17. Sonntag nach Trinitatis (23. September 2018)

Autorin / Autor:
Prälat i.R. Paul Dieterich, Weilheim a.d. Teck [Paul.Dieterich-online.de]

Jesaja 49, 1-6

Liebe Schwestern und Brüder,
eins vorweg: Es fällt mir nicht leicht, heute über das Lied vom Gottesknecht Jesaja 49,1-6, das heute der Predigttext ist, zu reden. Denn schon vor drei Wochen haben wir uns in einem Kreis von Theologen, die viel mehr als ich von der Bibel und vom Gespräch mit den Juden verstehen, die Köpfe zerbrochen über die Frage, wie wir dieses Gottesknechtslied verstehen und wie wir drüber predigen sollen. Einig sind wir uns darin, dass wir keinesfalls in die Kerbe des derzeit aufkommenden Antijudaismus schlagen dürfen. Es ist genug Unheil durch einen rassistischen Antisemitismus, der sich mit dem theologischen Antijudaismus verbündet hat, geschehen. Wir Christen sind da gebrannte Kinder und wollen ja nicht in den Antijudaismus, der unsere Großväter und Generationen vor ihnen bestimmt hat, zurückfallen. So ziemlich einig sind wir aber auch darin, dass wir die nationalistische Verengung Israels, die derzeit durch die Regierung Netanjahu geschieht, nicht gut finden, da sie gerade nicht dazu hilft, dass Israel zum Licht der Völker wird. Andererseits sehen wir, dass die Kritik am Staat Israel heute für viele Leute das Sprungbrett ist, von dem aus sie kopfüber in den Antijudaismus und oft genug in den Antisemitismus hineinstürzen. Wie würden Sie heute diese Sätze auslegen?
"Hört mir zu, ihr Inseln, und ihr Völker in der Ferne, merkt auf! Der Herr hat mich berufen von Mutterleibe an; er hat meines Namens gedacht, als ich noch im Schoß der Mutter war.
Er hat meinen Mund wie ein scharfes Schwert gemacht, mit dem Schatten seiner Hand hat er mich bedeckt. Er hat mich zum spitzen Pfeil gemacht und mich in seinem Köcher verwahrt.
Und er sprach zu mir: Du bist mein Knecht, Israel, durch den ich mich verherrlichen will.
Ich aber dachte, ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz. Doch mein Recht ist bei dem Herrn und mein Lohn bei meinem Gott.
Und nun spricht der Herr, der mich von Mutterleib an zu seinem Knecht bereitet hat, dass ich Jakob zu ihm zurückbringen soll und Israel zu ihm gesammelt werde – und ich bin vor dem Herrn wert geachtet und mein Gott ist meine Stärke –, er spricht: Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, die Stämme Jakobs aufzurichten und die Zerstreuten Israels wiederzubringen, sondern ich habe dich auch zum Licht der Völker gemacht, dass mein Heil reiche bis an die Enden der Erde."

Wer ist dieser Gottesknecht?Es gibt vier verschiedene Antworten.
Die einen sagen: Mit dem Gottesknecht der vier Gottesknechtslieder bei Jesaja meint der sogenannte zweite Jesaja, genannt Deuterojesaja, einen unbekannten Menschen, der unter uns lebt. Gott kennt ihn. Sonst fast keiner.
Andere sagen: Mit diesem Knecht Gottes meint Deuterojesaja sich selbst. Deswegen kennen wir seinen Namen nicht. Er selbst ist dieser Gottesknecht, mit dem Gott Großes, Erlösendes mit seinem Volk und durch sein Volk den vielen Völkern tun will.
Andere sagen schlicht: Der Gottesknecht ist das Volk Israel. Gott hat es erwählt, dass es ihn selbst, seine heilige Barmherzigkeit, den Völkern bezeugt und damit den Völkern weltweit Heil und Segen bringt. Erwählung heißt ja nicht etwa, dass Gott ein Volk besonders gut findet. Erwählung heißt vielmehr: Gott gibt bestimmten Menschen eine ganz bestimmte Aufgabe. Er wählt sie dazu aus, dass sie anderen etwas ganz Wesentliches vermitteln, durch Worte, noch mehr durch ihre ganze Existenz.
Und wieder andere sagen: Der Knecht Gottes ist Jesus. Er entspricht mit seinem ganzen Wesen und dann besonders mit seinem Tod dem, was Jesaja im 53. Kapitel vom leidenden Gottesknecht schreibt, der an unserer Stelle den Tod auf sich nimmt. Er entspricht aber auch weitgehend diesem Gottesknechtslied in Jesaja 49: Er ist das Licht der Welt, das Licht der Völker. Und wenn wir wirklich ihn als den, der uns bestimmt, annehmen würden, dann wäre wirklich Friede auf Erden, dann ginge es uns allen gut und dann würden wir weltweit einander gut tun. Das Hauptargument für diese Deutung ist, dass höchstwahrscheinlich Jesus sich selbst als dieser Knecht Gottes gewusst hat. Wir spüren das nicht nur, wenn wir das Lied vom leidenden Gottesknecht in Jesaja 53 lesen; wir spüren es auch an den anderen drei Gottesknechtsliedern. Da ist er gemeint. Und er hat sich als der verstanden, der sein Volk hinausführt über den Tellerrand Israels, hinaus in die Völkerwelt. Er gibt sich in vollkommener Liebe hin nicht nur für sein Volk Israel, sondern für alle Menschen, gleich welcher Nation und Hautfarbe. Sein Lebenseinsatz gilt auch Menschen jeder religiösen Kultur. Und was er uns an ethischen Richtungen vorgibt, das zielt auf einen völligen Völkerfrieden. Wer ihm folgt, der kann nicht mehr dem Krieg dienen. Wenn wir ihm wirklich folgen, das bedeutet, wie die Engel schon bei seiner Geburt singen: „Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen“. Er ist das Licht der Welt.
Sie spüren schon, indem ich das so sage, dass ich diese Gottesknechtslieder so deute, dass sie durch Jesus erfüllt wurden, dass er der wahre Knecht Gottes ist. Der, durch den Licht in die Welt kommt. Er ist das Licht der Welt.

Christus als Knecht Gottes und Israels Erwählung, Gottes Heil unter die Völker zu bringenHabe ich damit Israel abgesprochen, dass es von Gott dazu erwählt ist, sein Heil unter die Völker zu bringen? Durchaus nicht. Dazu hat Gott dieses Volk ausgewählt, dass es den Völkern das Wissen bezeugt, dass er den Frieden bringen will und dass alles, was er tut, letztlich diesem Frieden und diesem Heil für die Völker dient.
Nun könnte ich natürlich aufzählen, wie oft und wie kläglich das Volk Israel in dieser Aufgabe versagt hat. Die Bibel würde mir dazu reiches Material geben von Anfang an, vom Tanz ums Goldene Kalb schon in der Wüste bis zu all den Irrwegen, die die Propheten immer neu anprangern. Und auch die Erzväter und später die Könige Israels und die Priester und viele, viele angesehene Bürger kämen gar nicht gut weg. Ich könnte, wenn Sie das hören wollten, bis heute Abend Geschichten erzählen, in denen dieses Volk schlecht dasteht. Denn die Bibel ist alles andere als ein Heldenbuch oder eine Sammlung von Heiligenlegenden. Die „Schande der Heiligen“ ist hier allgegenwärtig. Und Die Bibel ist auch ganz gewiss keine Verherrlichung Israels. Dass am deutschen Wesen die Welt genesen soll, haben zwar wir Deutschen in unseren dümmsten und schlimmsten Zeiten gesagt. Dass aber am israelitischen Wesen die Welt genesen soll, diese Dummheit finden Sie in der Bibel nirgends.
Immer geht es darum, dass sein Gott mit seinem Volk wieder und wieder neu anfängt. Dass er gnädig und barmherzig ist und die Sünden vergibt. Und dass er sich wie ein Vater über seine Kinder erbarmt.

Unser Bekenntnis zu Jesus Christus in der Verbundenheit mit Gottes Volk IsraelUnd doch ist Jesus der Knecht Gottes. Heißt das, dass Gott sein Volk enterbt, dass er es verstoßen hat? Keineswegs. „Ganz Israel wird gerettet werden“, schreibt Pauls in Römer 11. „Gottes Gaben und seine Berufung können ihn nicht gereuen.“ Wie Gott sein Volk noch führen wird und was er an seinem Volk und durch es noch tun wird, das können wir nur gespannt erwarten. Wir wissen es nicht. Er weiß es. Und wir können nur mit diesem Volk und für dieses Volk hoffen.
Das heißt nicht, dass wir alles gut finden müssen, was die Regierung Israels tut. Freunde dürfen kritisch sein. Aber ich empfehle zweierlei: Wir Deutschen haben den Juden in der brutalsten nur möglichen Weise gezeigt, dass sie bei uns in Europa nicht bleiben können. Sie flohen um ihr Leben nach Palästina. Dort kamen sie in kein Land ohne Volk. Im Gegenteil. Wenn sie seither ihr schwerstes Problem nicht so lösen konnten, wie wir das für richtig halten, dann kämpfen sie da jedenfalls mit einem Problem, das wir ihnen eingebrockt haben.
Und: Wie würden wir denken und fühlen, wie würden wir handeln, wenn wir unser Leben lang bedroht wurden, wenn schon unsere Eltern von einer Bedrohung in die andere gekommen wären? Wären wir so souverän und so araberfreundlich, wie wir aus weiter Distanz das für richtig halten?
Wenn wir diese beiden Punkte wirklich bedenken, dann sind wir mit unserer Kritik langsam und vorsichtig.
Vor allem wird es darum gehen, dass wir den Juden zeigen, dass sie unsere älteren Brüder sind, dass wir für sie einstehen. Und dass wir ihnen helfen, mit ihren Wunden zurechtzukommen.
Sie werden es wissen, dass ich mit einem von ihnen seit Jahrzehnten verbunden bin im Einsatz für das, was die Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste z.B. auch gerade in Israel tut. Dass immer ca. 30 junge Leute als Freiwillige in ihr Dienst tun an Alten, Armen, an behinderten Leuten. Und das ist nicht die einzige Möglichkeit, in Israel Juden ganz handgreiflich zu dienen. Unsere Tochter Eva hat das mit dem Denkendorfer Kreis, unsere Tochter Christina mit einer katholischen Organisation getan. Gerade wir in Württemberg haben eine lebendige Beziehung zu Israel, was gewiss auch damit zu tun hat, dass der schwäbische Pietismus schon lange vor uns das Bewusstsein gestärkt hat, dass Christen und Juden zueinander gehören.
Bei allen Unterschieden, die wir nicht verwischen dürfen. Martin Buber, der jüdische Religionsgelehrte, hat einmal gesagt: „Der Glaube Jesu verbindet uns, der Glaube an Jesus als den Christus trennt uns.“ Lange habe ich diesen Satz so nachgesagt. Heute sage ich nicht: „Der Glaube an Jesus als den Christus trennt uns“, sondern: Er „unterscheidet uns“. Der Glaube an Jesus trennt mich von niemandem. Denn Jesus Christus hat Gottes hingebungsvolle Liebe zu allen Menschen im Leben und im Sterben verkörpert.
Und dass Jesus für uns das Licht der Welt ist, das Licht der Völker und gewiss auch das Licht für sein Volk, das will ich gern vor Menschen aller Herkunft bekennen. Es wäre nicht ehrlich und unserer Freundschaft nicht würdig, wenn wir Christen vor unseren jüdischen Geschwistern dazu nicht stehen würden.
Am besten und am hilfreichsten bekennen wir Christus als das Licht der Völker und als Licht der Welt, wenn wir uns selbst von diesem Licht der Völker erhellen lassen und wenn wir mit den Menschen anderer Völker und besonders mit unseren jüdischen Geschwistern hell und gut und hilfreich und voller Hoffnung umgehen.
Da haben wir viel zu tun, unser Leben lang. Christus erleuchte uns, damit wir sein Licht nicht verdunkeln, sondern mit unserem kleinen Licht auf sein großes Licht hinweisen.
Amen.


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