15. Sonntag nach Trinitatis (09. September 2018)

Autorin / Autor:
Pfarrer i.R. Dr. Werner Grimm, Tübingen [werner-grimm.verlag@t-online.de]

Galater 5, 25-26; 6, 1-10

Liebe Gemeinde!
Zur Religion eines Menschen gehört, wie die andere Seite einer Medaille, ein ihr entsprechendes Ethos. Wer sein Leben in Ehrfurcht vor dem Schöpfer führt, der zeigt auch Ehrfurcht vor dem Leben seiner Geschöpfe. Wer Gott als die Macht der Liebe anbetet, ist sicherlich ein Mensch, der in seinem Leben lieben und geliebt werden möchte. Es mag Leute ohne Ethos geben, und der Volksmund hat für sie das passende Wort ‚gewissenlos‘ – die haben dann auch keine Religion, aber die Regel sind sie nicht. Das Normale ist, dass wir allein schon für die Selbstachtung ein Ethos brauchen.
Was gehört zu einem Ethos? Dazu gehört als Allererstes eine Motivation, ein Beweggrund. Aus welchem Antrieb bemühe ich mich um das, was ich für gut halte?

Der Apostel sagt für seine Person: Dass ich zu Christus Jesus gehöre, das motiviert mich zu einem Leben in seinem „Geist“, wörtlich: „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dahingegeben.“ Klingt etwas mystisch, aber wir verstehen: Christus – das war für Paulus, als Er sich ihm vor Damaskus offenbarte, die sein ganzes Leben umstürzende Liebeserklärung Gottes. Und wie das so ist mit den Liebeserklärungen, die das ganze Lebensgefüge erschüttern: Da möchte man gleichsam die ganze Welt umarmen; jedes bittere Gefühl schmilzt dahin; das Herz empfängt eine Kraft, allen Menschen gütig, ja beinahe zärtlich zu begegnen; selbst Feinden lässt sich jetzt leicht verzeihen; alles soll jetzt gut werden. Voll der Liebe und des Glückes und des Dankes will Paulus fortan für seinen ‚Lebensretter‘ leben. Und die Frucht dieses ihn treibenden ‚heiligen Geistes‘ ist Liebe, Freude, Friede... Und Fleisches Begierden werden keine Macht mehr über ihn haben.

Christlicher Grund-SatzSodann braucht ein Ethos Normen, Maßstäbe, Messlatten des Handelns. In der komprimierten Form seiner Ethik plakatiert Paulus nur eine Grund-Norm, den einen Wert, von dem sich vieles andere wird ableiten lassen: „Einer trage des anderen Last – so werdet ihr die Norm Christi erfüllen.“ Sie wurde oft traktiert, diese Formel gelebten Christentums, aber wohl nicht immer richtig verstanden. Sie wurde missverstanden, wenn man ihr vorwarf, hiermit würde eine eklige Unterwürfigkeit der Christen eingeübt, und es würden die Christen deformiert zu Lastträgern der Herrschenden und Mächtigen. Mit dieser Fehlinterpretation hat man das entscheidende „einer...des andern“ übersehen. Man hat das übersehen, was ein Christian Fürchtegott Gellert in ein Gespräch zwischen einem Lahmen und einem Blinden verdichtet hat, nämlich die Wechselseitigkeit des Prinzips:
„Entschließe dich, mich fortzutragen,
so will ich dir die Stege sagen:
So wird dein starker Fuß mein Bein,
mein helles Auge deines sein.
Du hast das nicht, was andere haben,
und anderen mangeln deine Gaben.
Wenn jenem nicht die Gabe fehlte,
die die Natur für mich erwählte,
so würd er nur für sich allein
und nicht für mich bekümmert sein.“

Aber auch dieser Gedanke erreicht noch nicht die Tiefe des „Einer trage des anderen Last“, denn man könnte Gellerts Verse auch im Sinne von „Eine Hand wäscht die andere“ verstehen. Das klingt zwar ähnlich, bleibt aber auf der Oberfläche des Kalküls. Da benutzt man einander auf Wechselseitigkeit, und es führt zu berechnenden Partnern und zu berechneten Verhältnissen und Beziehungen, die dann aus Mangel an Liebe sterben.

„Eine trage des anderen Last“ dagegen – das greift in die tiefste Verbundenheit zwischen zwei Menschen: Es darf unter Christen ein Mensch dort, wo er am schwersten an sich trägt, z.B. durch eine Verwundung in seiner frühesten Kindheit – es darf ein Mensch an seiner wundesten Stelle hoffen, dass da jemand ist, der ihn mit eben dieser ‚Unmöglichkeit‘ erträgt, der sich mit ihm unter eine nicht abzuwerfende Last stellt, – einer, der nicht die Geduld aufkündigt im Sinne von: „Ich kann es nicht mehr hören!“ oder „Ich halt das nicht mehr aus!“
Es geht dies ganz gewiss nicht ohne den Schmierstoff der Liebe. Und es geht wohl auch nur so, dass, wer eines anderen Menschen Last trägt, selbst Menschen hat, die nun ihn tragen und ertragen, wo seine größte Wunde oder Schwäche oder Angst sitzt.

Die Sensibilität der Liebe – ein oft überlesener VersteilBezogen auf die „Wunde“ im Leben eines Menschen fügt Paulus hier im Galaterbrief eine Mahnung hinzu, die steht im Neuen Testament nur an dieser einzigen Stelle, und auch bei den antiken Philosophen findet man sie nicht, – sie muss Paulus hier ganz besonders am Herzen gelegen haben – in Vers 26: mä ginoometha allälous prokaloumenoi allälois phtonountes: den anderen Menschen nicht „provozieren“, so heißt das griechische Wort an dieser Stelle ganz genau, und – so ergänzt Paulus im gleichen Atemzug – den anderen Menschen nicht mit Neid und Missgunst verfolgen.

Sollten das „Provozieren“ und das „Beneiden“ auf eine und dieselbe zwischenmenschliche Situation bezogen sein? Hagar z.B. provozierte Sara: Ätsch, die kann keine Kinder kriegen! Die Ehefrau Abrahams reagierte prompt: Sie beneidete Hagar nicht nur, sondern verfolgte sie ab sofort mit ihrem Hass …

Zum Beispiel – eine Kurzgeschichte von Guy de MaupassantEine Erzählung des französischen Dichters Guy de Maupassant verdeutliche uns nun weiter, was Paulus mit dem „einander nicht provozieren“ gemeint hat und wo er dem Heiligen Geist ein besseres Verhalten zutraut. In einer Kurzfassung (1):

Jeanne und ihr Vetter Jacques hatten sich gefunden, und von dem Tag an war es die Entfaltung aller Liebesspiele ... Sie gingen spazieren, sie beide allein, ganze Tage in den Wäldern, wo das Gras voller Feldblumen stand ... Sie genossen den Zauber sachter Liebkosungen, von Händen, die sich drücken, und Blicken, in denen die Seelen zu verschmelzen schienen...
Die beiden Mütter und deren Schwester, Tante Li, betrachteten die junge Liebe mit gerührtem Lächeln. Tante Li, sie war eine kleine Frau, die wenig sprach und nur zu den Essenszeiten auftauchte, dann sogleich wieder verschwand in ihr Zimmer. Ihre beiden Schwestern, die verwitwet waren und ihren Platz in der Welt gehabt hatten, behandelten Li wie einen Gegenstand, der ohne eigentlichen Nutzen war. Mit einer Zuneigung, die sich aus Mitleid und wohlwollender Gleichgültigkeit zusammensetzte. Und die jungen Leute stiegen nie zu ihr ins Zimmer hinauf, um ihr einmal einen Kuss zu geben. Allein die Magd drang zu ihr vor. Man schickte nach ihr, wenn man etwas von ihr wollte. Tante Li – wenn sie nicht da war, vermisste man sie nicht. Sie war eines jener ausgelöschten Wesen, die selbst ihren Nächsten unbekannt, gleichsam unerschlossen bleiben, und deren Tod einmal keine Leere im Haus hinterlässt, nicht einmal bei denen, die Seite an Seite mit ihnen leben. Sie ging stets mit kleinen, eiligen, stummen Schritten, war nie laut, stieß nie etwas um. Ihre Hände schienen aus einer Art Watte gemacht, so fein und zart handhabten sie alles, was sie berührten. Die Hündin Lou besaß da ohne Zweifel eine stärkere Persönlichkeit, und sie verhätschelte und tätschelte man auch unablässig: liebe Lou, schöne Lou, kleine Lou...
Eines Frühlingsabends nun schlenderten die zwei Verliebten wieder einmal über die Wiese zum See. Drückten einander die Finger... Mehr zufällig entdeckte Jeanne beim Zurückschauen im Fensterrahmen die Silhouette des alten Fräuleins. „Schau her, Tante Li beobachtet uns.“ Jacques hob den Kopf: „Ja, tatsächlich, sie beobachtet uns.“ Und sie fuhren fort zu träumen, dahin zu schlendern, sich anzubeten. Dann, als der Tau schon aufs Gras fiel, gingen sie zurück ins Haus. Als sie in den Salon kamen, hatte sich Tante Li wieder an ihr Strickzeug gesetzt. Jeanne trat näher: „Tante, wir gehen jetzt schlafen.“ Das alte Fräulein wandte die Augen ab. Sie waren rot, als ob sie geweint hätte. Jacques und seine Braut hatten nicht Acht darauf. Der junge Mann bemerkte aber nun, dass das feine Schuhwerk des jungen Mädchens völlig mit Wasser durchtränkt war. Besorgt, zärtlich fragte er: „Frierst du nicht an deinen lieben kleinen Füßen?“ Da wurden die Finger der Tante plötzlich von einem solchen Zittern befallen, dass ihr das Strickzeug entglitt; das Wollknäuel lief weit über das Parkett, sie verbarg auf einmal das Gesicht in den Händen und begann krampfhaft zu schluchzen. Die beiden jungen Leute stürzten zu ihr hin, Jeanne breitete die Arme aus und wiederholte bestürzt: „Was hast du nur, Tante Li? Was ist los mit dir?“ Da stammelte diese mit tränenerstickter Stimme und von Leid gekrümmtem Körper: „Es ist ... nur, als er dich gefragt hat: ‚Frierst du nicht an deinen lieben kleinen Füßen?‘... Zu mir hat nie jemand so etwas gesagt – nie, nie!“

Ein jeder prüfe sein eigenes TunDas Glück der jungen Leute, wie sie es ungeniert, unbefangen und gedankenlos ausleben – kann man ihnen einen Vorwurf machen? Oder würde der Dichter sagen, ich habe lediglich eine objektiv tragische Situation geschildert? Jedenfalls, wenn es uns so eindringlich erzählt wird, dann erschrecken wir, wie doch womöglich schon ein argloses Sein-Glück-Zeigen einen schmerzenden Lebensneid bei einem anderen Menschen hervorruft, dem ein solches Glück nie beschieden war. „Ein jeder prüfe sein eigenes Tun.“ Plötzlich entdecken wir auch in unserem Umkreis Leute, die unbemerkt tagaus tagein von solchen und ähnlichen Provokationen in ihrer Seele verletzt werden, und vielleicht fühlen wir uns ja selber dann und wann angegriffen wie die Tante Li. Denn, um es hier wenigstens anzumerken: Unsere Gesellschaft insgesamt ist ja eine einzige Provokation für alle die, die selber bestimmte Chancen nie hatten oder nie mehr haben werden. Die, die nach großem Reibach gieren – und solchen ist in der allzu freien Marktwirtschaft Tür und Tor geöffnet – , sie bemalen die Plakate, mit denen sie für ihre Produkte werben und die das Bewusstsein der Leute bilden, – sie besetzen es mit jungen, schönen, vor Gesundheit, Stärke und Erotik nur so strotzenden Menschen. Und unterschwellig setzt es sich quälend bei vielen „Zukurzgekommenen“ fest: Wie diese müsstest du sein, um des vollen Lebens teilhaftig zu werden. Und wie weit bist du mit deines Lebens Mühsal entfernt davon!

Kann, soll, darf es dabei bleiben, dass ein verkümmerndes Leben nun eben verkümmert und mit dem Tod endet? Sind unsere Herzen von der Barmherzigkeit Christi angerührt, dann werden sie sich über dieser Frage nie beruhigen können.

Nun wird niemand von uns diese Gesellschaft umkrempeln und ihre Gesetze oder auch nur die Eigendynamik des ‚Attraktiven‘ aufheben können. Aber mindestens in der von uns mit zu verantwortenden kleinen Welt sollte es im Namen Jesu möglich sein, selbstgefälligen Provokateuren auf die Finger zu klopfen. Und jedenfalls sind wir angehalten, Provokatives im eigenen Verhalten aufzuspüren und an die Kandare zu nehmen. Paulus erhebt das zu einem Dringlichkeitsthema der Christen: Wenn ich mein Leben aus der in Christus offenbarten Liebe heraus lebe, werde ich in heiklen Situationen wie der geschilderten bedenken, was es mit meinem Mitmenschen macht, wenn ich mich so benehme, wie ich mich benehme, und wenn ich mich so aufführe, wie ich mich aufführe. Frisch, fröhlich, frei zu sagen: „Es ist mir egal, was die Leute denken“ – das kann manchmal ein Ausdruck von Zivilcourage sein; oft ist es aber ein Ausdruck von Lieblosigkeit und müsste ehrlicher heißen: „Es ist mir egal, was es mit dir macht!“

Guy de Maupassant legt denn auch den Finger durchaus auf die Wunde, wenn er leise eindringlich anmerkt: „Jacques und seine Braut hatten nicht Acht auf die verweinten Augen der Tante.“ Darum ginge es in der Liebe Christi: Feinfühlig achthaben auf den anderen Menschen – vor allem darauf, was wir mit unserem So-Sein und So-uns-Verhalten mit ihm machen. Und vielleicht gelegentlich auch einmal einen Gedanken darauf verschwenden: Wie kann ich, wie können wir einen einsamen, vom Lebensneid bedrohten Menschen da und dort, ohne uns verbiegen und etwas vorlügen zu müssen, wie können wir ihn ins eigene Glück ein wenig einbeziehen, dann und wann ins eigene Leben behutsam mit hereinnehmen?

Was Kain ablehnte, hat Christus mit Ja beantwortet: Ja, ich soll meines Bruders und meiner Schwester Hüter sein. Und darum bitten wir heute, wenn wir um einen kräftigen Schub des Heiligen Geistes bitten, um eine entsprechende Achtsamkeit, dass wir die wahrnehmen, die im Wahrnehmungsbereich unserer Augen und Ohren kümmerlich leben. Ist doch unsere eigene „Kümmerlichkeit“ entschärft, gut aufgehoben in den Händen des guten Hirten. In seiner einen Hand liegt unser Leid; in der anderen hält er den Schlüssel bereit, mit dem er uns die Tür zu ewigem Leben aufschließen wird.

Ein LetztesUnd das ist nun in einem guten Sinn das „Letzte“, was wir in einer Predigt sagen dürfen, was vielmehr Christus sagt: „Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige von Ewigkeit zu Ewigkeit und habe die Schlüssel zum Tod und zur Unterwelt.“ Ich fokussiere dieses Wort aus dem letzten Buch der Heiligen Schrift an dieser Stelle auf das hier und heute miteinander Bedachte: Die Frage war, und sie steht ja noch im Raum: Da erlitten und erleiden so und so viele Menschen ihr Erdendasein als ein einziges Verkümmern – wie die Pflanze, die nie wirklich zum Blühen kam, aus welchen Gründen auch immer. Darf es dabei bleiben?

Als von Ostern beflügelte Christen hegen wir die verwegene Hoffnung, dass unser auferstandener Herr, wenn er die besagte letzte Tür aufschließt, – dass er dann zuvorderst das verkümmerte Leben herausholt und dass er, indem er’s anrührt, zum Blühen bringt.
Amen.

(1) Leider fehlt im Manuskript meiner vor Jahren gehaltenen Predigt eine Quellenangabe der deutschen Übersetzung, die der Kurzfassung mit teilweise geänderten Personennamen zugrunde liegt. Für einen Hinweis bin ich dankbar.

Anmerkungen:
Die vorliegende Predigt hat einerseits die vorausgehenden Kapitel des Galaterbriefs mit im Blick, konzentriert sich andererseits auf V.26, ein leicht zu überlesendes und meist überlesenes Motiv einer christlichen Ethik. Menschen für die je besondere Lebensgestalt eines Mitmenschen im Nahbereich (vgl. auch V.10!) zu sensibilisieren und einer besseren Kontrolle eigener Verhaltensweisen das Wort zu reden, ist das Predigtziel. Die sonntägliche Perikope muss man nicht, aber kann man in der Textverlesung im Sinne dieser Fokussierung kürzen, z.B. nur 5,25-26; 6,1b-2.4a.9.10 vortragen. V.10 wird man auch dadurch gerecht, dass man im Allgemeinen Gebet nach der Predigt Fürbitten für verfolgte Christen in aller Welt Raum gibt.

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