tiefe emporsteigt, eigentlich ein österlicher Jubel.

Glaube wie ein VogelGlaube ist wie ein Vogel, welcher singt, wenn die Nacht noch dunkel ist, so hat der indische Dichter Tagore das auf den Punkt gebracht. Jesaja will uns ans Herz legen, in das Lob einzustimmen, auch wenn die Dunkelheit noch nicht vorbei ist, voller Vertrauen darauf, dass Gott hilft, dass er durchträgt und vollendet, was er verheißen hat:

„1 Zu der Zeit wirst du sagen:
Ich danke dir, HERR, dass du bist zornig gewesen über mich
und dein Zorn sich gewendet hat und du mich tröstest.
2 Siehe, Gott ist mein Heil, ich bin sicher und fürchte mich nicht;
denn Gott der HERR ist meine Stärke und mein Psalm
und ist mein Heil.“
Amen.

Literaturhinweis
Viktor E. Frankl, Was nicht in meinen Büchern steht. Lebenserinnerungen, Weinheim, Basel 2002, S. 77.

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