2. Sonntag nach Epiphanias (14. Januar 2024)

Autorin / Autor:
Prälat i.R. Dr. Christian Rose, Eningen [christian@rose-eningen.de ]

Hebräer 12,12-18.(19-21.)22-25a

IntentionAn einem Studientag zum Hebräerbrief wurde der Predigttext mit PrädikantInnen behandelt. Die Dialogpredigt, die gemeinsam mit der Prädikantin und Landessynodalin Marion Blessing (B) gestaltet wurde, nimmt Impulse aus dem Kreis der PrädikantInnen auf. Sie ermutigt in turbulenten Zeiten, inmitten aller Zweifel das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren: Das Epiphaniaslicht der Herrlichkeit Gottes weist uns den Weg ins himmlische Jerusalem. Es strahlt herein, wann immer sich das glaubende und wandernde Gottesvolk versammelt, und sei die Schar auch noch so klein.

(1) Mal so, mal so (B)Haben Sie heute Morgen schon jemand mit Handschlag begrüßt? War der Händedruck ein fester oder ein schwacher? Vor einigen Jahren betreute und begleitete ich beruflich eine depressive junge Frau. Ihr Händedruck war das Spiegelbild ihrer Befindlichkeit, Ausdruck dessen, wieviel Kraft ihr in der momentanen Situation zur Verfügung stand. Ging es ihr gut, war ihr Händedruck fest; ging es ihr schlecht, dann war ihr Händedruck schwach. Der Händedruck war zugleich ein Gradmesser ihrer Perspektive: vorwärts- oder rückwärtsgewandt, resigniert oder entschlossen.

(2) Unterwegs auf der Erde – Pilgern ist „in“ (A)Ja, manchmal kommt es auf die Perspektive und auf die Situation an, in der wir uns gerade befinden. Angenommen, wir wären unterwegs auf einer Pilgerwanderung. Pilgern zieht immer mehr Menschen an. Ein ganzes Netz von Pilgerwegen spannt sich durch Mitteleuropa, auch durch unser Ländle. Der berühmte Jakobsweg ist auf manchen Abschnitten dicht bevölkert. Santiago de Compostela ist für viele Pilger ein Sehnsuchtsort. Da wollen sie unbedingt hin. Um das Ziel zu erreichen, braucht es langen Atem und genügend Kondition. Doch manchmal ist die Luft raus, Hände ermüden, Knie wanken.
Von einer besonderen Pilgerwanderung und einem außergewöhnlichen Sehnsuchtsort handelt unser Predigttext aus dem 12. Kapitel des Hebräerbriefes:

12 Darum stärkt die müden Hände und die wankenden Knie 13 und tut sichere Schritte mit euren Füßen, dass nicht jemand strauchle wie ein Lahmer, sondern vielmehr gesund werde. 14 Jagt dem Frieden nach mit jedermann und der Heiligung, ohne die niemand den Herrn sehen wird, 15 und seht darauf, dass nicht jemand Gottes Gnade versäume; dass nicht etwa eine bittere Wurzel aufwachse und Unfrieden anrichte und viele durch sie verunreinigt werden.
18 Denn ihr seid nicht zu etwas gekommen, das man anrühren konnte und das mit Feuer brannte, nicht zu Dunkelheit und Finsternis und Ungewitter. 22 Sondern ihr seid gekommen zu dem Berg Zion und zu der Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem, und zu den vielen tausend Engeln und zur Festversammlung 23 und zu der Gemeinde der Erstgeborenen, die im Himmel aufgeschrieben sind, und zu Gott, dem Richter über alle, und zu den Geistern der vollendeten Gerechten 24 und zu dem Mittler des neuen Bundes, Jesus. 25 Seht zu, dass ihr den nicht abweist, der da redet.

(3) Gemischte Gefühle (B)Der Text hat am Studientag zwiespältige Gefühle und Gedanken hervorgerufen: Es gab viel Zustimmung für das Sehnsuchtsbild und die frohe Erwartung: Ihr seid zum Berg Zion hinzugetreten. Ihr steht vor dem himmlischen Jerusalem. Ihr seid nahe bei den Engeln Gottes, bei der Festversammlung und bei all denen, deren Namen im Himmel aufgeschrieben sind.
Es gab aber auch Irritation und Widerspruch: Warum diese vielen Appelle, Aufforderungen und Ermahnungen? „Stärkt die müden Hände und die wankenden Knie. Tut sichere Schritte, dass nicht jemand strauchle. Jagt dem Frieden nach.“ Und dann noch die vielen Verneinungen: „Gebt acht, dass ihr die Gnade Gottes nicht versäumt! Passt auf, dass keine bittere Wurzel unter euch aufwächst und Unfrieden anrichte. Seht zu, dass ihr den nicht zurückweist, der da redet.“ Bringen solche Ermahnungen etwas?
Fast höre ich mich selbst reden wie zu meinen Töchtern: „Räum die Spülmaschine aus“, „erledige deine Hausaufgaben“, „komm nicht zu spät heim“. Das nervt und ruft Widerspruch hervor. Ich finde es besser, wenn wir positiv formulieren, Menschen einladen und motivieren, wenn wir ihnen Sehnsuchtsbilder vor Augen malen. So wie Antoine de Saint Éxupery, der Autor des Kleinen Prinzen. Von ihm stammt das Zitat:
„Wenn du ein Schiff bauen willst, so trommle nicht Leute zusammen, um Holz zu beschaffen, Werkzeuge vorzubereiten, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern wecke in ihnen die Sehnsucht nach dem weiten endlosen Meer.“
Wie gewinnen wir Menschen, dass sie im Glauben mit unterwegs sein wollen und durchhalten können auf dem langen Weg zum himmlischen Zion, zum himmlischen Jerusalem, zur Stadt Gottes?

(4) Andere Zeiten – andere Worte (A)So seltsam es klingen mag: Der Verfasser der Hebräerbriefpredigt will auf-muntern und dazu motivieren, nicht aufzugeben. Ja, seine Worte sind nicht unsere Worte. Es waren andere Zeiten. Die Predigt wendet sich an eine müde und bedrängte Gemeinde. Sie musste um ihres Glaubens willen einen schweren Leidenskampf erdulden. So geht es auch heutzutage Millionen von Menschen. Sie werden um ihres Glaubens willen bedrängt, beschimpft, beraubt, verjagt oder gar getötet. Wer will ihnen da verdenken, wenn sie müde werden und anfangen zu zweifeln? In dieser bedrängten Situation wählt der Prediger leidenschaftliche Worte. Jeder Satz rüttelt wach: Schaut auf! Ihr seid kurz vor dem Ziel! Die Tür in die himmlische Welt steht schon jetzt einen Spalt offen.

(5) Das himmlische Ziel leuchtet auf – werft eure Zuversicht nicht weg!Das Ziel vor Augen, ruft er der Gemeinde zu (10,35): Werft eure Zuversicht nicht weg, denn es wartet Großartiges auf euch! Er verweist in seiner Predigt auf das Wesentliche (Hebr 8,1): Wir haben in Jesus Christus einen barmherzigen und treuen Hohenpriester, er ist uns zum Bruder geworden (2,17). Er kennt uns, er leidet mit uns. Er hat die Himmel durchschritten, er hat den Glaubenden aller Zeiten den Weg in die Gegenwart Gottes eröffnet (4,14f). Dorthin ist er als Vorläufer vorausgegangen und hält vor Gott Fürsprache für uns (7,25). In ihm glänzt Gottes Herrlichkeit auf. Er verspricht Wunderbares: In der himmlischen Ruhestatt Gottes dürft ihr mit Tausenden von Engeln und allen, deren Namen im Himmel aufgeschrieben sind, ein Fest, den ewigen Sabbat, feiern (4,9f). Ihr habt Zugang zum Herzen Gottes.

(6) Und jetzt? Was nun?(B) Die Verheißung der Hebräerpredigt ist bald 2000 Jahre alt: So lange schon warten Christinnen und Christen darauf, dass endlich das Friedensreich Gottes kommt. Israel, das Volk Gottes, wartet schon viel länger. Gerade jetzt in diesen turbulenten Zeiten mit all ihren bedrückenden Schreckensbildern fragen Menschen sehnsüchtig: Wann endlich kommt dieses Friedensreich, in dem wir zur Ruhe kommen? Und was tun wir, bis es so weit ist?

(A) Das sind berechtigte Fragen. Bei der Suche nach Antworten bin ich im Hebräerbrief auf ein Bild gestoßen, das mir die Kraft dazu schenkt, nicht aufzugeben bei der langen Wanderung zum Sehnsuchtsort „Himmlische Welt“. Der Prediger schreibt (6,19): In Jesus Christus haben wir jetzt schon einen sicheren und festen Anker der Seele, der im Ruheort Gottes hinter den Vorhang hineinreicht. Es ist ein Bild für unsere Sehnsucht, das mir gut gefällt und jeden Tag Hoffnung gibt. Eine tröstliche Vorstellung für uns als Gemeinde, für jede und jeden unter uns ganz persönlich: Wir sind unterwegs auf der Erde und zugleich verankert im Himmel! Deshalb ruft der Prediger den Gemeinden damals und heute zu (10,25): „Verlasst nicht die gottesdienstlichen Versammlungen, sondern ermuntert einander zur Liebe und zu guten Taten.“

(7) Einander Stärken auf dem Weg zum Sehnsuchtsort himmlischer Zion(B) Das ist anspruchsvoll. Lange gemeinsame Wegstrecken sind anstrengend. Unterschiedliche Prägungen und Charaktere begegnen sich und fordern heraus. So wie einst bei der Wüstengeneration Israels können Unzufriedenheit und Bitterkeit aufsteigen und schließlich auch das Murren gegenüber Gott. Es braucht einem achtsamen und aufmerksamen Umgang miteinander.
Dazu brauchen wir Orte der Vergewisserung, des Halts und des Ankerns. Wann immer wir miteinander Gottesdienst feiern, uns in Gruppen und Kreisen versammeln, teilen wir unseren Glauben und unser Leben, und wir feiern schon heute ein klein wenig den ewigen Sabbat. Mir kommt der Refrain eines Liedes in den Sinn, der an den Anker in Jesus Christus erinnert (Wwdl+ 36,3): „Er ist das Zentrum der Geschichte, er ist der Anker in der Zeit. Er ist der Ursprung allen Lebens und unser Ziel in Ewigkeit.“

(A) Es ist wichtig, den einzelnen Menschen in den Blick zu nehmen, auf die unterschiedlichen Bedürfnisse zu achten, im Gespräch über den Glauben zu bleiben. Auf dem gemeinsamen Weg zum himmlischen Sehnsuchtsort brauchen wir einander, um uns zu ermutigen, damit niemand unter die Räder kommt oder erschöpft zurückbleibt. Dann tut es vielleicht auch mal gut, wenn wir uns gegenseitig ins Gewissen reden: „Stärkt die müden Hände und die wankenden Knie. Jagt dem Frieden nach mit jedermann. Seht darauf, dass nicht jemand Gottes Gnade versäume und nicht etwa eine bittere Wurzel aufwachse und Unfrieden anrichte.“ Es ist bald so weit, dass Jesus, der himmlische Hohepriester, wiederkommt, schreibt der Prediger. Deshalb: Ermutigt einander zur Liebe. Werft eure Zuversicht nicht weg, denn es wartet etwas Großartiges auf uns: ein Fest in der Gegenwart Gottes und ein Ruheort jenseits aller Turbulenzen. Amen.

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