20. Sonntag nach Trinitatis (30. Oktober 2022)

Autorin / Autor:
Pfarrerin Susanne Wolf, Tübingen [susanne.wolf@elkw.de]

Hoheslied 8,6b.7

IntentionDie Predigt nimmt die Hörenden hinein in den Kraftraum der Liebe. Die Liebe geht von Gott als Quelle der Liebe aus und kehrt zu ihm zurück.

8, 6b Denn Liebe ist stark wie der Tod und Leidenschaft unwiderstehlich wie das Totenreich. Ihre Glut ist feurig und eine gewaltige Flamme. 7Viele Wasser können die Liebe nicht auslöschen noch die Ströme sie ertränken. Wenn einer alles Gut in seinem Hause um die Liebe geben wollte, würde man ihn verspotten.

Fürwahr, stark wie der Tod ist die LiebeFürwahr, stark wie der Tod ist die Liebe. „Ja“, sagen zwei vor ihrer kirchlichen Hochzeit, „so fühlen wir das, so ist unsere Liebe: klar, kraftvoll, ohne Wenn und Aber.“ Und die beiden leihen sich diese Worte als Trauspruch. Sie wollen damit das eigene Staunen über die Anziehungs- und Verwandlungskraft der Liebe fassen. Sie hängen ihre Hoffnung daran, ihre Liebe möge sich durchhalten. Nicht nur bis der Tod sie scheidet. Nein, sogar über den Tod hinaus.
Ein altes Paar liest sich als Abendritual Texte aus der Weltliteratur vor, auch das Hohelied kommt vor. Wie gut das tut! All die schönen liebevollen Worte hin und her, voller Poesie, kraftvoller Bilder aus dem Garten, dem Weinberg. Gerade noch nah, im Augenblick entschwunden. Liebeswerben und Begehren, direkt und doch geschmückt mit Bildern, die sonst kaum über die Lippen kämen.
Dann stirbt der Mann. Und an seinem Grab steht seine Frau und blickt zurück auf die Liebe. Die ist nicht mehr, wie sie war. Das Gegenüber fehlt schmerzlich. Das macht ja die Trauer aus. Kein Hin und Her mehr, nicht im ersten Augenblick am Morgen, nicht beim Frühstück, nicht im wortlosen Verstehen bei vielen Alltagsgesten. Und doch kann man nicht sagen, die Liebe sei weg. Sie ist da, noch da, solange die Frau lebt. Die Liebe ist verwandelt. Aber nicht nur rückwärtsgewandt. Manche Liebende erleben, wie sie zu Zeiten, die ihnen unverfügbar sind, wie in einem gemeinsamen Raum mit dem geliebten verstorbenen Partner sind. Anders als zuvor, und doch intensiv erlebbar. Die Liebe bleibt. Deshalb gibt es den einen gemeinsamen Raum.

Gottes Liebe beim Wort nehmenDenn die Liebe zwischen den zweien ist Teil der viel größeren Liebe von Gott. Der jüdische Religionsphilosoph und Bibelübersetzer Franz Rosenzweig schrieb: „(…) weil das Hohe Lied ein ‚echtes’, will sagen: ein ‚weltliches’ Liebeslied war, gerade darum war es ein echtes ‚geistliches’ Lied von der Liebe Gottes zum Menschen. Der Mensch liebt, weil und wie Gott liebt. Seine menschliche Seele ist die von Gott erweckte und geliebte Seele.“
Weil Gott seine Menschen liebt, sind Menschen zur Liebe fähig. Gottes Liebe strömt und fließt über ohne Unterlass. Sie erschöpft sich nicht. Sie wird nicht karg oder tröpfelt nur. Von Gottes Liebe ist nicht anders zu denken, zu sagen und zu singen als im Lobpreis der Fülle und des Reichtums.
Wie ist sie zu erfahren? Gott selbst macht uns seiner Liebe gewiss. Sein Heiliger Geist bewegt und erreicht unser Herz. Er macht es weich und empfänglich.
Hören wir in den Liebesliedern des Hohenlieds die Stimmen der beiden Geliebten, dann ist darin auch Gottes Stimme vernehmbar. So verstanden und verstehen es die ersten Hörerinnen und Hörer aus dem Volk Israel. So verstehen es jüdische Menschen heute.
Wir Christen hören von Jesus, wie Gott um uns wirbt wie ein Liebender. Er wird nicht müde, dem einzelnen Menschen nachzugehen. Aus Liebe sucht er das verlorene Schaf. Seine Liebe kommt uns zuvor. Sie kommt uns entgegen – wie der Vater bei der Heimkehr des Sohnes.
Paulus besingt diese Liebe in seinem Hohen Lied der Liebe:

„Die Liebe ist langmütig und freundlich,
die Liebe eifert nicht,
die Liebe treibt nicht Mutwillen,
sie bläht sich nicht auf,
sie verhält sich nicht ungehörig,
sie sucht nicht das Ihre,
sie lässt sich nicht erbittern,
sie rechnet das Böse nicht zu,
sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit,
sie freut sich aber an der Wahrheit;
sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles.
Die Liebe höret nimmer auf.“

So ist Gottes Liebe. Das kann nur Gottes Liebe. So dranbleiben. Sich so durchhalten durch alle Enttäuschungen. Der Gleichgültigkeit trotzen. Gelassen bleiben. Sich zurücknehmen. Alles über sich ergehen lassen, aber Stand halten.
„Viele Wasser können die Liebe nicht auslöschen noch die Ströme sie ertränken.“ So stark ist das Liebesfeuer. So stark ist Gottes Schöpfungskraft. Sie nimmt es mit den Chaosfluten auf. Nicht nur einmal. Ständig setzt Gott sein Feuer dem Chaos aus und hält stand. Das kann nur Gott. Und wir Menschen können es nur da, wo wir unsere Liebe aus seiner Quelle füllen und stärken lassen.
Alles andere würde uns nur überfordern. In der Geschichte unserer Kirche wurden Paulus’ Worte zur Liebe als Anforderung missverstanden, die vor allem Frauen zu erfüllen hatten als Ehefrauen und Mütter und Töchter. Damit wurde ihnen abverlangt, was ein Mensch aus sich heraus nicht vermag. Über sich hinauswachsen, das geht in der Liebe, aber nicht auf Verlangen oder Befehl. Wo es gelingt, da leuchtet das Wort aus Psalm 8 auf: „Du hast den Menschen wenig niedriger gemacht als Gott.“

Liebende beim Wort nehmenGott liebt ohne Wenn und Aber. Bedingungslos. Stark. Wo Menschen sich davon tragen und beflügeln lassen, ist es auch zwischen ihnen so. In Worten aus dem Buch Hoheslied:

„Siehe, meine Freundin, du bist schön;
schön bist du, deine Augen sind wie Tauben.“
„Siehe, mein Freund, du bist schön und lieblich.
Unser Lager ist grün.“
Und in Gesten und Taten: Ein aufmunterndes Lächeln. Ein geneigtes Ohr. Eine Hand an der Schulter. Die Last abnehmen. Den Teller, das Glas unverlangt reichen.
„Die Liebe ist ein Hemd aus Feuer“ – das klingt nach einem Zitat aus dem Hohenlied, stammt aber vom türkischen Dichter Nâzım Hikmet.
Mit seinen Worten warb das Kunstmuseum Reutlingen im Sommer für eine Ausstellung.
Heißt das: Vorsicht, Verbrennungsgefahr? Kann man sich an diesem Liebesfeuerhemd verbrennen, wenn man es anhat oder ihm nahekommt? Oder sind Liebende eben durch die Liebe vor dem Verbrennen geschützt, so wie die Liebe selbst vor dem Ausgelöscht-Werden?
Angst davor, vom Feuer der Liebe verzehrt zu werden, ist Liebenden, wahrhaft Liebenden, wohl eher fremd. Aber dass ihre Liebe kein Strohfeuer ist, das hoffen sie alle. Dass am Ende ihr Liebesfeuer nicht zu einem glimmenden, gar verlöschenden Docht wird, das wollen Liebende.
Wenn sie sich von Gottes Liebesquelle nähren lassen, haben sie die Kraft, ihr Feuer zu hüten.
Wieder andere lieben einander und müssen ihre Liebe hüten und schützen vor anderen, die ihnen die Liebe nicht gönnen. Noch immer werden lesbische und schwule Paare in unserer Kirche schräg angesehen. Ihre Liebe wird unter den Verdacht gestellt, sie sei Gott nicht gleich lieb und wert. Sie sehnen sich danach, ihre Liebe leben zu können ohne Ausgrenzung und ohne Wenn und Aber. Sie sehnen sich nach dem Segen, ohne den niemand von uns leben kann.

Liebe ist kostbar„Wenn einer alles Gut in seinem Hause um die Liebe geben wollte,
würde man ihn verachten.“
Liebe ist begehrt. So sehr, dass mancher meint, sie käuflich erwerben zu können, wenn er nur genug Geld auf den Tisch legt. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Liebe lässt sich nicht kaufen. Sie ereignet sich. Sie ergreift die Liebenden und stellt ihr Leben auf den Kopf, wenn es sein muss. Wer geliebt wird und liebt, ist frei vom Schielen auf Hab und Gut. Es schadet der Liebe nicht, wenn genug da ist zum Leben, und der Mangel sich rarmacht. Auch Liebende brauchen Speis und Trank, ein Dach und Arbeit.
Aber ich sperre mich gegen die Vorstellung, auch die Liebe sei inzwischen in die Fänge des Kapitalismus geraten, wie die Soziologin Eva Illouz behauptet. Wenn es so wäre, dann wäre Feueralarm angesagt! Helft der Liebe aus diesen Fängen heraus! Befreit sie mit all eurer Kraft! Seid wachsam, wo ihr in Gefahr geratet, die Liebe zu verwerten und zu verzwecken. Lasst sie frei wirken. Lasst euch von ihr verwickeln in ihr eigenes Spiel.
Das gälte dann jeder Liebe, der Paarliebe und der Nächstenliebe. Ihre Widerstandskraft liegt darin, dass sie sich nicht erschöpft. Denn sie speist sich aus einer unerschöpflichen Quelle. Liebe kann dort gedeihen und wachsen und sich immer wieder erneuern, wo sie Gottes Liebe in sich aufnimmt und von ihr ihre Stärke und Würde bezieht.

Des Menschen Liebe zu GottGottes Liebe ernst zu nehmen heißt auch, die Liebe von uns Menschen zu Gott hoch zu schätzen. Wie wunderbar, dass im Hohenlied gerade die Stimme der Frau so selbstbewusst, kraftvoll und sehnend ist! Da spricht die Seele, die Gott liebt.
Das können wir Christen von den jüdischen Auslegern wie dem großen Gelehrten Raschi lernen. Er spricht davon, wie die Gemeinde Israel an ihrem Geliebten hängt und in ihrer Liebe auch in Zeiten der Kreuzzüge und der Pest und in der Verfolgung durch Christen nicht nachlässt.
Wie können wir Christinnen und Christen unsere Liebe zu Gott pflegen und hüten und ihr eine solche Sprache verleihen? Vielleicht so: Dass wir Gott lieben und ihn in Trübsal und Bedrängnis an seine Verantwortung erinnern, statt uns enttäuscht von ihm abzuwenden. Oder ihn in Zeiten der ausgelassen-unbeschwerten Freude als die Quelle aller Freude zu preisen und zu segnen, statt uns nur um uns selbst zu drehen.
Lasst uns darauf vertrauen: Gottes Liebe behält ihre Kraft selbst durch den Tod hindurch. Unaufhörlich sucht er uns mit seiner Liebe. Er geht uns nach in die letzten Winkel. Seine Liebe ist nicht nur stark wie der Tod. Sie ist stärker. Amen.

Autorenfoto: Martina Waiblinger


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