19. Sonntag nach Trinitatis (23. Oktober 2022)

Autorin / Autor:
Pfarrerin Ulrike Nuding, Herrenberg [Ulrike.Nuding@elkw.de]

Markus 2, 1-12

IntentionDie Geschichte von der Heilung des Gelähmten in Kapernaum erzählt vom Anbruch des Reiches Gottes. Die Predigt zeigt Aspekte zum Verständnis der Geschichte auf und ermutigt zum diakonischen Dienst, damit Gottes Zuwendung und Liebe zu den Menschen nicht nur hörbar, sondern auch spürbar wird.

2,1 Und nach etlichen Tagen ging Jesus wieder nach Kapernaum; und es wurde bekannt, dass er im Hause war. Und es versammelten sich viele, sodass sie nicht Raum hatten, auch nicht draußen vor der Tür; und er sagte ihnen das Wort.
Und es kamen einige, die brachten zu ihm einen Gelähmten, von vieren getragen. Und da sie ihn nicht zu ihm bringen konnten wegen der Menge, deckten sie das Dach auf, wo er war, gruben es auf und ließen das Bett herunter, auf dem der Gelähmte lag. Da nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: „Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.“
Es saßen da aber einige Schriftgelehrte und dachten in ihren Herzen: „Wie redet der so? Er lästert Gott! Wer kann Sünden vergeben als Gott allein?“ Und Jesus erkannte alsbald in seinem Geist, dass sie so bei sich selbst dachten, und sprach zu ihnen: „Was denkt ihr solches in euren Herzen? Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: ‚Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin?‘“ Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben auf Erden – sprach er zu dem Gelähmten: „Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim!“
Und er stand auf und nahm sogleich sein Bett und ging hinaus vor aller Augen, sodass sie sich alle entsetzten und Gott priesen und sprachen: „Wir haben solches noch nie gesehen.“

Das Wunder in Kapernaum miterlebenLiebe Gemeinde, ich lade Sie heute zu einem Gedankenexperiment ein! Stellen wir uns vor, wir sind Teil dieser bekannten Heilungsgeschichte in Kapernaum. Wir gehören zu der Menschenmenge, die Jesus hören will. Wir drängen uns mit vielen anderen ins Haus, in dem Jesus zu Gast ist und hören, was Jesus zu sagen hat. Und wir erleben mit, wie Jesus dem von seinen Freunden gebrachten Kranken die Sünden vergibt und ihn heilt. Ein eindrückliches Erlebnis! Da ist die Predigt Jesu vom Reich Gottes ganz praktisch geworden: Evangelium in Wort und Tat.
Nachdem sich die Menschenmenge verlaufen hat, stehen wir noch unweit des Hauses zusammen, zunächst nur schweigend, beeindruckt und berührt von dem, was wir miterlebt haben. Dann beginnt ein langes Gespräch, in dem wir unsere Beobachtungen austauschen und unsere Eindrücke teilen.

Nur Jesus sprichtMerkwürdig ist, dass nur Jesus gesprochen hat. Die Vier, die ihren kranken Freund durchs Dach heruntergelassen haben, haben nicht geredet. Sie haben Jesus nicht gebeten, ihren Freund zu heilen. Auch der Kranke hat nichts gesagt. Hatte er vielleicht einen Schlaganfall, der nicht nur seine Gliedmaßen, sondern auch sein Sprachzentrum gelähmt hat? Auch das Streitgespräch mit den Schriftgelehrten war nur scheinbar ein Gespräch. Denn auch die Schriftgelehrten haben kein Wort gesagt. Vielleicht ist das auch nur uns aufgefallen. Denn alle anderen schienen wie Jesus zu wissen, was deren Vorwurf an Jesus war. Jesus antwortete darauf, ohne dass dieser Vorwurf ausgesprochen wurde.

Darf Jesus Sünden vergeben?Alle schienen Anstoß daran zu nehmen, dass Jesus Sünden vergibt. Für uns hingegen ist das überhaupt nicht anstößig. Vielmehr ist es Kern unseres Glaubens, dass wir durch Jesu Tod die Sündenvergebung erlangen. Für uns ist klar, dass Jesus Gottes Sohn ist. Er kann und er darf Sünden vergeben. Und das nicht nur durch seinen Tod am Kreuz, sondern auch in seiner irdischen Wirksamkeit. So hat er es ja auch vielfach getan, als er mit Zöllnern und Sündern Tischgemeinschaft gehalten hat. Die Gemeinschaft mit Jesus hat sie verändert, ohne dass Jesus ihnen explizit ihre Sünden vergeben hat. Das beste Beispiel dafür ist doch Zachäus.
Aber für alle anderen außer uns, die die Heilung und Sündenvergebung in Kapernaum miterlebt haben, war das etwas Ungeheures. Und dann die verfängliche Frage, die Jesus gestellt hat: Was ist leichter: Sünden zu vergeben oder zu heilen? Sie war für sie so einfach nicht zu beantworten. Denn je nach Perspektive waren beide Antworten falsch oder beide Antworten richtig. Die Sündenvergebung ist vom Augenschein her leichter, denn wer könnte sie kontrollieren? Vom Glauben her aber ist sie eigentlich unmöglich, weil nur Gott Sünden vergeben kann. Die Heilung ist vom Glauben her leichter, medizinisch aber schwerer, denn es wird bei einer Lähmung ja schnell klar, ob der Kranke wirklich gesund geworden ist.

Wir heute haben eine andere PerspektiveIn unserer Austauschrunde ist schnell klar, dass wir, die wir von Kreuzigung und Auferstehung Jesu wissen, manches ganz anders sehen als die Menschen damals in Kapernaum. Wir wissen und glauben, dass Jesus der Sohn Gottes ist. Das unterscheidet uns von den Menschen in Kapernaum, bei denen es sich höchstens andeutet, dass Jesus mehr ist als ein Wanderprediger und ein Wundertäter.
Soweit das Gedankenexperiment, liebe Gemeinde. Kommen wir gedanklich wieder von Kapernaum zurück in unsere Kirche.

Die Heilszeit ist schon angebrochenDie Heilungsgeschichte erzählt uns vom Anbruch der Heilszeit durch Jesu Wirken in unserer Welt. Davon, dass der ganze Mensch heil wird. Der Leib wird von Krankheit und der Geist von Sünden befreit. Das geschieht in Kapernaum exemplarisch: Der Gelähmte geht befreit von Krankheit und Sünde nach Hause. Ein neuer Mensch, heil und ganz an Leib und Seele. Jesu Predigt vom Reich Gottes bleibt nicht nur Verheißung. Sie ereignet sich mitten unter den Menschen. Und das nicht nur damals in Kapernaum, sondern auch bei uns: dann und wann, stückweise, als Vorgeschmack auf das Reich Gottes.

Der Heilung geht ein Wunder vorausDas umfassende Wunder der Heilung beginnt in Kapernaum mit einem Wunder vor dem Wunder. Der Gelähmte muss nicht traurig sagen, wie der Kranke am Teich Bethesda: „Ich habe keinen Menschen!“ Er hat Freunde, Nachbarn, Angehörige, die ihn nicht sich selbst überlassen. Sie halten zu ihm und vier von ihnen bringen ihn zu Jesus über alle Hindernisse hinweg. Wie wunderbar! Einfallsreich und erfinderisch lösen sie das Problem, dass es kein Durchkommen zu Jesus gibt.

Diakonischer Dienst gehört zur Predigt vom Reich GottesDie Vier sind Vorbild für jeden diakonischen Dienst in der Krankenpflege, in der Altenhilfe, in der Behindertenhilfe oder in der Flüchtlingsarbeit: Sie übernehmen Verantwortung für einen Menschen, der Hilfe braucht. Hier findet der Glaube seinen Ausdruck im praktischen Tun; im Einsatz für andere erfinderisch nach Lösungen suchen, Widerstände überwinden und nicht aufgeben. Angetrieben durch die Sehnsucht nach Heilung ermöglichen die Vier ihrem Freund eine Begegnung mit Jesus und machen für ihn Gottes Zuwendung spürbar.
Weil allein die Predigt Jesu dem Freund nicht weiterhilft, steigen die Vier der Verkündigung aufs Dach und fordern Jesus unmissverständlich zum Handeln auf. Beides gehört zusammen: Verheißung von Heil und Heilung. Wort und Tat. Nur miteinander und aufeinander bezogen sind sie Evangelium. Nur im Zusammenklang sind sie frohe Botschaft vom Anbruch des Reiches Gottes.

Jesus kennt die Herzen und die GedankenSo wie das Dach aufgedeckt wird, um den Freund ins Haus herunterlassen zu können, werden die Gedanken derer aufgedeckt, die im Haus versammelt sind. Bevor die Freunde für ihren Freund um Heilung bitten, versteht Jesus ihr Ansinnen. Bevor sie sagen können, dass sie darauf vertrauen, dass Jesus ihn gesund machen kann, sieht Jesus ihren Glauben. Bevor die Schriftgelehrten das Streitgespräch beginnen und Jesus Gotteslästerung vorwerfen, wendet Jesus sich an sie und stellt ihnen die Fangfrage: Ist es leichter zu sagen „Dir sind deine Sünden vergeben“ oder zu sagen „Steh auf, nimm dein Bett und geh hin?“. Jesus schaut in die Herzen und kennt die Gedanken. Er weiß auch, was wir brauchen: Ganzsein und Heilsein an Leib und Seele.

Und wenn kein Heilungswunder geschieht?Damals in Kapernaum geschieht dieses Wunder. Heute bei uns oft nicht. Auch wenn wir voll Vertrauen mit unserem Wochenspruch bitten „Heile du mich, Herr, so werde ich heil; hilf du mir, so ist mir geholfen“, werden wir oft nicht gesund – und auch die nicht, für die wir bitten. Die wir vor Gott bringen, für die wir im übertragenen Sinn das Dach abdecken.

Ein anderes WunderUnd doch bleibt unsere Bitte und unsere Sehnsucht nicht ungehört. Vielleicht geschieht dann ein anderes Wunder. Das Wunder, dass Gott die Kraft schenkt, mit der Krankheit umzugehen oder mit einem belastenden Gedanken oder einer Schuld. Oder das Wunder, dass er uns Menschen an die Seite stellt, die uns in dieser schweren Zeit zur Seite stehen und durchtragen. Ein Wunder, anders als wir es erbeten haben. Aber ebenso ein Wunder, in dem Gottes Liebe und Gottes Nähe für uns spürbar werden.

Kein Gruß, kein DankDer Gelähmte nimmt sein Bett und geht. Grußlos und ohne Dank. Der diakonische Dienst, die Nächstenliebe rechnet, auch wenn sie mit großem Einsatz geschieht, nicht mit einem selbstverständlichen Lohn. Das Risiko, dass der Einsatz für andere nicht wertgeschätzt wird, bleibt. Und doch ist unser Predigttext eine Hochschätzung der Verantwortung für andere, ein Lob der Nächstenliebe. Lassen wir uns anstecken vom Einsatz der vier Freunde, von ihrem Erfindungsreichtum und ihrer Lösungsorientiertung, von ihrer Hartnäckigkeit und auch von ihrer Frustrationstoleranz. Und überlegen wir als einzelne und als diakonische Träger: Wer braucht heute unsere Hilfe, und wie packen wir es an, dass Gottes Zuwendung und seine Nähe für andere spürbar werden? Amen.

Wichtige Anregungen für diese Predigt sind entnommen aus: Manfred Köhnlein, Wunder Jesu – Protest- und Hoffnungsgeschichten, Stuttgart 2010, S. 31-43.

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