20. Sonntag nach Trinitatis (03. November 2019)

Autorin / Autor:
Kirchenrat Wolfgang Kruse, Stuttgart [Wolfgang.Kruse@elk-wue.de]

1. Mose 8, 18-22; 9, 12-17

Hinweis: Aufgrund einer technischen Störung konnte diese Predigt erst jetzt publiziert werden.

IntentionDie Geschichte von Noah hat etwas Tröstliches. Gott ist ein Gott, der seine Entschlüsse immer wieder zugunsten der Menschen überdenkt.

Liebe Gemeinde!
Alle Welt redet von der Klimakatastrophe, die Nachrichten sind voll von Verwüstungen, Zerstörung und Todesopfern. Und die Bilder wiederholen sich. Ja, sie werden jedes Jahr häufiger und katastrophaler, so kommt es uns vor. Was ist nur mit der Schöpfung los? Vieles ist hausgemacht von Menschenhand. Wir Menschen sind dabei, die Schöpfung zu zerstören. Oder vielleicht – und das ist wahrscheinlicher – wird sie uns irgendwann zerstören.
Wie keine andere Geschichte in der Bibel hat die Sintflutgeschichte unsere Sprache mit Bildern und Symbolen gefüllt, sie ist in unsere Sprache eingegangen: „Nach uns die Sintflut“, heißt es. Oder: „Das Boot ist voll.“ Zynisch, wie wir von Flüchtlingsstrom und angeblicher Asylantenflut reden, wo doch gerade diese Menschen täglich Opfer in der Flut des Mittelmeeres sind.
„Und siehe, es war sehr gut“– noch haben wir die Begeisterung Gottes über seine Schöpfung im Ohr. War alles ein Fehler, ein Missverständnis? Ist der Mensch dem Menschen ein Wolf? Kann der Mensch mit dem Mitmenschen nicht in Frieden leben?

Noah und Mose – zwei Arche-TypenDie Bibel erzählt von Gottes Beschluss, die Menschheit zu verderben, sie aber gleichzeitig zu retten. „Da sprach Gott zu Noah: Das Ende allen Fleisches ist bei mir beschlossen, denn die Erde ist voller Frevel von ihnen; und siehe, ich will sie verderben mit der Erde. Mache dir einen Kasten von Tannenholz und mache Kammern darin und verpiche ihn mit Pech innen und außen.“
Ein Kasten von Tannenholz, nach der Fertigstellung nennt die Bibel diesen Kasten „Arche“. Auf Hebräisch heißt Arche „Teva“. Dieses Wort kommt in der Bibel sonst nur noch einmal vor: das Körbchen, in das Mose als Baby gelegt wird und in dem er auf dem Nil ausgesetzt wird, heißt auch Teva. Ein Schutzraum, ein Kästchen zum Überleben in den Fluten des Nil.
Offenbar stellt die Bibel eine enge Verbindung zwischen Noah- und Mosegeschichte her: Mit beiden schließt Gott einen Bund, und mit beiden Bundesschlüssen verbinden sich Gebote. Die sogenannten 7 noachidischen Gebote: Verbot von Mord, Diebstahl, Ehebruch, Blutgenuss, Götzendienst, Gotteslästerung sowie die Einführung eines Rechtssystems, gültig für die ganze Menschheit. Und auf der anderen Seite die Tora, die für das Volk Israel gilt.

Eine mappa mundiUnd die Arche hat weitere innerbiblische Bezüge: sie und die Stiftshütte sind die einzigen Bauwerke in der Bibel, die detailliert beschrieben werden, Länge, Breite, Höhe etc. Und nur von diesen beiden ist der Name des Baumeisters genannt. Hier Noah, dort Bezalel.
Beiden, Noah und Bezalel, hat Gott die Maße des Bauwerks mitgeteilt. In beiden Fällen handelt es sich nach mystischer Auslegungstradition um einen „Bauplan der Welt“. In der mittelalterlichen christlichen Theologie wurde die Arche als mappa mundi, als Plan der Welt verstanden.
Ihnen, Noah und Bezalel, musste also der Bauplan der Welt, die Weltformel, offenbart werden, ohne die sie ihr Bauwerk nicht hätten errichten können. Damit aber werden diese „Architekten“ zu Gottes Mit-Schöpfern.
Gibt es eine Grenze ihrer Schöpfung? Wann kommt die menschliche Schöpfung der Schöpfung Gottes in die Quere? Diese Fragen, die sich heute u.a. mit den Stichworten „Gentechnologie“ und „Entschlüsselung des genetischen Codes“ verbinden, sind nicht neu.
Solche Fragen scheinen uns weit von Noah und seiner Geschichte zu entfernen. Aber es gibt eine Querverbindung: das hebräische Wort für „Arche, Kasten“, also teva, kann auch „Buchstabe“ oder „Wort“ bedeuten, denn die hebräischen Buchstaben sehen in ihrer Quadratschrift aus wie kleine Kästchen. So werden die Buchstaben, wird der Text selbst zur Arche, die Bibel zum bergenden Raum. Es geht also nicht nur um den beschriebenen Kasten aus Holz, sondern auch um den biblischen Text, um die Geschichte, in die wir eintauchend Schutz finden.
Ein gedichteter Raum, gedichtet im doppelten Wortsinn: mit Pech und mit Worten. Paul Celan, jüdischer Holocaust-Überlebender, aber gleichzeitig an seinem Überleben auch zugrunde gegangener Dichter, hat diese Doppeldeutung in einem Gedicht aufgenommen:

FLUTENDER, groß-
zelliger Schlafbau.
Jede
Zwischenwand von
Sterbegeschwadern befahren.
Es scheren die Buchstaben aus,
die letzten
traumdichten Kähne – jeder mit einem
Teil des noch
Zu versenkenden Zeichens
Im
geierkralligen Schlepptau.

Buchstaben – die letzten traumdichten Kähne. Noahs Arche ist unsinkbar, weil sie gedichtet ist, gedichtet aus Zeichen, Buchstaben, Worten. Noahs Geschichte, die Geschichte eines Überlebenden, lebt weiter, wo immer von ihm erzählt wird.

Noah, der schweigsame TrösterSchüler fragen im Religionsunterricht bei diesen biblischen Ur-Geschichten immer wieder: „Das geht doch gar nicht, dass Noah so alt wurde, das ist doch alles erfunden.“ Und damit war es für die Schüler nicht wahr.
In der Bibel muss man unterscheiden zwischen „Geschichte“ (im Sinne von history) und „Geschichten“ (im Sinne von story).
Einen historischen Noah hat es kaum je gegeben, aber die Geschichten von Noah sind wirklich, weil sie „gedichtet“ sind und Wahrheit enthalten. Noah ist im wahrsten Sinne ein Arche-Typ.
Und wer war nun dieser Noah? Wie so oft in der Bibel: sein Name ist Programm: er weist zurück auf das Ende der Paradiesgeschichte, wenn es im Stammbaum in Genesis 5 von ihm heißt: „Lamech zeugte einen Sohn und nannte ihn Noah und sprach: Der wird uns trösten in unserer Arbeit und Mühsal.“
Noahs Name wird auf das hebräische Nacham zurückgeführt, das „trösten“ heißen kann, aber auch „zum Aufatmen bringen“. Darin drückt sich der Wunsch aus, das Leben möge nicht nur aus mühseliger Arbeit bestehen. Nacham, trösten, verbindet sich aber auch zum Namen Menachem, in der jüdischen Tradition ein Beiname Noahs, gleichzeitig auch ein Name des kommenden Messias.
Übrigens: vielleicht ist Ihnen beim Lesen der Noahgeschichte schon einmal aufgefallen: Noah spricht in der ganzen Geschichte kein Wort, weder gegenüber Gott noch gegenüber seinen Mitmenschen.
Schweigt er, weil er Gott zwar gehorcht, ihm aber innerlich die Zustimmung verweigert? Auch legt er keine Fürbitte ein wie Abraham für die Leute von Sodom. Schwer auszuhalten, dieses Schweigen. Und was tut er nach der Sintflut? Er betrinkt sich. Schweigen und sich betrinken: typisch Mann?
Aber vielleicht ist es auch das Schicksal des Überlebenden, das u.a. Elie Wiesel als Holocaust-Überlebender immer wieder eindrücklich beschreibt. „Warum muss ich überleben, wenn alle anderen untergehen?“, so fragte er immer wieder.
„Noah aber lebte nach der Sintflut dreihundertfünfzig Jahre, dass sein ganzes Alter ward neunhundertfünfzig Jahre, und starb.“
Noah ist das Bindeglied zwischen der Menschheit vor der Sintflut und der Menschheit nach der Sintflut. Noahs Leben umgreift die Flut; die Lebenszeit erweist sich als zählebiger denn die Weltzeit. So enthält Noahs Leben etwas Tröstliches: die Katastrophe ist eine reale Möglichkeit, aber sie behält nicht das letzte Wort.

Was macht Gott eigentlich?Gott bereut seine Reue. Zuerst bereut er, dass er den Menschen erschaffen hat. Und dann bereut er, dass er ihn vernichten will. Das ist das Faszinierende in der Bibel: sie beschreibt Gott nicht als den un-beweglichen Beweger, sondern den Mitleidenden, Mitgehenden, der seine Entscheidungen immer wieder zugunsten der Menschen neu überdenkt. Der sich von Menschen wie Abraham und Mose überzeugen lässt. Ein sehr dynamischer Gott. Ja, er bereut seine Reue. Und beide Male ist die Begründung die gleiche:
„Denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.“
Das ist die wahre Allmacht Gottes: auf seine Macht zu verzichten! Wie lässt sich Gottes Wandlung beschreiben? Vielleicht so: Gott hat sich vom utopischen Idealisten der Schöpfungsgeschichte gewandelt zum utopischen Realisten der Nachsintflut-Schöpfung. Die Bosheit ist weiterhin in der Welt, aber sie darf nicht das letzte Wort haben – vielleicht in unseren aufgeregten Zeiten ein gutes Motto.

Ach herrje, hab ich Ihnen schon den heutigen Predigttext vorgelesen? Nein? Dann schließe ich mit Genesis 8,18-22; 9,12-17:
„So ging Noah heraus [aus der Arche] mit seinen Söhnen und mit seiner Frau und den Frauen seiner Söhne, dazu alles wilde Getier, alles Vieh, alle Vögel und alles Gewürm, das auf Erden kriecht; das ging aus der Arche, ein jedes mit seinesgleichen.
Noah aber baute dem Herrn einen Altar und nahm von allem reinen Vieh und von allen reinen Vögeln und opferte Brandopfer auf dem Altar.
Und der Herr roch den lieblichen Geruch und sprach in seinem Her-zen: Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen; denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf. Und ich will hinfort nicht mehr schlagen alles, was da lebt, wie ich getan habe.
Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.
Und Gott sprach: Das ist das Zeichen des Bundes, den ich geschlos-sen habe zwischen mir und euch und allem lebendigen Getier bei euch auf ewig: Meinen Bogen habe ich gesetzt in die Wolken; der soll das Zeichen sein des Bundes zwischen mir und der Erde. Und wenn es kommt, dass ich Wetterwolken über die Erde führe, so soll man meinen Bogen sehen in den Wolken.
Alsdann will ich gedenken an meinen Bund zwischen mir und euch und allem lebendigen Getier unter allem Fleisch, dass hinfort keine Sintflut mehr komme, die alles Fleisch verderbe. Darum soll mein Bogen in den Wolken sein, dass ich ihn ansehe und gedenke an den ewigen Bund zwischen Gott und allem lebendigen Getier unter allem Fleisch, das auf Erden ist.
Und Gott sagte zu Noah: Das sei das Zeichen des Bundes, den ich aufgerichtet habe zwischen mir und allem Fleisch auf Erden.“
Amen.

Wichtige Anregungen sind entnommen aus: Jürgen Ebach, Noah. Die Geschichte eines Überlebenden (Biblische Gestalten, Band 3), Leipzig 2015,2.Aufl.

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