19. Sonntag nach Trinitatis (26. Oktober 2025)

Autorin / Autor:
Landesjugendpfarrer i.R. Bernd Wildermuth, Backnang [berndwildermuth@web.de]

Johannes 5,1–16

Intention
Die Predigt nimmt Hörerinnen und Hörer in das Geschehen am Teich Bethesda mit aus der Perspektive des Gelähmten. Sie sollen nacherleben und nachempfinden, um zu verstehen: Die Heilung des Gelähmten ist anlassfrei und geschieht ganz und gar aus Gnade. Wunder sind damals wie heute unverfügbar und weder methodisch noch durch Gebet erzwingbar. In den Augen Jesu steht der Mensch im Mittelpunkt. Darum erfüllt er das Sabbatgebot, indem er ihn heilt – und so die schwerste Sorge und Einschränkung eines Menschen von ihm nimmt.

Liebe Gemeinde,
der heutige Predigttext führt uns an den Teich Bethesda in Jerusalem. Es ist kein Naturteich, sondern bezeichnet ein aus zwei Quellen gespeistes, etwa 50 x 60 m großes Becken. Dann und wann soll ein Engel das Wasser bewegen, was dazu führt, dass das Wasser ungeheure Heilungskräfte entfalten soll, ein Lourdes zur Zeit Jesu.

"Danach war ein Fest der Juden, und Jesus zog hinauf nach Jerusalem. Es ist aber in Jerusalem beim Schaftor ein Teich, der heißt auf Hebräisch Betesda. Dort sind fünf Hallen; in denen lagen viele Kranke, Blinde, Lahme, Ausgezehrte. Es war aber dort ein Mensch, der war seit achtunddreißig Jahren krank."

Hoffnung verloren
Er hat aufgehört, die Tage zu zählen. Er hat aufgehört, darüber nachzudenken, ob sich noch einmal etwas in seinem Leben ändern wird. Er liegt nur noch da. Das Einzige, was ihm geblieben ist, ist sein Bett. Bett!? – Ein leichtes Holzgestell mit einer Matte, das war alles. Auf zwei Quadratmetern spielte sich sein Leben ab. Es wurde morgen, es wurde Abend, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Früher, da hatte er noch Hoffnung gehabt. Da hatte er sich mit seinen Armen nach vorne gezogen – Meter für Meter. Aber wenn er am Teich ankam, dann war alles schon gelaufen. Das Wasser hatte sich bewegt und war, wenn er am Ufer des Teiches ankam, schon längst wieder ruhig geworden. All die anderen Kranken, Taube und Aussätzige, die Blinden und die Fallsüchtigen. Sie waren immer vor ihm am Teich gewesen. Er bekam nicht einmal mit, wer als Erster das Wasser erreichte und ob sich wirklich ein Wunder ereignete.
Dann und wann muss ein Wunder geschehen sein, wenn plötzlich zwischen all den Kranken Jubelschreie erklangen. Meist hatte er es nur aus den Augenwinkeln mitbekommen, wie jemand plötzlich zwischen den Krankenlagern zu tanzen anfing. Dann zuckte es in seinem Herzen. Dann wusste er nicht, ob er sich mitfreuen sollte, weil jemand gesund geworden war, oder ob er lieber weinen sollte, weil er es wieder nicht geschafft hatte. Immer hatten die anderen Glück. „Ja, diese Hallen hier sind ein Hexenkessel, aus Hoffnung und Missgunst, aus Mitleid und Neid“, so empfand er seine Umgebung. Und er mittendrin.
Allmählich hatte er gelernt, dass er wohl niemals der erste sein würde, der den Teich erreicht. Wie gebannt katte er in den ersten Monaten hier auf das Wasser gestarrt. „Beweg dich, beweg dich!“, hämmerte es in seinem Schädel. Und dann: Enttäuschung – immer waren die anderen schneller als er.
„Vielleicht ginge es ja nachts, vielleicht, wenn die anderen schlafen, dass er dann ganz heimlich still und leise das bewegte Wasser erreichen könnte …“ Aber so dachten viele andere auch. Und er war wieder nicht vorne mit dabei.
Tragen müsste ihn jemand, tragen. Ja, wenn andere ihn tragen, dann würde er es schaffen. Dann könnte er – so Gott will – gesund werden. Aber wann war schon jemand da, der ihn besuchte? Jemand, der sich die Mühe machte, raus aus der Stadt zu laufen, um ihn hier inmitten von Krankheit, Schmutz und Gestank zu besuchen. Und dann sollte sich im Moment des Besuchs auch noch das Wasser bewegen. Nein, so viel Glück gab es nicht! Jedenfalls nicht für ihn. Er lag da und wartete ohne Ziel, weil die Hoffnung ihn verlassen hatte, weil die Menschen ihn verlassen hatten, weil ihn scheinbar auch Gott verlassen hatte.

Begegnung mit einem Unbekannten
"Als Jesus ihn liegen sah und vernahm, dass er schon so lange krank war, spricht er zu ihm: Willst du gesund werden?"
Was für eine Frage: Willst du gesund werden? Als ob er sich sein Bett freiwillig als Lebensstätte ausgesucht hätte. Willst du gesund werden? 38 Jahre lag er hier! Und da kommt einer vorbei und fragt ihn. In diesem Chor der Aussätzigen, Blinden, Tauben und Lahmen wird er angesprochen! Ob Jesus ihn trägt? Ob er der ist, der sich Zeit für ihn nimmt? Er kann, er muss es versuchen! Und mit einem Mal ist die Hoffnung der Jugend wieder da. Und so sagt er es:
"Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hinein."
Doch jetzt wird es sich zeigen, ob Jesus mit einem gelangweilten Kopfnicken weitergeht. Oder ob er mit ihm wartet, bis sich wieder das Wasser bewegt – und ihn dann zum Teich trägt. Dann hätte er plötzlich in seinem Leben eine wirkliche Chance. Doch der Mann, den er nicht kennt, reagiert ganz anders.

Heilung – Gott sei Dank
"Jesus spricht zu ihm: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin!"
Kaum hatte er diese Worte gehört, spürte er, wie sein Körper sich belebte. Mein Gott, jeden Abschnitt seines Körpers konnte er mit einem Male fühlen. Die Beine verstanden plötzlich, was der Kopf ihnen zurief: „Steh auf!“
"Und sogleich wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging hin. Es war aber Sabbat an diesem Tag."
Raus aus den Hallen! Hinaus zum Fest! In den Tempel! Ja, in den Tempel soll der erste Weg gehen. Der erste Weg auf eigenen Füßen – nach 38 Jahren. Der eben noch gelähmte, nun aber geheilte Mensch geht, um Gott zu danken. Er weiß nicht, wer ihm geholfen hat. Er weiß aber: Gott hatte seine Hand im Spiel.

Wunderbare Heilung
Liebe Gemeinde, und wie sieht die Geschichte von der Seite Jesu aus? Er kommt, er sieht, er befiehlt: Steh auf, nimm dein Bett und geh! Jesus kann nicht zu ihm sagen: Geh hin, dein Glaube hat dir geholfen. Denn bei diesem Menschen ist weder Gottvertrauen noch Selbstvertrauen vorhanden. Der Mann bittet auch nicht um Heilung. Er weiß nicht einmal, wer Jesus ist. Nicht der Glaube an den Heiland wirkt hier das Wunder, sondern allein die Treue Gottes lässt den Gelähmten wieder laufen.
Es ist etwas, das wir nicht fassen können. In der Medizin gibt es den Ausdruck „Spontanheilung“ – Heilung in einem Moment. Noch heute geschieht solche Heilung. Aber sie ist unverfügbar. Keine Wallfahrt nach Lourdes und kein Gebet können sie erzwingen. Eine solche Heilung ist Zeichen der Gnade. Sie bleibt gewissermaßen in der Unverfügbarkeit Gottes verborgen.

Lebenserneuerung am Feiertag
Hier könnten die Geschichte und die Predigt zu Ende sein. Alle könnten sich mit dem Gelähmten freuen und mindestens in Gedanken mit ihm feiern.
Aber so einfach halten wir es nicht mit dem Glück und auch nicht mit Gottes Gnade. Es gibt immer etwas auszusetzen. Es ist immer etwas nicht perfekt oder nicht regelkonform. Wir hören das Ende des Abschnitts:

"Da sprachen die Juden zu dem, der geheilt worden war: Heute ist Sabbat, es ist dir nicht erlaubt, dein Bett zu tragen. Er aber antwortete ihnen: Der mich gesund gemacht hat, sprach zu mir: Nimm dein Bett und geh hin! Sie fragten ihn: Wer ist der Mensch, der zu dir gesagt hat: Nimm dein Bett und geh hin? Der aber geheilt worden war, wusste nicht, wer es war; denn Jesus war fortgegangen, da so viel Volk an dem Ort war. Danach fand ihn Jesus im Tempel und sprach zu ihm: Siehe, du bist gesund geworden; sündige nicht mehr, dass dir nicht etwas Schlimmeres widerfahre. Der Mensch ging hin und berichtete den Juden, es sei Jesus, der ihn gesund gemacht habe. Darum verfolgten die Juden Jesus, weil er dies am Sabbat getan hatte."

Ob die Menschen damals auch so reagiert hätten, wenn Jesus ein Kind oder einen Bruder von ihnen geheilt hätte? Und hätten sie so reagiert, wenn Jesu Heilung erfolglos geblieben wäre?
Natürlich durchbricht in ihren Augen schon der Heilungsversuch das Sabbatgebot. Wir dagegen sind deshalb schnell dabei, über die Menschen damals ein negatives Urteil zu fällen im Duktus von: „Das ist kleinlich, verbohrt, Paragrafenreiterei.“ So ein Urteil wäre aber bestenfalls die halbe Wahrheit.
Warum ist gesetzestreuen Juden das Halten des Sabbatgebotes so wichtig? Nach einer jüdischen Tradition im Talmud und in weiteren Texten erscheint der Messias, wenn das gesamte Volk Israel den Sabbat einmal vollständig hält. Diese Tradition besagt, dass das vollständige Halten des Sabbats einer Erfüllung aller Gebote gleichkommt.
Aber das gelingt nur, wenn alle mitmachen und sich daran halten. Deshalb haben die Menschen damals gerade von Jesus ein anderes Verhalten erwartet.
Und welche Haltung hat Jesus selbst dazu? Im Markusevangelium wird es konkret, wenn er sagt: „Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat.“ Deshalb heilt Jesus auch am Sabbat.
Nicht nur der Sabbat ist für den Menschen, sondern Jesus selbst ist für die Menschen da – in Wort und Tat. In seinem Reden und Tun ist das Reich Gottes nahe herbeigekommen. Wo Blinde plötzlich sehen und Lahme plötzlich gehen, wo Bedürftigen das Evangelium verkündigt wird, da zeigen sich Spuren Gottes im Leben von Menschen. Da findet Lebenserneuerung statt. Lebensrettung und Lebensheilung wiegen schwerer als das Gebot der Arbeitsruhe. Das gilt nicht nur damals am Teich Bethesda, sondern auch heute, hier und jetzt bei uns – Gott sei Dank! Amen.


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