14. Sonntag nach Trinitatis (21. September 2025)

Autorin / Autor:
Pfarrerin Dr. Henrike Frey-Anthes, Schwäbisch Hall

1. Mose 28, 10-19a (19b-22)

Intention„Hier wohnt Gott, und ich wusste es nicht“, sagt Jakob. Diese Erfahrung verändert ihn. Gottesdienst ist wie eine Leiter zum Himmel. Durch ihn verändert Gott Menschen, langsam und vielleicht manchmal unbemerkt, aber stetig.

PredigttextAber Jakob zog aus von Beerscheba und machte sich auf den Weg nach Haran und kam an eine Stätte, da blieb er über Nacht, denn die Sonne war untergegangen. Und er nahm einen Stein von der Stätte und legte ihn zu seinen Häupten und legte sich an der Stätte schlafen. Und ihm träumte, und siehe, eine Leiter stand auf Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder. Und der HERR stand oben darauf und sprach: Ich bin der HERR, der Gott deines Vaters Abraham, und Isaaks Gott; das Land, darauf du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. Und dein Geschlecht soll werden wie der Staub auf Erden, und du sollst ausgebreitet werden gegen Westen und Osten, Norden und Süden, und durch dich und deine Nachkommen sollen alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden. Und siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst, und will dich wieder herbringen in dies Land. Denn ich will dich nicht verlassen, bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe.
Als nun Jakob von seinem Schlaf aufwachte, sprach er: Fürwahr, der HERR ist an dieser Stätte, und ich wusste es nicht! Und er fürchtete sich und sprach: Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts anderes als Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels. Und Jakob stand früh am Morgen auf und nahm den Stein, den er zu seinen Häupten gelegt hatte, und richtete ihn auf zu einem Steinmal und goss Öl oben darauf und nannte die Stätte Bethel.

JakobDie Sonne ist hinter dem Horizont versunken, und der schwarze Nachthimmel wölbt sich über Jakob. Er hat sich in den Sand gelegt. Noch ist der Boden warm von der Tageshitze. Bald aber wird es empfindlich kühl werden. Jakob muss schlafen. Morgen muss er sich früh aufmachen. Er will die kühlen Morgenstunden ausnutzen, bevor die Sonne im Zenit steht und ihm den Nacken verbrennt. Bevor der Sand zu heiß wird für seine von Dornen zerstochenen Füße. Nur – wie soll man schlafen, wenn der Stein auf der Brust noch viel schwerer und härter ist als der unter dem Kopf? Wenn das Herz noch dunkler und schwärzer ist als der Nachthimmel, der sich über einem wölbt? Immer wieder kreisen die Gedanken in Jakobs Kopf. Wer bin ich? Ein Gesegneter unter falschem Namen? Ein zu spät geborener im Mantel des Erstgeborenen? Ein geliebtes Kind oder ein ewiger Zweiter?
Ach. Wie hatte es so weit kommen können. Hatte er tatsächlich gedacht, das würde funktionieren? Hatte Rebekka gehofft, die Konkurrenz ihrer zwei Söhne hätte mit der Durchsetzung ihrer eigenen Vorstellungen endlich ein Ende? Hatte sie gemeint, dass sie so miteinander leben könnten? Die Mutter verflucht, der Sohn gesegnet? Und hatte Isaak seinen Händen wirklich mehr getraut als seinen alten Ohren? „Du fühlst dich an wie Esau, aber die Stimme ist die von Jakob“ – sollte das der tragende und gute Grund für Isaaks Entscheidung gewesen sein, den Jüngeren zu segnen? Und: Hatte er, Jakob selbst, tatsächlich gehofft, Esau würde den Betrug akzeptieren? Esau würde sich ihm, Jakob, unterordnen? Er würde Jakob das Feld überlassen?
Im Nachhinein scheint es Jakob, als sei allen von Anfang an klar gewesen, dass das Ganze ein einziger großer Selbstbetrug war. Aber andererseits – hat er nicht einfach nur getan, was alle von ihm erwartet hatten? Er ist doch Jakob und eigentlich hätte er der erste sein sollen. Er. Nicht Esau. Sein Zwillingsbruder. Am Ende war es doch eher ein Zufall gewesen, dass Esau als Erster geboren worden war. Und überhaupt, Esau hatte ihm das Erstgeburtsrecht verkauft. Freiwillig. Selbst schuld.
So ganz glaubt Jakob sich selbst nicht. Und so kreisen die Gedanken. Immer wieder dieselben Fragen. Immer wieder dieselben Zweifel. Irgendwann muss Jakob wohl doch eingeschlafen sein, denn in einem Augenblick geschieht es. Mitten in der Nacht öffnet sich der Himmel. Jakob sieht Engel. Wie auf einer Treppe. Sie sind zu Fuß unterwegs. Sie fliegen nicht. Sie gehen zu Fuß. Genau wie Jakob. Erstaunlich. Noch erstaunlicher ist aber: Sie kommen nicht vom Himmel. Sie gehen von der Erde hinauf in den Himmel hinein und von dort auf die Erde zurück. Als ob sie Jakob mitnehmen wollen. Von der staubigen, kalten, harten Erde voller Steine in den Himmel und wieder zurück. Andererseits auch wieder gar nicht so erstaunlich Dafür sind Gottesboten doch da. Dass sie Menschen mitnehmen auf dem Weg in Richtung Gott. Und so nehmen sie Jakob mit. So weit, dass Jakob auf einmal hört. Gottes Stimme mitten in der Nacht. „Siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst, und will dich wieder herbringen in dies Land. Jakob, ich bin mit dir. Ich begleite dich auf deinem Weg. Du bist nicht allein.“
Als Jakob am nächsten Morgen erwacht, ist er immer noch in der Wüste. Immer noch weiß er nicht, was die Zukunft bringen wird. Immer noch liegt ein Weg vor ihm. Aber er weiß: Hier ist Gott. Das wusste er vorher nicht. „Hier ist Gott und ich wusste es nicht.“ Jakob richtet den Stein auf. Salbt ihn mit Öl und gibt dem Ort einen Namen: Bethel. Haus Gottes. Eines Tages wird dort ein Tempel stehen. Ein Haus für Gott. Niemand soll mehr an diesem Ort vorbeigehen und sagen müssen: „Hier wohnt Gott, und ich wusste es nicht.“

Hier wohnt Gott, und ich wusste es nicht„Hier wohnt Gott, und ich wusste es nicht.“ Jakob hat Recht. Was weiß er schon. Da, irgendwo im Nirgendwo. Zwischen zu Hause und einer fremden neuen Heimat. Zwischen dem, wo er herkommt und dem, wo er hingeht. Zwischen Ursprung und Ziel. Zwischen einer ungewissen Zukunft und einer komplizierten Vergangenheit. Mit nichts als einen Stein als Kopfkissen und einem Haufen Lügen im Gepäck. Und einer Geschichte, in der es immer nur um ihn selbst geht. Immer geht es um Jakob. Von Anfang an. Das war schon immer so. Aber in dieser Nacht wird das anders. Nichtsahnend wird Jakob von Gott überrascht. Im Dunkeln. Als Jakob am verletzlichsten ist. Ausgerechnet hier, ausgerechnet jetzt. Wer hätte das gedacht.
„Hier wohnt Gott, und ich wusste es nicht.“ So übersetzt Luther. Im Hebräischen Text steht aber noch mehr. Man könnte den Satz auch übersetzen: „Hier wohnt Gott, und ich habe mich selbst vergessen“ oder „Hier wohnt Gott, und ich wusste nichts mehr von mir selbst.“ In dieser Nacht vergisst Jakob sich selbst. Jakob sieht nicht mehr auf sich. Er sieht auf Gott. Das „Ich“ schweigt, und so begegnet es Gottes „Du“.
Die Begegnung mit Gott und den Engeln mitten in der Nacht verändert Jakob. Nicht mehr er selbst steht im Mittelpunkt seines Lebens. Jakob sieht von sich ab. Er sieht nicht das eigene „Ich“. Er sieht Gottes „Du“. Etwas Anderes, Größeres ist in Jakobs Leben getreten. Auf dem Weg in ein neues Leben sieht Jakob, sieht nicht mehr auf sich. Er sieht auf Gott. Das verändert ihn. Nicht schlagartig. Nicht umwälzend. Jakob braucht Zeit dafür. Fast ein ganzes Leben. Jakob hat noch viele Kämpfe zu bestehen. Der wichtigste geschieht wieder in der Nacht, kurz bevor Jakob seinem Zwillingsbruder Esau vor Augen treten muss. Als nach diesem letzten Kampf die Sonne für Jakob aufgeht, ist er endgültig verändert. Jakob ist ein anderer geworden. Der Weg ist zu Ende. In dieser Nacht hat Jakob seinen eigenen Segen errungen. Jetzt ist Jakob kein verleideter Esau mehr. Kein Zweitgeborener, der um sein Recht kämpfen muss. Endlich ist Jakob zu dem geworden, der er schon immer für Gott gewesen ist. Jakob wird zu dem, als der er gemeint ist. Aus Jakob wird Israel. Endlich muss er sich nicht mehr verstellen. Endlich ist er er selbst. So tritt er seinem Bruder Esau entgegen, und so kann er zu seinem Bruder sagen: „Ich sehe dich, als sähe ich das Angesicht Gottes.“ Der Blick auf Gott hat Jakob sich selbst erkennen lassen. So kann er auch seinen Bruder sehen. Ihn in den Blick nehmen. Von sich selbst absehen und sich versöhnen. Wer hätte das gedacht.

Am Fuß der Himmelsleiter fängt alles anMit einer Treppe beginnt es. Am Haus Gottes fängt alles an. In Bethel. An einem Ort, an dem Himmel und Erde sich berühren. An einem Ort, wo Gott wohnt. Dort lernt Jakob, auf Gott zu sehen. Er lernt zu beten. Er lernt zu vertrauen. Und am Ende lernt er, sich zu versöhnen. Dafür muss Jakob er selbst werden. Er wird es dadurch, dass er von sich absieht. Und am Ende steht der Segen. Er macht Jakob zu dem, als der er gemeint ist.
Mit einer Treppe zum Himmel beginnt es. Am Haus Gottes fängt alles an. In Bethel. An einem Ort, an dem Himmel und Erde sich berühren. An einem Ort, wo Gott wohnt. Wir sind hier an so einem Ort. Hier in der Kirche. Im Haus Gottes. Hier berühren sich Himmel und Erde. Im Gottesdienst. Gottesdienst ist für mich wie eine Treppe zum Himmel. Sie hat viele Stufen. Die bestehen aus Liedern, aus Worten, aus Schweigen, aus Erinnerungen und Zukunftshoffnung.
Für mich ist die Geschichte von Jakob eine Geschichte über das, was Gottesdienst vermag. Ich glaube, dass Gottesdienst Menschen verändert. Nicht schlagartig, nicht umwälzend. Ganz langsam geht es. Dazu braucht es ein ganzes Leben. Dafür braucht es viel Übung. Manchmal merkt man es überhaupt nicht. Aber manchmal geschieht es doch. Manchmal schaffe ich es, von mir selbst abzusehen und Gott in den Blick zu nehmen. Ich lasse meine Verletzungen zu und schäme mich nicht für meine Schwächen. Ich übe mich im Vertrauen und verlasse mich auf Gottes Wort. Ich bete mit Psalmworten, die schon so viele Menschen vor mir gebetet haben. Ich mache sie mir zu eigen und sehe im Gebet nicht nur mich, sondern auch all die anderen, die vor mir die Worte gebetet haben. Die sie in ihr Leben getragen haben und mit ihnen umgegangen sind.
Manchmal tritt Im Gottesdienst etwas Größeres in mein Leben. Dann spüre ich, wie aus einer Versammlung von „Ichs“ eine Gemeinschaft und ein Gegenüber für Gottes „Du“ wird. Beim Stillen Gebet. Oder wenn wir gemeinsam singen und alle Stimmen sich miteinander verweben und die Töne lebendig werden lassen. Im Friedensgruß beim Abendmahl. „Friede sei mit dir“. „Und mit dir“. Versöhnung.
Und dann höre ich den Segen, am Ende eines jeden Gottesdienstes. Er geht mit mir in meinen Alltag. Auf verworrenen Wege und in eine ungewisse Zukunft. Was weiß ich schon. Ich bin ja noch unterwegs. Woher ich komme, ahne ich. Aber wohin ich gehe? Was auf mich zukommt? Keine Ahnung. Aber ich weiß, Gottes Segen begleitet mich. „Siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst. Ich bin mit dir. Ich begleite dich auf deinem Weg. Wenn du fortgehst und wenn du wieder zurückkommst. Du bist nicht allein.“ Eines Tages, wenn ich angekommen bin, dann werde ich im aufgehenden Licht des Segens die werden, die ich sein soll. Wer hätte das gedacht. Amen.

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