18. Sonntag nach Trinitatis (30. September 2018)

Autorin / Autor:
Pfarrer i.R. Harry Waßmann, Rottenburg [Harry.Wassmann@t-online.de]

Jakobus 2, 1-13

Wie schön, dass es den Jakobusbrief gibtMartin Luther hat den Jakobusbrief nicht gemocht und als „stroherne Epistel“ abgetan. Er hätte wohl nichts dagegen gehabt, wenn es ihn im Neuen Testament gar nicht gäbe. Martin Luther hat nämlich befürchtet, dass Menschen mit diesem Brief seine Erfahrung – „Ich bin vor Gott gerecht allein aus Glauben!“ – in Abrede stellen. Doch das ist nicht das Anliegen des Jakobusbriefes. Der Jakobusbrief fragt nicht, wie ein Mensch Christ wird. Ihn interessiert, wie Christen leben – ihre Praxis, ihre Taten – und dabei, inwiefern Gottes Gebote im Leben von Christen Raum gewinnen. Ihm geht es darum: Wie wirkt sich die Liebe Gottes unter uns aus – im gelebten Miteinander? Wie schön, dass diese Schrift in der Christenheit weiter gelesen und gepredigt wird. Ich lese jetzt den ersten Abschnitt für die heutige Predigt, aus dem zweiten Kapitel 2 (2,1-5):

Oben oder unten – am Rand oder in der Mitte?Wie ist das heute? Im neuen Schuljahr, bei der Sitzordnung in der Schulklasse?
Wer sitzt vorne – wer hinten? Wer am Rand, wer in der Mitte? Wer beim besten Freund oder der besten Freundin? Oder in der Nähe des Pultes, damit man dem Lehrer oder der Lehrerin nahe ist.

An Sitzordnungen kann man viel ablesen. Zugehörigkeit und Wertschätzung. Bei Familienfesten: an Weihnachten, bei Geburtstagen oder Hochzeiten. Immer wieder wird deutlich: Wo ist das Zentrum, der innere Kreis, und wo der Rand. Eine Sitzordnung sagt etwas über unser Miteinander aus. Über unsere Wertschätzung. Wer gehört wie eng zu wem. Und: Wer gehört nicht dazu. An schwäbischen Stammtischen wird mitunter mit einem Schild klar signalisiert: „Da hocket die, die immer da hocket...“ Heißt: Niemand anders – wehe! – darf da sitzen.
Wie im Jakobusbrief kritisiert, gibt es auch heute immer wieder klare Trennungen von vorne und hinten: Das Präsidium – der Name sagt es – hat den Vorsitz. Bei Vereinen, bei Wirtschaftsunternehmen, auch in der Kirche und ihren Synoden. Immer wieder gibt es durch Sitzordnungen ein Oben und Unten, ein Vorne und Hinten.

„Wie ist das bei eurer Versammlung („Synagoge“)?“, fragt uns Jakobus.
Nehmen wir einander wahr – oder sprechen wir nur immer mit denen, die wir schon kennen, und die anderen bleiben am Rand, z.B. nach dem Gottesdienst, beim Gemeindefest? Gibt es ein Oben und Unten oder kommen wir zu Beratungen an »Runden Tischen« zusammen und beraten auf Augenhöhe? Man stelle sich vor, vorne beim Gottesdienst – also bei unserer Versammlung – würde der Kirchengemeinderat/der Kirchenvorstand sitzen – gewissermaßen der Gottesdienstgemeinde vorsitzen, vorstehen. Das würde uns alle – denke ich – merkwürdig berühren. Erst recht Jakobus. Der sagt: Das soll nicht so sein! Warum?

Gott macht diese Unterschiede nichtWeil Gott diese Unterschiede nicht macht. Nicht will. Es soll unter Christen nicht nach den Unterschieden gehen, die sonst Menschen trennen, sortieren. Als da sind: Einkommen, öffentliches An-Sehen, Besitz, Status, Funktionen, Bekanntheit.
Das macht alles keinen Unterschied bei Gott – und soll also auch nicht in unseren „Versammlungen“ einen Unterschied machen. Wie Jakobus schreibt: Die Goldberingten mit den Markenklamotten nach oben – und die Armen, mit der verschmutzten Kleidung nach unten. Die „Besseren“ nach oben komplimentieren und die Armen nach unten, – das ist ein Buhlen um Einfluss-Reiche.
Ja mehr noch: „So verachtet ihr den Armen“ (V.6). beraubt ihn seiner Würde. Das sind „böse Gedanken“, heißt es (V.4). Denn in Christus sind alle eins, Schwestern und Brüder, Reiche und Arme, Promis und Unbekannte. Und deshalb soll es solche Rangordnungen unter Christen nicht geben.

Wenn schon, denn schon: dann umgekehrt!Wenn es überhaupt um eine Vorliebe geht, um ein Privileg bei Gott, dann gerade anders herum als nach dem Maßstab der Erfolg-Reichen: „Hat nicht Gott erwählt die Armen in der Welt, die im Glauben reich sind und Erben des Reichs, das er verheißen hat denen, die ihn lieb haben?“ (V.5)
Wenn überhaupt, dann wird in der Umkehrung der Werte ein Schuh draus. Das ist nämlich Gottes Handschrift: Von ganz hinten werden Menschen von Gott nach vorne geholt. Der kleine David – von der Herde weg – zum König Israels. Nachdem alle anderen Brüder begutachtet wurden, ob sie König werden können, wird der kleinste der Brüder, der Hirte, zum König berufen. Genau so wie wir es auch aus dem Mund der Maria hören: „Er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen. Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen“ (Lk 1,48 und 52). Keiner, der mordsmächtig daherkommt, wird der Messias. Es ist der Knabe – von Maria aus Nazareth geboren –, der im Stall in Bethlehem, in der Stadt Davids, zur Welt kommt. Er ist das Licht der Welt.

Was bedeutet diese so andere Ordnung, diese göttliche, himmlische Rangordnung für uns und unsere Platzierungen? In der Familie? In der Kirchengemeinde? In der Politik?
Um Gottes willen kein Vorne und Hinten – kein Oben und Unten.
Doch das ist leichter gesagt als getan. Wie schnell schleichen sich Rangordnungen – Hierarchien – wieder ein. Auch in der Christenheit. Ist dagegen ein Kraut gewachsen?

Das „Gesetz der Freiheit“Ja. Jakobus erinnert und mahnt an, das „königliche Gesetz“ zu halten, das „liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ (V.8). Das sei doch ein „Gesetz der Freiheit“.

Doch gibt es überhaupt so etwas wie ein „Gesetz der Freiheit“?
Schränken Gesetze nicht nur ein und behindern Freiheit?
Viele reiben sich heute an Gesetzen und Verordnungen. Und manche beschimpfen dann gleich „den Staat“ oder „das System“ als marode.
Freilich: Es gibt so etwas wie einen Paragraphendschungel – einen Wust von Bürokratie und schwer einsehbaren Regelungen. Und doch spüren wir auch: Würden diese Regeln und Gesetze wegbrechen, würde unser Leben unabwägbar. Haltlos.
Ein „Gesetz der Freiheit“ – wo gibt es das?

Das Grundgesetz für unser Zusammenleben in Deutschland ist so ein „Gesetz der Freiheit“ – gegeben nach Diktatur und Verbrecherherrschaft. Es knüpft eng an das königliche Gesetz aus der Bibel an. Es heißt im 1. Artikel: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“ (23. Mai 1949).

„Unantastbar“ ist auch eine Umschreibung für das Wort „heilig“.
Ja, „heilig“ ist die Würde des Menschen, – weil jede und jeder ein Ebenbild Gottes ist. Dieses „Gesetz der Freiheit“ ist keine unüberwindbare Hürde, vielmehr ist es „leicht“ und „sanft“ – wie Jesus einmal seine Gebote charakterisiert (Mt 11,30).
Dieses „Gesetz der Freiheit“ ist eine Erbschaft der Befreiung. Es befreit von Gewalt und Unterdrückung – hin zu einem Leben im Frieden und gegenseitiger Achtung. Seine Spur reicht von den Zehn Geboten am Berg Sinai bis zum Grundgesetz Deutschlands, das im nächsten Jahr 70 Jahre alt wird und unser Miteinander so segensreich ordnet.

„Gott ist in der Mitte“Den Nächsten lieben, ohne Unterschied – als ein Ebenbild Gottes. Das führt weg vom abschätzigen Aburteilen Schwacher. Da ist dies „Gesetz der Freiheit“ davor.
In der christlichen Gemeinde wird es da lebendig, wo es als Zeichen der Liebe Gottes ausstrahlt – im gelebten Miteinander.
Schon am winzigen Detail einer Sitzordnung kann das ablesbar werden – der Charme einer christlichen Gemeinde: Wir müssen uns nicht um irgendeinen Vorsitz rangeln. Wir versammeln uns um IHN: Gott in Christus. Ohne Ansehen der Person. ER ist in der Mitte. Amen.

Hinweise zur PredigtDas von Jakobus so genannte „Gesetz der Freiheit“ ist ein guter Anlass in diesen Zeiten, den Wert von Ordnungen und Gesetzen zu reflektieren.
Soll man den so langen Predigttext lesen? In Gänze zuvor? Es könnte von Vorteil sein, im Verlauf der Predigt nach und nach Passagen zu zitieren. Das legt meine Predigt nahe.

Anregend für die Predigtvorbereitung zu lesen ist Rahel Schallers Beitrag in den „Predigtmeditationen im christlich–jüdischen Gespräch“, S. 347–350 (2017). Rahel Schaller thematisiert die Nähe zum Simchat–Tora Fest (2. Oktober) unter der Überschrift: „Freude am Gesetz der Freiheit“.

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