19. Sonntag nach Trinitatis (22. Oktober 2017)

Autorin / Autor:
Prälat i.R. Paul Dieterich, Weilheim a.d. Teck [Paul.Dieterich-online.de]

Markus 1, 32-34

Ein Bild, das uns zeigtVielleicht denken Sie: Rembrandts Hundertguldenblatt, das habe ich von früher Jugend an wer weiß wie oft gesehen, im Gemeindesaal im Pfarrhaus, vielleicht auch bei den eigenen Eltern.
Dennoch möchte ich es noch einmal mit Ihnen zusammen ansehen. Denn es zeigt uns Menschen heute, so gut wie die Leute vor etwa 360 Jahren, die Rembrandt hier gezeichnet hat.
Mir fällt auf der Höhenunterschied der Menschen rechts von Jesus und der anderen auf der linken Seite. Von denen rechts kann kaum einer aufrecht stehen. Sie sind vom Leben geschlagen. Auch diejenigen, die sich um sie kümmern und die sie zu Jesus bringen, auf dem Schubkarren etwa. Gut, dass wir dazu heute jedenfalls Rollstühle haben. Oder auf dem Kamel hinten im Eingang. Dazu haben wir heute unsere Autos. Wir sind besser dran. Und wir haben unsere Krankenhäuser mit ihrer weit entwickelten Medizin, für die wir Gott nur danken können. Insofern geht es uns doch sehr viel besser.
Rechts im Bild zeigt Rembrandt Leute, die bringen zu ihm Kranke und Besessene, Menschen, die mit mancherlei Gebrechen beladen sind, sagt Markus zusammenfassend. Er deutet damit vieles an.
Besessen (griechisch daimonizomonos), das meint bei Markus schlicht: ein Mensch, der überhaupt nicht mehr Herr seiner Sinne ist, der auch nicht mehr weiß, was er sagt. Nicht, dass jeder behinderte Mensch damit gleich ein daimonizomenos wäre. Es gibt Behinderte, die nicht wissen, was sie sagen und die in ihrem Zustand einer völligen Schuldunfähigkeit eine ausgesprochen freundliche, wohltuende Ausstrahlung auf andere haben. Ihre vielfache Behinderung als dämonische Besessenheit zu interpretieren, das wäre geschmacklos.
Aber es gibt Menschen, deren Psyche unter Zwängen steht, die Leib und Seele krank machen, unter Umständen vernichten. Und die gegen das, was sie da treibt, sehr hilflos sind. Dass eine solche psychische Krankheit für die Betroffenen wie für ihre Angehörigen eine schwere Last ist, das zu leugnen wäre unehrlich. Wir nennen das heute nüchterner psychosomatische Krankheit. Die kann chronisch und durchaus erträglich sein. Ich kenne keinen Menschen, der davon ganz frei ist. Dass seelische Nöte körperliche Reaktionen hervorrufen, das gehört wohl zu unserer Natur als Menschen.
Es kann das psychosomatische Leiden sich aber auch bis ins absolut Unerträgliche und Vernichtende steigern. Die Krankenberichte unserer Psychosomatischen Kliniken sind voll davon.
Auf der anderen Seite Jesu sehen wir andere, die viel höher stehen. Denen es viel besser geht. Von denen sind durchaus einige Jesus zugekehrt. Der Mann direkt bei der rechten Hand Jesu sieht aus wie Petrus. Er hat, wie wir wissen, auch Stunden in seinem Leben, in denen er sehr schwach wirkt und nur noch über sich heulen kann. Aber er lebt im Licht Jesu. Das macht seine Stärke aus. Daneben ein großer Mann, der doch offenbar sein Leben im Licht Jesu bedenkt.
Vor ihnen sitzt ein gutgekleideter, wohl einer aus reichem Haus, der überlegt, was es wohl für ihn und für sein Verhältnis zum Geld bedeuten würde, wenn er das, was er da hört, ernst nehmen würde. Er ist sich noch nicht schlüssig, ob er sein Leben wirklich dem Licht Jesu aussetzen soll.
Vor ihm eine Frau, die fest entschlossen ihr Kind zu Jesus bringt. Sie weiß, diese Ausstrahlung ist für mein Kind das Beste, was ihm geschehen kann. Und hinter ihr ein kleiner Junge, der seine Mutter geradezu hinzieht zu Jesus.
Aber darüber Menschen, die sehr selbstbewusst Jesus den Rücken zukehren und geradezu höhnisch über ihn diskutieren. Für sie ist es bald klar: der oder wir. Der Mann muss weg. Der mit dem spitzen Hut ist wohl der Anführer dieser Gruppe.
Wir alle sind in diesem Bild. Unsere verschiedenen Persönlichkeitsanteile kommen in recht verschiedenen Gestalten hier zum Ausdruck.
Eins haben alle gleich, rechts und links, die Kranken und die Leute, die derzeit gesund und normal dran sind: Der Hintergrund, vor dem sie leben, ist dunkel. Mit den Worten „Am Abend, als die Sonne untergegangen war“ bezeichnet ihn Markus. Hölderlin formuliert es noch dramatischer: „Deine Sonne, die schönere Zeit, ist untergegangen. Und in frostiger Nacht zanken Orkane sich nur.“

Er half vielen KrankenSchön, wie Markus das Wirken Jesu hier zusammenfasst: „Er half vielen Kranken, die mit mancherlei Gebrechen beladen waren.“ Hat er sie alle geheilt? Gewiss hat er viele Kranke geheilt. Von ihm ging Gesundheit aus. Auch heute! Er ist der Heiland. Es ist sehr sinnvoll, um Heilung zu beten. Nie so, dass wir bestimmen wollen, wie er uns helfen soll. Er muss nicht uns zu willen sein. Jedes Gebet am oder im Krankenbett sollte beginnen mit „Nicht mein Wille, sondern dein Wille geschehe.“ Aber dann dürfen wir ihn auch bitten: „Heile du mich, Herr, so bin ich heil.“
Anderen hat er geholfen und hilft er, mit ihrer Krankheit zurechtzukommen. Man kann krank sein und doch gesund und frei: in der Art, wie wir unsere Krankheit annehmen. Der uns eine Last auflegt, der hilft uns auch. Wenn er uns eine Last auflegt, wer weiß, was er damit erreicht. Es ist schon durch viele Kranke sehr viel Gesundheit, Kraft und Mut, auf andere übergegangen. Sie wurden gestärkt durch die Art, wie einer sein Leiden trägt und in seiner Krankheit keineswegs ein Häufchen Elend ist, sondern ein Mensch, der auch im Leiden eine Zuversicht lebt, die vielen anderen Kraft gibt. Sie wurden gestärkt, ihrerseits zu leben in dem Entschluss „Dennoch bleibe ich stets an Dir“ und in der Gewissheit „denn Du hältst mich bei meiner rechten Hand, du leitest mich nach Deinem Rat und nimmst mich am Ende mit Ehren an“.

Die glaubenslose Resignation„Und er trieb viele böse Geister aus.“ Das tut er auch heute: Ungeister, die Menschen quälen und kränken, etwa die Resignation, die Gott nichts zutraut und die einfach die Flinte ins Korn wirft. Viele werden krank, weil sie alle Hoffnung fahren ließen.

Die SelbstgerechtigkeitOder den bösen Geist der Selbstgerechtigkeit: dass wir die Menschen einteilen in gute oder böse. Nach diesem Muster sind Serienfilme im Fernsehen gestrickt, die in der 2000. Folge zeigen, wie gute Menschen gegen böse kämpfen. Sieht man eine Sendung, dann weiß man nach wenigen Minuten, wer hier zu den guten und wer zu den bösen Menschen gehört. Solche Serienfilme leben davon, dass sie das Freund-Feind-Schema in die Zuschauer hineinträufeln. Und weil wir alle nach diesem Ungeist geradezu süchtig sind, haben solche Serien ein sehr, sehr langes Leben. Dass diese Einteilung in Gute und Böse übrigens für die Menschheit heute gar nicht harmlos, sondern lebensgefährlich ist, das spüren wir besonders in der großen Politik der letzten Wochen. Die gegenseitige Bedrohung wächst. Je höher einer pokert, desto stärker und gerechter fühlt er sich. Wir können nur hoffen und beten, dass Gott sich von Menschen, die von diesem Ungeist getrieben sind, nicht seine Erde aus der Hand nehmen lässt. Jesus treibt diesen bösen Geist aus und hilft uns ganz schlicht, uns unseres Verstandes zu bedienen und zu sehen, dass Gutes wie Böses in jedem von uns miteinander ringt.

Das LeistungssystemOder den bösen Geist des Leistungssystems, in dem wir weithin gefangen sind wie ein Hamster im Hamsterrad: Je schneller er rennt, desto schneller bewegt sich das Rad, in dem er sich zu Tode rennt. Wir feiern das Luther-Jahr 2017. Viele von uns sind Luther gegenüber kritisch. „Luther und die Juden“, „Luther und die aufständischen Bauern“, auch ich habe da große Schwierigkeiten. Aber das Entscheidende, das er neu entdeckt und befreiend vertreten hat, das ist für uns im 21. Jahrhundert geradezu überlebensnotwendig: nämlich dass kein Mensch seinen Wert oder gar seine Existenzberechtigung selbst schafft durch das, was er leistet. Von der Wiege bis zur Bahre sind wir Gefangene des Systems, dass einer wert ist, was er leistet; wer nichts zustande bringt, gilt als Versager, wird missachtet, kann höchstens noch mit ein wenig Mitleid rechnen. Dieser böse Geist macht Unzählige krank, uns selbst, und wir kränken ständig Andere, wenn wir sie durch die Brille dieses Leistungssystems sehen. Es hindert uns daran, andere zu verstehen, sie so zu lieben, dass es ihnen gut tut. Dieser böse Geist verkrampft uns selbst, er kränkt uns, macht uns ängstlich, er nimmt uns die Lust zum Leben.

Er treibt die bösen Geister ausJesus treibt diesen bösen Geist aus. Und er verkörpert uns durch sein Leben bis in seinen Tod am Kreuz, dass wir durch und durch geliebte Kinder Gottes sind: der Versager so sehr wie der Hochleistungsträger in der Schule, im Sport, im Beruf bis hin zu den Nöten des Alters. Wir sind und wir bleiben Gottes geliebte Kinder, bedingungslos geliebt durch den Gott, der uns geschaffen hat, der sich für uns hingibt und der für uns einsteht in dieser Welt und weit darüber hinaus.
Diese befreiende Botschaft hat Jesus verkörpert im Leben und im Sterben. Und Luther hat sie neu entdeckt. Wir können sie nicht genug bedenken. Je entschiedener wir sie an uns und an anderen gelten lassen, desto freier leben wir, desto gründlicher wird der böse Geist, der uns kränkt und mit dem wir andere kränken, vertrieben und desto wahrhaftiger können wir andere so liebhaben, dass unsere Liebe ihnen zum Leben hilft.

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