17. Sonntag nach Trinitatis (27. September 2015)

Autorin / Autor:
Pfarrerin Christine Eppler, Wankheim-Jettenburg [Christine.Eppler@elkw.de]

Matthäus 15, 21-28

Liebe Gemeinde,
im Evangelium von Jesus werden wir heute ins Grenzland mitgenommen. Dorthin, wo Menschen aus unterschiedlichen Ländern sich begegnen; dorthin, wo schon immer verschiedene Religionen und Traditionen aufeinandertrafen.
Tyrus und Sidon – das liegt nördlich des jüdischen Galiläa im heutigen Libanon an der Küste; Tyrus ist die Stadt mit wichtigem Hafen - ermöglicht durch die Felsen am Meer.
„Und Jesus (…)zog sich zurück in die Gegend von Tyrus und Sidon.“ Jesus und seine Jünger sind dort, wo die Völker nach jahrhundertelangem Nebeneinander so manches an Kriegerischem erlebt haben und wo man doch immer durch Handel und Wandel zusammengebunden blieb; man hat dafür wenigstens! - Kompromisse gefunden.
Dass man sich immer noch scharf abgrenzt gegeneinander, wegen unterschiedlicher religiöser Kulte und grundsätzlich anderer Anbetung Gottes, das tragen die Leute im Grenzland in sich wie auch das Wissen um vorausgegangene kriegerische Auseinandersetzung zwischen Kanaan und Israel. Und doch müssen sie es nicht immer thematisieren, müssen nicht jedes Mal alles sagen.
Jesus und seine Jünger waren am See Genezareth gewesen, hatten dort heftige Streitgespräche geführt mit Pharisäern um die Frage der Reinigungsvorschriften, der jüdischen Tradition.
Petrus hatte sich wieder besonders hervorgetan in dieser religiösen Diskussion, wollte genau wissen, wie denn nun die Grenzlinien zu verlaufen hätten: Was ist unerlässlich? Was geht noch nach unserem Glauben, was geht nicht? Petrus möchte in all diesen Dingen immer genau Bescheid wissen, der „Fels“ sein, braucht unumstößliche Eckpunkte, ist der Mann der Leitlinien.
Diese Fragen um „rein“ und „unrein“, „noch dabei“, „zugehörig“ oder „am Rand stehend“ könnte man unendlich weitertreiben, doch wird der Streit von Jesus beendet. Er geht.
Jesus. Du antwortest mir nicht in der Not?
„Und Jesus ging weg von dort und zog sich zurück in die Gegend von Tyrus und Sidon. Und siehe, eine kanaanäische Frau kam aus diesem Gebiet und schrie: Ach Herr, du Sohn Davids, erbarme dich meiner. Meine Tochter wird von einem bösen Geist übel geplagt.“
Hier, liebe Gemeinde, rechnen wir mit frohmachendem Evangelium, mit einem Matthäus, der uns von der Zuwendung Jesu zu einem Menschen in Not erzählt, von der Heilung der Tochter dieser fremden Frau. So hat Jesus sich doch immer verhalten - hat heilsam berührt, hat Menschen aus ihren Lähmungen und Blindheiten und Besessenheiten befreit.
Ist er nicht „gesandt, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und den Zerschlagenen, dass sie frei und ledig sein sollen“ (Lk 4,18)?
Das ist doch die Sendung Jesu - und jetzt kommt Matthäus hier ganz anders daher:
„Und er antwortete ihr kein Wort.“ Stummheit des Gottessohnes, Erfahrung des Schweigen Gottes - das, liebe Schwestern und Brüder, ist die Erfahrung, welche die Abgründe des Lebens noch aussichtsloser erscheinen lässt.
Der 39. Psalm hat aus der Erfahrung solcher Tiefe ein kurzes Gebet gemacht:
„Höre mein Gebet, Herr, und vernimm mein Schreien,
schweige nicht zu meinen Tränen.“

Nein, hier ist nichts zu spüren von einem nahen Jesus, von einem überwindenden Christus, von einem zugewandten Schöpfer, von einem guten Geist, von einem zuhörenden Gott.
Jesus bleibt der Schweigende, antwortet ihr nicht.

Mit der Sorge um das eigene Kind und was aus der Krankheit der Tochter noch werden soll, bleibt diese Frau allein – so allein, wie man es als Angehörige von zu pflegenden Familienmitgliedern oft genug ist; so allein, wie man es als Mutter mit einem kranken Kind in einem fremden Land nur sein kann.

Jesus – hilfst du nur manchen in der Not?Geradezu eisern ist das Schweigen, bevor es dann doch plötzlich laut wird: den Jüngern wird das Ganze zu viel, sie wollen jetzt durchgreifen und fordern Jesus auf, er solle diese Frau, diese Person, fortschicken. Wer lästig ist, muss entfernt werden, außer Sichtweite gebracht werden, stört.

Jetzt redet Jesus - immer noch nicht mit der Frau, doch vernehmbar an die Jünger gerichtet: „Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel.“
Damit ist an die Ausgangslage erinnert, an das, was den Jüngern und allen Zuhörenden klar war:„Glaube, Geist und Wirkung des Mannes von Nazareth entstammen der Erwählung Israels. Hier wurzelt der Glaube(…). Das Fundament unseres Glaubens ist (…) die Geschichte Gottes mit Israel“ (M. Kock).
Der heutige Predigttext geht also mit größter Selbstverständlichkeit davon aus, dass es Unterschiede gibt zwischen den Religionen. Darüber muss nicht diskutiert werden.

Nein, die Kanaanäerin weiß, dass das Judentum von anderen Voraussetzungen ausgeht als sie selbst. Bis zu einem gewissen Grad kennt sie sich in der fremden Religion aus, weiß um die Heilsgeschichte Israels, hatte Jesus in der korrekten Anrede „Du Sohn Davids“ angesprochen.

Und dennoch hat sie offensichtlich von diesem Rabbi, von Jesus von Nazareth, gehört, dass zu ihm alle kommen könnten.
Der kann helfen. Der hilft.

Nur so ist zu erklären, dass sie sich von der Schroffheit der Antwort nicht abweisen lässt, sondern dass sie als Mutter eines kranken Kindes ihre letzte Hoffnung nicht aufgeben will. Was hat man mit dem Kind nicht schon alles unternommen zur Therapie; wohin hat sie sich nicht schon überall gewendet wegen jenes bösen Geistes, welcher ihre Tochter übel plagt.

Endlich muss jetzt einmal einer helfen, unbedingt.
„Sie aber kam und fiel vor ihm nieder und sprach: Herr, hilf mir!“

Jesus – Du nennst mich Hund in der Not?„Aber er antwortete und sprach: Es ist nicht recht, dass man den Kindern ihr Brot nehme und werfe es vor die Hunde.“
Liebe Gemeinde, selten kommt Jesus so beleidigend daher wie hier. Bis heute ist es für Menschen des Orients eine grässliche Beleidigung, als Hund beschimpft zu werden, und das tut Jesus hier: er bezeichnet die Frau als Hund.

Sie hat sich selbst bereits vor Jesus niedergeworfen und wird nun von ihm auch noch erniedrigt.
Die Situation ist niederschmetternd, man möchte vergehen, Scham liegt in der Luft.
„Scham ist eine Reaktion auf den missachtenden Blick. Wer sich schämt, fühlt sich bloßgestellt, verachtet und wertlos (…) möchte am liebsten im Erdboden versinken.“

Jenseits der Scham: diese Frau ist un-verschämtIm Staub und durch den Hundevergleich entwürdigt, behält die kanaanäische Frau dennoch ihr Ziel im Auge. Es geht ja um ihr Kind.
Jenseits aller Scham, also un-verschämt, redet sie weiter.
Die Sprache hat es ihr nicht verschlagen – auch nicht in ihrer maximalen Erniedrigung.
Und dann bringt sie Jesus in Zugzwang durch ihre kluge Antwort:
„Ja, Herr; aber doch fressen die Hunde von den Brosamen, die vom Tisch ihrer Herren fallen.“
Hartnäckigeres Ringen mit Jesus wird nirgendwo erzählt.
Dreimal die Bitte um Hilfe, um Zuwendung, um Heilung.
„Da antwortete Jesus und sprach zu ihr: Frau, dein Glaube ist groß. Dir geschehe, wie du willst! Und ihre Tochter wurde gesund zu derselben Stunde.“
Frau, dein Glaube ist groß!

Jetzt erst hat Jesus sein Verhalten geändert. Jetzt erst lässt er sich zum Helfen und Heilen bewegen.
Warum, wird nicht erklärt. Es ist wohl das große Vertrauen, das Jesus rührt (geradezu „megalitisch“). Und ja, die Eckpunkte in der Frage dessen, wem das Heil der Welt gilt, sind jetzt verschoben worden, das haben die Jünger wohl mitbekommen.

Die fremde Frau aus Kanaan hat Jesus alles zugetraut und sich nicht einschüchtern lassen; „sie liegt auf den Knien und ist doch aufrecht“ (M.Kock).
Liebe Gemeinde, Gott schenke uns allen für die Tage der neuen Woche großen Glauben - wenn nötig mit trotzigem „Dennoch“, dem „Dennoch bleibe ich stets an dir“ des 73. Psalms!
Glaube ist ja „die gottes- wie selbstgewisse Behauptung des Trotzdem" (F. Schorlemmer).
Amen.

Literaturhinweise:
* Erklärung der Württ. Ev. Landessynode zum Verhältnis von Christen und Juden vom 6. April 2000.
Neben der üblichen homiletischen und exegetischen Literatur habe ich mit großem Gewinn gelesen die Ausführungen:
*„lectio difficilior: Nadja Boeck: Frauen im Matthäusevangelium - revisited“ (Universität Bern).
*Das wörtliche Zitat von Manfred Kock entstammt dessen Predigt zur Stelle am 7.10.2001 im Berliner Dom.
*Die Überlegungen zur „Scham als Reaktion auf den missachtenden Blick“ stehen im Neuen Evangelischen Pastorale, 4. Aufl. 2010.
*Friedrich Schorlemmer, in „Wohl dem, der Heimat hat“,
2. Aufl. 2011, S.270.

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