19. Sonntag nach Trinitatis (11. Oktober 2015)

Autorin / Autor:
Pfarrer Dr. Alexander Fischer, Stuttgart [fischer@dbg.de]

Markus 2, 1-12

Liebe Gemeinde!
»Jemandem aufs Dach steigen«, so lautet eine Redensart. »Jemandem aufs Dach steigen«, das bedeutet nichts Gutes. Umgangssprachlich ist damit gemeint »jemanden unter Druck setzen, jemanden zurechtweisen, sich heftig bei ihm beschweren«. Grundlos jedenfalls steigt keiner einem andern aufs Dach. Da geht es schon hitzköpfig und leidenschaftlich zur Sache. Das klingt ganz nach Ärger. Unser Predigttext erzählt sogar von Menschen, die Jesus aufs Dach steigen, hitzköpfig und leidenschaftlich. Warum sie das tun? Wir hören es gleich. Ich lese den Predigttext aus dem Evangelium des Markus (2,1-12):

Und nach einigen Tagen ging er wieder nach Kapernaum; und es wurde bekannt, dass er im Hause war.
Und es versammelten sich viele, sodass sie nicht Raum hatten, auch nicht draußen vor der Tür; und er sagte ihnen das Wort.
Und es kamen einige zu ihm, die brachten einen Gelähmten, von vieren getragen.
Und da sie ihn nicht zu ihm bringen konnten wegen der Menge, deckten sie das Dach auf, wo er war, machten ein Loch und ließen das Bett herunter, auf dem der Gelähmte lag.
Als nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.
Es saßen da aber einige Schriftgelehrte und dachten in ihren Herzen:
Wie redet der so? Er lästert Gott! Wer kann Sünden vergeben als Gott allein?
Und Jesus erkannte sogleich in seinem Geist, dass sie so bei sich selbst dachten, und sprach zu ihnen: Was denkt ihr solches in euren Herzen?
Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh auf, nimm dein Bett und geh umher?
Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben auf Erden – sprach er zu dem Gelähmten:
Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim!
Und er stand auf, nahm sein Bett und ging alsbald hinaus vor aller Augen, sodass sie sich alle entsetzten und Gott priesen und sprachen: Wir haben so etwas noch nie gesehen. Amen.

Liebe Gemeinde!
Vier Leute steigen Jesus aufs Dach, hitzköpfig und leidenschaftlich. Und sie haben durchaus einen Grund. Denn ins Haus, in dem Jesus ist, kommen sie nicht hinein. Es ist voller Menschen. Viele stehen sogar draußen vor der Tür, dicht gedrängt, sie alle wollen Jesus sehen und hören. Da ist kein Durchkommen für die vier Leute. Denn sie tragen eine Last, einen Menschen, der selbst nicht mehr gehen kann. Er ist gelähmt und liegt auf einer Matte aus Palmblättern. Sie wird von vier Leuten getragen. Bis vor das Haus sind die Lastenträger gekommen. Doch jetzt geht es nicht weiter. Definitiv! Durch die Menschenmenge zwängt sich keiner durch, schon gar nicht mit einer solchen Last.

Das Haus, vor dem sie haltmachen müssen, besteht aus einem einzigen Raum. Darüber liegt ein flaches Dach aus Holzstangen, Zweiggeflecht und einer Lehmschicht. Wie damals üblich führt an der Seite eine Außentreppe auf das Dach. Und so kommt es zu der spektakulären Aktion, die uns das Evangelium berichtet: Die vier Männer gehen ums Haus herum, schleppen den Gelähmten die Treppe hinauf. Sie steigen tatsächlich Jesus aufs Dach, hitzköpfig und leidenschaftlich. Sie tragen die Lehmschicht ab, machen ein Loch hinein und schieben das Zweiggeflecht zur Seite.

Das ist allerdings nicht lustig, das ist Sachbeschädigung. Aufs Dach steigen, ja bitte! Aber das Dach aufdecken, das geht dann doch zu weit! Hausfriedensbruch! Warum sind die Männer so hartnäckig, warum sind sie so unverschämt? Was treibt sie an? Aber das ist doch ganz offensichtlich! Sie sind fest davon überzeugt: Heute muss es sein, heute müssen sie den Gelähmten mit Jesus zusammenbringen. Und sie sind schon so nahe dran. Jetzt wollen sie nicht aufgeben. Sie können nicht aufgeben. Dieser Mensch auf der Matte, diese Last, die sie bis aufs Dach hinauf geschleppt haben, ist ja doch eine Herzenssache: Getragen von der Hoffnung, dass sich für sein Leben alles zum Guten wenden wird, wenn nur – wenn er nur mit Jesus zusammenkommt.

Wir mussten uns heute Morgen nicht durch den Eingang in die Kirche zwängen. Ich sehe, es gibt noch freie Plätze in den Kirchenbänken. Auch in den Seitengängen kann man stehen und hinten etwa vor dem Eingang. Wer noch kommen will, ist selbstverständlich willkommen. Keine Menschenmenge hat uns heute Morgen den Zutritt versperrt. Wir waren nicht gezwungen, der Kirche aufs Dach zu steigen oder sonst etwas Außergewöhnlich-Kühnes zu tun, hitzköpfig und leidenschaftlich.

Aber bitte, das ist natürlich kein Vorwurf. Denn auch wir tragen ja etwas in diesen Gottesdienst hinein. Es ist kein gelähmter Mensch auf einer Matte. Das nicht, aber darum nicht weniger: kleine und größere Lasten. Wir kommen nicht nur mit unseren eigenen Fragen und Leiden und Hilflosigkeiten in dieses Gotteshaus. Wir tragen auch etwas von dem, was wir an Elend und Not anderer sehen und hören, was wir an den Rändern und Grenzzäunen unserer Welt erfahren, ähnlich wie die vier Männer, die den Gelähmten am Rande seines gesellschaftlichen Lebens auf die Matte packten. Wir tragen, was uns erschüttert, was uns bedrängt: die Lage im syrischen Kobane, die Flüchtlingsboote auf dem Mittelmeer, die schon vergessenen Waisen der Ebola-Epidemie in Westafrika, ....

Es ist ja doch eine Herzenssache: Getragen von der Hoffnung, dass diese Geschehnisse sich noch zum Guten wenden können, dass die Politik ihren medialen Bekenntnissen auch hilfreiche Taten folgen lässt, dass unsere Gebete nicht umsonst sein werden, wenn nur – wenn nur alles mit Jesus zusammenkommt. Und dieses Letzte geschieht, weil in diesem Gottesdienst und in den anderen, die heute Morgen gefeiert werden, Jesus selbst in Gottes Wort mitten unter uns ist. Sie, liebe Gemeinde, tragen solche Lasten zu Jesus, und es ist für Sie selbstverständlich, das auch stellvertretend für andere zu tun. Sie sind also gleichsam Lastenträger, oder besser noch Hoffnungsträger für andere Menschen – wie die vier Leute, mit denen wir zunächst aufs Dach gestiegen sind und zusahen, wie sie den Gelähmten auf der Matte von oben nach unten ließen.

Jetzt schauen wir uns das Ganze von unten an. Da poltert es oben auf dem Dach. Etwas Sand und Staub rieselt plötzlich durch die Zimmerdecke, dann fallen kleinere Dreckbrocken durch. Jetzt bemerkt man, dass sich da irgendwelche Leute am Dach zu schaffen machen. Hätte Jesus eine Security gehabt, dann hätte man dieses Sicherheitsrisiko sofort vom Dach entfernt. Aber Wachleute gab es nicht, und so können die oben auf dem Dach weitermachen und das Zweiggeflecht abheben. Vier Köpfe blicken zunächst über den Rand. Dann schwebt eine Matte durch das Loch nach unten. Auf ihr liegt der gelähmte Mensch. Vorsichtig wird er in die Mitte des Raumes bugsiert, Jesus vor die Füße. Die Spannung wächst. Und machen wir uns nichts vor: Alle erwarten, dass Jesus ein Wunder tut, dass er den Kranken augenblicklich heilt, dass er ihn unversehens auf die eigenen Beine stellt.

Die Isolation wird durchbrochenJesus spricht den Gelähmten an. »Mein Sohn«, sagt er und stellt damit eine unmittelbare Nähe zu ihm her. Jetzt wird er ihn heilen. So erwarten es alle. Doch Jesus sagt: »Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben!« Ist es das, was der Kranke jetzt braucht? Vergebung der Sünden? Hilft ihm das, wenn er wieder im Dreck liegt, am Rande seines gesellschaftlichen Lebens – wenn er wieder betteln muss, weil er nicht gehen kann, weil er seinen Lebensunterhalt nicht selbst verdienen kann? Vergebung der Sünden? Ist es das, was der Gelähmte braucht? –

Ja, das ist es! Denn Jesus erkennt auf den ersten Blick: Es sind nicht die lahmen Beine, die diesen Menschen am Leben hindern, es ist nicht oder nicht nur die Krankheit, die ihn nieder-drückt. Vielmehr – und das macht die Erzählung überdeutlich – es ist die völlige Passivität, in der dieser Mensch gefangen ist. In der ganzen Geschichte sagt er kein einziges Wort. Er ruft nicht, er fuchtelt nicht mit den Armen, er hebt nicht den Kopf oder macht sich sonst irgend-wie bemerkbar. Er liegt bloß auf seiner Matte. Mehr nicht! Die Lähmung seines Lebens, das ist sein Leiden. Die Lähmung an Leib und Seele, das ist sein Lebensthema.

Die Sünde ist nicht die Ursache seiner Krankheit. Das eben nicht! Aber sie ist es, die den Gelähmten immer weiter vom Leben entfernt, ins Abseits drängt, in die Isolation treibt. Die Sünde ist ja nichts anderes als eine Trennung von Gott. Sie zwingt den Gelähmten in ein Kreisen um sich selbst. Seine Ausgrenzung, seine Demütigung werden übermächtig. Und dann heißt es für ihn nur noch »Ich müsste, ich müsste doch!« Aber dieses »Ich müsste!«, es gibt keine Kraft zum Leben, schenkt keine Hoffnung, hilft nicht aus der Passivität heraus. Im Gegenteil: Dieses »Ich müsste«, es lähmt nur noch mehr.

Wir sind heute Morgen nicht auf einer Matte in die Kirche getragen worden. Gott sei Dank! Wir konnten auf eigenen Beinen gehen. Manche geschwind, andere etwas langsamer. Wir sind gerne in den Gottesdienst gekommen. Wir sind aktiv, mehr oder weniger gesund, stehen mit beiden Beinen im Leben. Bei uns ist alles in Ordnung. Nur widerwillig schauen wir hinter die Fassade, blicken in unsere eigenen Abgründe und erkennen – auch und vielleicht in unserem eigenen Leben: solche Momente der Lähmung. Wenn wir den Kontakt zu Gott verlieren, wenn wir uns wegtreiben lassen und in den alten Trott zurückfallen. Da meine ich, ich habe alte Verhaltensmuster abgelegt, und sofort stecke ich wieder drin. Da glaube ich, ich bin frei, etwas zu verändern, und dann mache ich es doch wie schon immer. Ich richte Schranken auf zwischen Menschen, obwohl ich dachte, ich hätte meine Vorurteile längst überwunden. Ich beginne in meinen Beziehungen wieder damit, aufzurechnen und abzurechnen, obwohl ich gerade das nicht mehr tun wollte. Ich kreise um mich selbst, ich setze mich unter Druck. Und je länger, desto mehr lähmt es mich. Ich kann mich selbst nicht mehr leiden. Ich liege auf einer Matte. Wer trägt mich?

In solchen Momenten der Lähmung gilt das Wort, das Jesus spricht, es gilt dir und mir: »Deine Sünden sind dir vergeben!« Das mag vielleicht für einige zu formelhaft oder zu fromm klingen. Und wenn das so ist, müssen wir es eben etwas anders sagen, ein wenig freier übersetzen. Vielleicht so: »Du musst dich nicht in ein Lebensmuster hineinzwingen. Lass die Dinge los, die dich binden! Du kannst es! Du bist frei!« Die Sündenvergebung ist ja doch in der Sache ein Freispruch. Sie befreit uns von falschen Zwängen. Und das heißt schon immer: Durchatmen, neu anfangen, in Bewegung kommen, Vertrauen zurückgewinnen.

Zeichen von Gottes ReichLiebe Gemeinde! Noch einmal kehren wir in das Haus zurück, in dem Jesus und der Gelähmte zusammengekommen sind. Wir fragen: Wer ist eigentlich noch in dem Haus? Wir schauen in die Runde: Vorne sitzen einige Männer. Ihre Kleidung lässt vermuten, dass es Theologen sind, die sich in der Heiligen Schrift auskennen. Dahinter steht eine Menschenmenge, starr und regungslos. Wir können nicht erkennen, wer sonst noch zu dieser Masse gehört: Nachbarn, Gäste, Anhänger und Gegner, vielleicht auch ein paar Jünger. Doch in dem ganzen Getümmel entdecken wir sie nicht. Gerade eben hat Jesus dem Gelähmten seine Sünden vergeben. Unruhe entsteht im Raum. Getuschel. Leise, dann lauter. Die Stimmung wird aggressiver. Der Vorwurf der Gotteslästerung schwebt im Raum. »Sünden vergeben, das ist menschenunmöglich, das kann nur Gott allein!« Man schüttelt den Kopf: »Was glaubt denn dieser Jesus, wer er sei!«

Und in dieser ganzen Entrüstung ist vielleicht auch etwas Erschrecken dabei. Was wäre, wenn heute und hier in diesem Haus, wenn in diesem Menschen Jesus Gott selbst handelt? Doch in dem ganzen Durcheinander behält Jesus den Blick für den Kranken und fragt in die Runde: Was ist wohl leichter, dem Gelähmten seine Sünden zu vergeben oder zu ihm zu sagen: Steh auf, nimm dein Bett und geh umher? Eine Antwort wird nicht abgewartet. Jesus vollendet die Heilung des Gelähmten, beendet sein Leiden an Seele und Leib: »Steh auf, nimm dein Bett und geh heim!« Und der Gelähmte nimmt das wortwörtlich, steht auf, nimmt sein Bett und geht.

Alle sehen es. Die Vergebung der Sünden ist sichtbar geworden in diesem Aufstehen, in diesem Sich-in-Bewegung-Setzen, in diesem Aktiv-Werden. Die Lähmungen seines Lebens sind überwunden. Die Schriftgelehrten aber begreifen sofort, was das bedeutet. Sie kennen ihre Bibel. Sie kennen die Stelle im Buch Jesaja. Wenn Gott kommt, dann werden die Blinden sehen, die Tauben hören und die Lahmen springen wie ein Hirsch (Jesaja 35,5-6). Die Heilung des Gelähmten, sie ist nicht ein einfaches Wunder, das man bestaunen und dann zur Tagesordnung übergehen kann. Diese Heilung ist eine öffentliche Demonstration vom Anbruch des Reiches Gottes mitten unter uns, ein sichtbares Zeichen für die neue Welt.

Wir haben heute Morgen im Gottesdienst keine Wunderheilung miterlebt. Wir haben auch nicht darüber gestritten, ob Jesus tatsächlich Sünden vergeben kann. Wir haben keine öffentliche Demonstration vom Anbruch des Reiches Gottes gesehen. Nehmen wir trotzdem etwas mit aus dem Evangelium? Wundererzählungen gehören ja nicht so sehr zu den Geschichten, die uns im Alltag inspirieren, zumal es in unserem alltäglichen Betrieb eher an Wundern mangelt.

Aber mir persönlich hat der so direkte, so schlichte und so elementare Satz am Schluss gefallen. Dass Jesus zu dem Gelähmten einfach (und ohne jede Begründung) sagt: »Steh auf, nimm dein Bett und geh!« Es ist ein fröhlicher Satz, weil er für den Gelähmten alles in seinem Leben zum Guten wendet. Es ist ein weitreichender Satz, weil mit ihm das Reich Gottes unter uns aufscheint. Und es ist ein bestärkender Satz, weil Jesus diese neue Welt nicht im Allein-gang durchsetzen will, sondern im Team-Work, weil er auf seinen Weg möglichst alle mitnehmen will: Die vier auf dem Dach, die Schriftgelehrten auf ihren Stühlen, die anonyme Menschenmenge, Nachbarn, Befürworter und Gegner, die Starren und die Bewegungslosen, die Hitzköpfigen und die Leidenschaftlichen, die Lastenträger und die Hoffnungsträger.

Deshalb höre ich den Satz so, als wäre ich damit gemeint: »Steh auf, nimm dein Bett und geh!« Aufstehen, miteinander und füreinander, an den Rändern und Grenzzäunen unserer Welt aufstehen, unsere Lähmungen hinter uns lassen, in Bewegung kommen und Freude dabei haben. »Steh auf!« Dieses Wort von Jesus, zu dir und mir gesagt, das ist es, was uns Kraft zum Leben gibt. »Und sie priesen Gott und sprachen: Wir haben so etwas noch nie gesehen.« Amen.

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