20. Sonntag nach Trinitatis (18. Oktober 2015)

Autorin / Autor:
Pfarrer PD Dr. Peter Haigis, Springe [peter.haigis@kloster-wuelfinghausen.de]

Markus 10, 2-9; 10, 10-16

Liebe Gemeinde,

um ganz ehrlich zu sein: Für einen kurzen Augenblick stand ich in der Vorbereitung auf die Predigt zu diesem Gottesdienst vor der Versuchung, den für heute vorgesehen Bibeltext zu umgehen und auf einen anderen Text auszuweichen. Über Ehescheidung zu reden in einem Taufgottesdienst – das erschien mir einfach zu fern.

Der Zumutung ausweichen?Warum? – werden Sie fragen. Immerhin ist doch im zweiten Teil von einer wahrlich herzanrührenden Begegnung zwischen Jesus und den Kindern die Rede. Traditionell gehört dieses Stück sogar zu einem Klassiker unserer Taufgottesdienste. „Lasset die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht“, weist Jesus seine Jünger zurecht. Das ist immer wieder als Argument für die Kindertaufe angeführt worden. Auch Kinder haben ihren selbstverständlichen Platz in der Gemeinde Jesu, in der Familie Gottes, nicht nur die Erwachsenen. Und die Taufe bringt eben dies zum Ausdruck, ja, sie macht es an einem äußerlichen Zeichen sichtbar: „Dieses Kind … gehört zu Gott.“

„Ein Glücksfall gerade für einen Taufgottesdienst!“, höre ich Sie sagen. Und: „Lassen Sie den ersten Teil mit der Ehescheidung doch weg und predigen Sie über Jesu Begegnung mit den Kindern – das würde uns genügen.“

Ich zögere: Ist das nicht Feigheit vor der Herausforderung? Ist das nicht der Weg des geringsten Widerstands? Das wohltuende Evangelium gerne zu hören und auszulegen, die Zumutung aber geflissentlich zu umfahren?

Schönwetterreden für Hoch-Zeiten?Warum hat der Evangelist Markus gerade diese beiden kurzen Erzählstücke so zusammengestellt? Vielleicht gibt es einen verbindenden Gedanken…

Übrigens: Bei einer kirchlichen Trauung gehört Jesu Wort über die Ehe ebenso sehr zum eisernen Bestand der Liturgie wie bei einer Tauffeier das Wort über die Kinder. Aber auch bei der Trauung wird der Zusammenhang gekürzt wiedergegeben. Die Auseinandersetzung mit den Pharisäern um das Problem der Ehescheidung entfällt. Ebenso die Belehrung Jesu gegenüber seinen Jüngern im Anschluss. Da wird schlicht Jesus zitiert: „Gott, der im Anfang den Menschen geschaffen hat, schuf sie als Mann und Frau und sprach: ‚Darum wird ein Mann Vater und Mutter verlassen und seiner Frau anhängen, und die zwei werden ein Fleisch sein.‘ So sind sie nun nicht mehr zwei, sondern eins. Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden.“

Der Blick liegt ganz auf der Unverbrüchlichkeit der Ehe; der Gedanke der Trennung kommt nur am Rande vor: „Das soll nicht sein!“ Mehr wird nicht thematisiert.
Kein Problem, werden Sie denken, wer will in der Festtagsstimmung einer Trauung schon etwas hören von Ehescheidung. Inmitten der Hoch-Zeit inniger Verliebtheit und einer Entscheidung füreinander, die doch gar keine andere Perspektive kennen kann, als diejenige, „bis der Tod uns scheidet“. In einer solchen Situation ist für den Gedanken an Trennung schlicht kein Platz!

Es ist schon diskutiert worden, ob man Ehen nicht auf Zeit schließen soll, zum Beispiel für die Dauer von zehn Jahren – und dann gegebenenfalls Verlängerung! Wie lebensfremd, wenn man es aus der Perspektive der Trauung sieht – da wird ein gemeinsames Leben ja erst geplant und eröffnet; es ist von Liebe und gegenseitiger Zuneigung getragen und kennt keine Grenzen. Wie lebensnah aber zugleich, wenn man es von der Krise aus sieht, von einem Punkt aus, an dem eine Beziehung ins Scheitern, ans Ende geraten ist. Das Problem ist, dass man diesen Punkt nicht vorhersagen kann…

Fällt dann also die kirchliche Trauung von der Alltagserfahrung einer Ehe ab? Ist sie nur Fest und Glanz, die mit der bisweilen rauen Wirklichkeit im gemeinsamen Leben nichts mehr zu tun hat? Schönwetterrede – in den Niederungen des Alltags kaum zu gebrauchen?

Beziehungsmuster – höchstes Glück und tiefster SchmerzDas wäre schade, denn der Sinn der Trauung liegt doch gerade darin, hier etwas zu erfahren und zu bekommen, das auch in der Krise trägt – einen Zuspruch des anderen, an dem man sich festmachen kann, wenn der Abstand zueinander wächst; einen Zuspruch Gottes, seinen Segen, der uns gilt in allem Scheitern, in allen unseren Fehlern, in aller Schuld – gerade da!

Liegt vielleicht hier die tiefe innere Beziehung beider Abschnitte über Jesu Wort zu Ehe und Ehescheidung und über die Begegnung Jesu mit den Kindern? Im Blick auf die Beziehung zu unseren Kindern ist es ja kaum anders: In dem Augenblick, da uns neues Leben in Gestalt eines Kindes anvertraut wird, ist das Glücksempfinden am Größten. Es gibt Untersuchungen zu Situationen, in denen sich ein Paar zunächst überhaupt kein Kind wünschte oder vorstellen konnte, die das bestätigen. Ein Neugeborenes zum ersten Mal in den Händen zu halten – was für ein Moment! Zu sehen, wie Kinder heranwachsen und sich ihre Welt erobern – großartig und ein Lernfeld zugleich für Eltern und Erwachsene! Eben dies fließt an Emotionen, Hoffnungen, Erwartungen auch in eine Tauffeier ein.

Doch daneben gibt es in der Beziehung zu unseren Kindern die anstrengenden Zeiten, die Phasen, in denen man Abstand und Entfremdung spürt. Man muss dabei gar nicht an die Pubertät denken. Da gehört die Spannung ja gewissermaßen zum „normalen Entwicklungsprogramm“. Stress gibt es auch schon früher: wenn das Kind einen „Dickkopf“ hat, wenn es versucht, sich mit Schreien zu behaupten und durchzusetzen, wenn der Wille des Kindes auf die Grenzsetzungen der Eltern trifft…
Wer käme auf die Idee, in einer solchen Situation das Beziehungsverhältnis zum eigenen Kind wirklich aufzukündigen? Wohl kaum jemand, obwohl der Gedanke ja aufblitzt und der Satz im Streit fällt: „Du bist nicht mehr mein Sohn, meine Tochter.“ – Ausdruck einer Grenzerfahrung.

Als Menschen geraten wir an Grenzen, das gehört zum Leben dazu. Gerade in der Beziehung zu anderen geraten wir an Grenzen. Der Andere, die Andere selbst ist schon meine Grenze, mit seinem eigenen Willen, seiner eigenen Sicht auf das Leben, seiner Sicht auf mich. Da kann die Verbundenheit noch so groß sein, die ursprünglich empfundene Liebe noch so innig – gerade in solchen Beziehungen wird die Grenze umso spürbarer und umso schmerzhafter. In der Beziehung zum geliebten Partner, zum eigenen Kind tun Spannung, Streit und Fremdheit richtig weh.

Harte Herzen erweichenIn der Geschichte, die Markus erzählt, sind die Pharisäer Anwälte der Realität und des Pragmatismus. Ich meine das ganz positiv. Sie sagen: Es muss doch in der Erfahrung des Scheiterns aneinander einen Ausweg geben, und in der gescheiterten Ehe heißt dieser Ausweg Scheidung. Besser in Recht und Frieden auseinandergehen als in Streit oder gar Hass auf Lebenszeit aneinander gekettet!

Jesus gesteht ihnen dies zu, aber er bewertet es auch: Es ist ein Ausdruck von Herzenshärte. Wenn Herzen versteinert sind, dann finden sie nicht mehr zueinander, dann prallen sie aufeinander, und das schlägt Wunden. Die Trennung wegen letztlicher Herzenshärte ist das letzte Wort. Das gibt es in der Sache auch zwischen Kindern und Eltern, wenngleich es dafür keines Rechtsaktes mehr bedarf, wenn die Kinder ohnehin selbstständig sind.

Doch Jesu Wort von der Herzenshärte zwingt uns zugleich, nach Alternativen zu sehen: Was macht unsere Herzen weich, in der Beziehung zweier Partner zueinander, in der Beziehung zwischen Eltern und Kindern? Es ist die Liebe und die Vergebung. Und es ist der Blick zurück auf Gott. Wenn wir den Anderen als geliebtes Geschöpf Gottes ansehen, dann müssen wir unsere Werturteile über ihn zugleich zurücknehmen. Wenn wir ihn in seiner Freiheit verstehen, die ihm von Gott verliehen ist, dann müssen wir unsere Ansprüche an ihn zugleich zurückschrauben. Wir haben kein Recht auf einen anderen Menschen, wir haben nur das Geschenk seiner Gegenwart.

Es ist traurig, sich selbst die eigene Herzenshärte eingestehen zu müssen, und allemal zukunftsweisender ist es, sich vom anderen berühren, sich das Herz erweichen zu lassen.

Amen.

Hinweise zur Predigt: Die Predigt wird am 18. Oktober 2015 im Rahmen eines Taufgottesdienstes mit zwei Kindertaufen in einer Dorfkirchengemeinde gehalten. Sie zielt auf die Situation junger Familien – noch nicht allzu weit zurückliegende Erfahrungen des Beginns der Ehegemeinschaft, Geburt der Kinder –, hat aber auch Konfirmanden und ihre Eltern im Blick, die zu Anfang der eben begonnenen Konfirmandenzeit den Gottesdienst besuchen.

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