20. Sonntag nach Trinitatis (14. Oktober 2018)

Autorin / Autor:
Pfarrerin Gertrud Hornung, Manzell [Gertrud.Hornung@elkw.de]

1. Korinther 7, 29-31

Liebe Gemeinde,

lassen Sie sich einladen zu einer Zeitreise in das Jahr 54 n. Chr. Wir landen in der Hafenstadt Korinth. Etwa 1 ½ Jahre hatte der Apostel Paulus auf seiner 2. Missionsreise hier verbracht. In dieser Zeit war mitten in dieser säkularen und bunten Handelsstadt eine kleine christliche Gemeinde entstanden. Ihre Mitglieder gehörten zum größten Teil einer armen, wenig gebildeten Bevölkerungsschicht an. Politisch und gesellschaftlich hatten sie keinerlei Einfluss.
Paulus bezeichnete diese Menschen als Heilige. Er vermittelte ihnen: Jeder und jede Einzelne ist ein Teil der wachsenden christlichen Gemeinschaft, die Paulus mit einem Körper vergleicht. Jeder und jede Einzelne ist ein Teil am Leib Jesu Christi. (vgl. 1. Kor. 12,12 ff)

Welch eine große Würde wird dadurch den einfachen Männern, Frauen und Kindern in der säkularen Welt der Handelsstadt Korinth zuteil. Doch diese in Jesus Christus gegründete Würde des/der Einzelnen schützt im Zusammenleben als Gemeinde nicht vor Konflikten. Rivalität, Sittenverfall, Rechthaberei und Überheblichkeit nahmen überhand. Die gemeinsame Ausrichtung an der Weisung Gottes, der Tora, wich mehr und mehr den individuellen Bedürfnissen einzelner Personen und Gruppierungen.

Paulus war längst weitergezogen. Während seines Aufenthaltes in Ephesus erfuhr er von den Konflikten in Korinth. Diese Nachrichten schmerzten ihn. Die Gemeinde in Korinth lag ihm am Herzen. Er schrieb ihr einen Brief.

Ein kleiner Abschnitt des ersten Korintherbriefes ist der heutige Predigttext:
„Das sage ich aber, liebe Brüder: Die Zeit ist kurz. Auch sollen die, die Frauen haben, sein, als hätten sie keine; und die weinen, als weinten sie nicht; und die sich freuen, als freuten sie sich nicht; und die kaufen, als behielten sie es nicht; und die diese Welt gebrauchen, als brauchten sie sie nicht. Denn das Wesen dieser Welt vergeht.“ (1. Korinther 7,29-31)

„Die Zeit drängt“ – die Wiederkunft Christi steht bevorEs ist fünf vor zwölf. Die Zeit ist kurz. Als Menschen unserer Zeit verbinden wir mit diesem Ausspruch vermutlich etwas anderes als Paulus im Jahre 54 n. Chr. „Es ist fünf vor zwölf“ könnte heute z.B. bedeuten, es ist allerhöchste Zeit, etwas anzupacken. Eine Bedrohung naht. Die Zeit drängt, bevor das Fass überläuft.

Paulus dagegen verbindet damit die Naherwartung des auferstandenen und wiederkehrenden Christus. Er lebt im Bewusstsein, dass er selbst noch zu Lebzeiten Zeuge dieses Ereignisses sein wird. In der Erfüllung der Zeit liegt seine Hoffnung für die Menschheit und dieser Welt. Christus wird die Welt richten, das heißt zurechtbringen, was aus dem Lot geraden ist. Paulus freut sich auf das nahe Weltenende. Er ist überzeugt, dass die menschlichen Maßstäbe, die uns nicht selten gefangen nehmen und unter Druck setzen, dann keine Bedeutung mehr haben werden. Er ist überzeugt, dass die Zeit, in der menschliche Machthaber sich durch Unterdrückung, Ausbeutung und Gewalt einen Namen machen, bald ein Ende haben wird. Die Zeit ist kurz. Nicht mehr lange wird es dauern, bis Christus wiederkommt. Es ist fünf vor zwölf. Höchste Zeit also, sich ganz auf Christus hin auszurichten. Wer das tut, wird in seinem Leben die Prioritäten anders setzen. Davon ist Paulus überzeugt.

Trotz der Hoffnung auf die nahe Wiederkunft Christi nahm Paulus die geschöpfliche Realität des Menschseins ernst. Allerdings hatte er dabei die sozialen oder politischen Themen seiner Zeit nicht im Blick, auch wenn damals, ebenso wie heute, Veränderungen um der Menschen willen dringend angesagt gewesen wären. Paulus gehörte als Apostel, genauso wie die Mitglieder der christlichen Gemeinden, eher zur armen Bevölkerungsschicht, die in der säkularen Welt politisch und gesellschaftlich keinen Einfluss hatten. Er wollte den Christenmenschen in Korinth eine Sichtweise schenken, die über die alltäglichen Sorgen und Lebensthemen hinausreicht.

„Die Zeit drängt“ – Umgang mit Konflikten in KorinthSie alle wollten rechtschaffene Christen sein. Deshalb gab es unter den einzelnen Gruppierungen viele Konflikte zu Themen wie der Stellung von Mann und Frau, Ehe und Ehelosigkeit, Speisevorschriften, Abendmahl in rechter Weise feiern usw.
Ganz unbekannt sind uns diese Themen knapp 2000 Jahre später nicht. Gott sei Dank gehören sie nicht zu den drängendsten unserer Zeit, die fünf vor zwölf gelöst werden müssen.
Jedoch waren die Auseinandersetzungen mit diesen Lebens- und Glaubensthemen damals, wie auch heute, nicht frei von Neid, Rechthaberei, Macht und Ansehen.

In der Ausrichtung auf den wiederkommenden Christus fordert Paulus die Christenmenschen auf, sich innerlich zu lösen von allem, was ihren Alltag bestimmt und sie in ihren Herzen gefangen nimmt. Dass er dabei Partnerschaft und Ehe im selben Satz benennt wie weinen, sich freuen und kaufen, fordert in unserer Zeit eine kritische Betrachtungsweise. Dietrich Bonhoeffer kritisiert Paulus an dieser Stelle mit deutlichen Worten. Ich zitiere: „Um es deutlich zu sagen – dass ein Mensch in den Armen seiner Frau sich nach dem Jenseits sehnen soll, das ist milde gesagt eine Geschmacklosigkeit und jedenfalls nicht Gottes Wille. Man soll Gott in dem finden und lieben, was er uns gerade gibt; wenn es Gott gefällt, uns ein überwältigendes irdisches Glück genießen zu lassen, dann soll man nicht frömmer sein als Gott und dieses Glück durch übermütige Gedanken und Herausforderungen und durch eine wild gewordene religiöse Phantasie, die an dem was Gott gibt, nie genug haben kann, wurmstichig werden lassen. Gott wird es dem, der ihn in seinem irdischen Glück findet und ihm dankt, schon nicht an Stunden fehlen lassen, in denen er daran erinnert wird, dass das Irdische nur etwas Vorläufiges ist und dass es gut ist, sein Herz an die Ewigkeit zu gewöhnen.“(1)

Bei aller Kritik führen uns Bonhoeffers Gedanken zum Anliegen des Predigttextes zurück.
Alles Irdische ist vorläufig. Es ist gut, sein Herz an die Ewigkeit zu gewöhnen, wann immer wir auch dem wiederkommenden Christus gegenüberstehen werden. Niemand weiß Zeit und Stunde. Und doch ist auch uns modernen Menschen der Ausspruch, „es ist fünf vor zwölf, die Zeit ist kurz“ sehr vertraut.

„Die Zeit drängt“ – aktuelle Themen unsere ZeitDie Zeit drängt, wenn wir z.B. an den Klimawandel denken.
Die Zeit drängt, wenn wir nicht bald an den Ursachen der Flüchtlingsströme, Kriege und Hungerkatastrophen Veränderung schaffen.
Es ist fünf vor zwölf in vielen ökologischen, politischen, wirtschaftlichen und privaten Beziehungen.
Was ist zu tun?
Können wir als Einzelne überhaupt etwas bewirken, oder gleicht soziales und ökologisches Engagement einem Tropfen auf den heißen Stein?
Sollen sich Christen aus der Politik heraushalten?
Wenn wir die Texte des Paulus aus ihrer Entstehungszeit herauslösen, können diese dafür Argumente liefern. Das Schweigen und Heraushalten der Christenmenschen aus sogenannten weltlichen Themen widerspricht jedoch der Botschaft Jesu in der Bergpredigt: „Ihr seid das Salz der Erde. Ihr seid das Licht der Welt.“ Dies gilt bis Christus wiederkommt und alles zurecht bringt und vollendet.

„Die Zeit drängt“ – Ausrichtung auf ChristusWenn wir die Briefe des Apostels Paulus heute lesen, gilt uns seine Grundbotschaft: Richtet euer Leben ganz auf Christus hin aus. In ihm ist alles geschaffen und wird alles vollendet. Angst und Sorgen haben ihre Berechtigung und können wichtige Signale sein für Situationen, die das Leben behindern und zerstören. Es gilt, diese Signale ernst zu nehmen, aber nicht dabei stehen zu bleiben. Sie dürfen uns nicht den Blick für die Zukunft verstellen. Angst allein lähmt. Es ist gut, wenn sich unser Herz auch an die Ewigkeit gewöhnt, wie Bonhoeffer es zum Ausdruck bringt.

Es ist eine nicht zu verharmlosende Realität unserer Zeit, dass die Angst vor der Zukunft, ob im privaten, im gesellschaftlichen oder politischen Umfeld, viele Menschen plagt. Menschen unterschiedlicher Generationen und unterschiedlicher sozialer Schichten sind davon betroffen. Der Umgang mit dieser Angst ist so unterschiedlich wie die Menschen selbst. Die einen engagieren sich sozial und ökologisch. Andere verschließen Augen und Ohren und pflegen ausschließlich ihren individuellen Wohlstand. Wieder andere leben nach dem Sündenbockprinzip und waschen ihre Hände in Unschuld. Verdrängung kennt viele Wege. Nicht zuletzt auch den Weg in die Sucht, in Gewalt und Aggression oder die Depression. Wer sich den Blick in die Zukunft von Angst und Sorgen verstellen lässt, verliert die Beziehung zum Leben und vielleicht auch zu einem lebendigen Gott. Gott ist kein Gott für Weltflüchtlinge und Lebensverweigerer. Auch nicht, wenn der Zeiger der Zeit auf fünf vor zwölf steht.

Paulus ist überzeugt, dass die Zeit drängt. Doch die Zukunft sieht er nicht als bedroht. Die Zukunft ist Gottes Reich, das mit und durch Jesus Christus begonnen hat und mit und durch ihn vollendet wird. Als Glieder an seinem Leib tragen wir aktiv mit dazu bei, dass Gottes Reich, ein Reich des Friedens und der Gerechtigkeit, mit uns und trotz uns, in dieser Welt weiterwächst. Christus ist in dieser Welt gegenwärtig. So können und dürfen wir Christenmenschen uns nicht daraus verabschieden. Denn es ist fünf vor zwölf. Die Zeit ist kurz.

Ich schließe mit einem Zitat, das lange Zeit Martin Luther zugeschrieben wurde.
„Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.“

Amen.

Anmerkung:
1 Aus: Predigtstudien zur Perikopenreihe IV – zweiter Halbband, S. 267, von Helge Adolphsen (Kreuz Verlag 1988).

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