2. Advent (10. Dezember 2017)

Autorin / Autor:
Pfarrerin Christiane Wille, Esslingen [christiane.wille@elkw.de]

Jesaja 63, 15-19; 64, 1-4

Liebe Gemeinde,
der zweite Advent, die zweite Kerze brennt, nur noch zwei Wochen bis Weihnachten. Verkürzt, verdichtet scheint in diesem Jahr die Adventszeit. Auch wenn es nur ein paar Tage weniger sind. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, ich muss mich ranhalten mit dem Advent. Es gibt wieder einmal so viel zu tun. Plätzchen backen, Weihnachtsbasteleien, Geschenke besorgen, Adventsfeiern und Weihnachtskarten schreiben. Und zwischendrin das dringende Bedürfnis, zur Ruhe zu kommen. Die Kerzen am Adventskranz anzünden. Adventslieder singen. Mich einstimmen auf Weihnachten.

Was heißt es eigentlich, sich auf Weihnachten einzustimmen? Plätzchen, Kerzen, Lieder, das gehört für mich irgendwie dazu. Aber im Kern geht es wohl doch um etwas anderes. Es geht in der Adventszeit um meine Beziehung zu Gott. „Wie soll ich dich empfangen und wie begegne ich dir“, fragt Paul Gerhardt in dem Lied, das in der Adventszeit in den Kirchen gesungen wird.

Das ist keine rhetorische Frage. Wie begegne ich Gott? Und wie begegnet Gott mir? Das sind die echten Fragen, um die es im Advent geht.
Diese Fragen prägen auch den Predigttext des heutigen Sonntags, auch wenn er mit dem Advent, den ich kenne, zunächst wenig zu tun zu haben scheint.
Der Predigttext steht im Buch Jesaja, Kapitel 63,15-19 und 64,1-4.

„So schau nun vom Himmel und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung! Wo ist nun dein Eifer und deine Macht? Deine große, herzliche Barmherzigkeit hält sich hart gegen mich.
Bist du doch unser Vater; denn Abraham weiß von uns nichts, und Israel kennt uns nicht. Du, Herr, bist unser Vater; ‚Unser Erlöser‘, das ist von alters her dein Name.
Warum lässt du uns, Herr, abirren von deinen Wegen und unser Herz verstocken, dass wir dich nicht fürchten? Kehr zurück um deiner Knechte willen, um der Stämme willen, die dein Erbe sind!
Kurze Zeit haben sie dein heiliges Volk vertrieben, unsre Widersacher haben dein Heiligtum zertreten.
Wir sind geworden wie solche, über die du niemals herrschtest, wie Leute, über die dein Name nie genannt wurde.
Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen,
wie Feuer Reisig entzündet und wie Feuer Wasser sieden macht, dass dein Name kundwürde unter deinen Feinden und die Völker vor dir zittern müssten,
wenn du Furchtbares tust, das wir nicht erwarten, und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen!
Auch hat man es von alters her nicht vernommen. Kein Ohr hat gehört, kein Auge hat gesehen einen Gott außer dir, der so wohltut denen, die auf ihn harren.
Du begegnest denen, die Gerechtigkeit üben und auf deinen Wegen deiner gedenken. Siehe, du zürntest, und wir sündigten; als du dich verbargst, gingen wir in die Irre.“

Wenn Gott sich rar machtWie begegne ich Gott und wie begegnet Gott mir? Die Antwort in diesem Text kommt auf den ersten Blick nicht sehr adventlich daher. Wie begegnet hier Gott? Hier spricht ein Mensch mit Gott, der die Erfahrung macht, dass Gott ihm nicht freundlich begegnet. Keine Spur von Gottes Liebe und Barmherzigkeit. Im Gegenteil, er macht die Erfahrung, dass Gott ihm überhaupt nicht begegnet. Fern ist. Weit weg auf seinem himmlischen Thron. Ohne Anteilnahme an dem, was auf der Welt passiert.

Ja, wo ist Gott, wenn die Welt vor die Hunde geht. Wenn die Kinder in Aleppo sterben. Wo ist er, wenn die Menschen im Kongo, im Jemen und an so vielen anderen Orten hungern. Wo ist er, wenn ich in meinem Leben am Abgrund stehe. Wenn meine Beziehung am Ende ist. Wenn ich einen lieben Menschen verloren habe. Wo ist er, wenn mein Kind ausgegrenzt wird, sich nicht mehr am Leben freuen kann.

„So schau nun vom Himmel und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung!“, ruft der Beter im Predigttext Gott zu. Dreh dich nicht weg, schotte dich nicht ab in himmlischen Gefilden. Sei kein Gott, den die Welt nichts angeht. So unverblümt spricht der Beter mit seinem Gott. Nach dem babylonischen Exil etwa 500 Jahre vor Christus ist der Text wohl entstanden. Hier klagt ein Mensch stellvertretend für das ganze Volk Israel, dessen Tempel zerstört und dessen Elite nach Babylon verschleppt wurde. Er wirft Gott wie einem pflichtvergessenen Menschen vor, seine eigentlichen Aufgaben zu vernachlässigen. Gott kümmert sich nicht mehr um sein Volk Israel. Die Menschen werden kleingläubig und verzagt. Ihre Tradition ist seit der Zerstörung des Tempels im wahrsten Sinne des Wortes „abgebrochen“. Die Frömmigkeit im Niedergang begriffen. Gott zieht sich zurück. Das kränkt.

Vielleicht kennen Sie das. Wenn ein guter Freund sich plötzlich rar macht. Das Interesse an mir verliert. Ein paar Mal die Ausrede – keine Zeit. Und dann nicht einmal mehr Ausreden. Einfach Kontaktabbruch. Das ist schlimm genug. Aber wenn Gott sich rar macht? Was dann?
Das Volk Israel hat das erlebt. Und der Beter bringt es auf den Punkt: dann sind wir gottvergessen. Und zwar gottvergessen in einem doppelten Sinne: Israel wurde von Gott vergessen und umgekehrt haben die Menschen auch selbst Gott vergessen. „Wir sind geworden wie solche, über die du niemals herrschtest, wie Leute, über die dein Name nie genannt wurde.“ Das ist fast der größte Vorwurf: Gott, wie konntest du dich zurückziehen und damit zulassen, dass wir dich schließlich vergessen haben?

Ermutigung zur KlageDer Beter greift zu drastischen Worten: „Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen.“ „O Heiland reiß die Himmel auf!“ In dem Adventslied haben wir das auch. Diese dringende Bitte an Gott, sich zu zeigen. Den Wunsch, dass er stark und gewaltig erscheint hier auf der Erde, dass die Schöpfung erzittert, dass sich niemand mehr entziehen kann. Das wäre was…Aber Gott zeigt sich nicht so, wie der Beter es sich wünscht.

Die Beziehung zwischen Gott und seinen Menschen ist nachhaltig gestört. Da nimmt der Beter kein Blatt vor den Mund. Aber er scheint die Hoffnung nicht aufgegeben zu haben. Denn er redet noch mit Gott, auch wenn dieser sich ihm entzieht. Er wirft ihm alles vor die Füße. Mutet ihm sich selbst, seine Einsamkeit und die seines Volkes zu.

Solange wir noch miteinander reden, besteht Hoffnung. Wenn ich mit der Arbeitskollegin den Konflikt besprechen kann, wenn ich ihr sagen kann, dass mich ihr Verhalten gekränkt hat. Wenn ich mir auch anhöre, wie sie mein Verhalten erlebt hat. Solange besteht Hoffnung, dass es noch eine gedeihliche Zusammenarbeit wird. Wenn ich meinem Partner gegenüber formuliere, wo ich frustriert bin und was ich mir für das gemeinsame Leben wünsche, und wenn ich mir gleichzeitig anhöre, welche Frustrationen und Wünsche er hat. Dann besteht Hoffnung, dass wir einen gemeinsamen Weg finden. Sicherlich nicht den, wo alles so läuft, wie ich es mir vorstelle. Aber einen, auf dem ich Vertrauen in den anderen habe und mich immer wieder überraschen lasse.

Was für die Beziehung zwischen Menschen gilt, gilt auch für die Beziehung zu Gott. Der Beter in unserem Text macht es vor. Er mutet Gott seinen Frust und Ärger, seine Einsamkeit und seine Hoffnung zu. Er nimmt Gott beim Wort, bei dem, was er versprochen hat: „Du bist unser Herr, unser Vater, unser Erlöser.“ Das zu sagen, setzt Vertrauen voraus. Das Vertrauen, dass sich Gott beim Wort nehmen lässt. Dass er der Vater bleibt und der Erlöser, wenn auch nicht so, wie der Beter es sich vielleicht ursprünglich vorgestellt hat, mit Tempel und Priestern. Gott, darauf vertraut der Beter, bleibt seinem Volk treu und steht ihm zur Seite: „Kein Ohr hat gehört, kein Auge hat gesehen einen Gott außer dir, der so wohltut denen, die auf ihn harren.“

Klage und Vertrauen – das gehört zusammen. Ehrlich mein innerstes Leid klagen, das kann ich nur jemandem, dem ich vertraue. Bei dem ich weiß, dass ich ihm das zumuten kann. Wenn ich das tun kann, ist das eine befreiende Erfahrung.
Gott kann ich mein Leid, Gott kann ich mich selbst und all meine Nöte zumuten. Darauf hat der Beter 500 Jahre vor Christus vertraut. Darauf darf ich in der Adventszeit ganz besonders hoffen. Gott hat den Himmel tatsächlich aufgerissen. Wenn auch anders, als sich der Beter es vorstellt. Die Berge sind nicht zerflossen. Gott ist Mensch geworden. Er hat sich hereinziehen lassen in die Welt, in die Lebensgeschichten der Menschen, in ihre Freuden und Nöte. Er hat von Geburt bis zum Tod alles mit durchlebt. Er leidet mit mir. An ihn kann ich mich wenden. Das ist meine adventliche Hoffnung. Insofern will ich mir den Beter als Vorbild nehmen. Er hadert und gibt seinen Gott trotzdem nicht auf. Er ist ehrlich zu Gott und ehrlich zu sich selbst. Er wirft Gott sein Leid vor die Füße, mutet ihm sich ganz zu und erhofft doch die Rettung von ihm allein, bereit, sich von ihm überraschen zu lassen.

Wenn ich Gott ehrlich mein Leid klagen kann, gebe ich mich nicht mit dem Faktischen, mit dem was ist, zufrieden. Wenn ich Gott ehrlich mein Leid klagen kann, verändert das auch meinen Blick auf mein eigenes Leiden. Ich muss mich nicht mehr nur darauf fixieren. Ich bin nicht mehr allein. Wenn ich Gott mein Leid klagen kann, hoffe ich auf mehr. Auf seine Verheißungen für mein Leben und die ganze Welt. Diese Hoffnung ist adventlich.
Amen.

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