1. Advent (01. Dezember 2013)

Autorin / Autor:
Pfarrer Markus Lautenschlager, Nürtingen [MarkusLautenschlager@gmx.de]

Hebräer 10, 19-25

Liebe Gemeinde,
Jesus, der Abglanz göttlicher Herrlichkeit und Ebenbild seines Wesens, der Hohepriester nach der Ordnung Melchisedeks, die Wolke der Zeugen, der Eingang in das Allerheiligste des himmlischen Tempels durch das Blut Jesu – der Hebräerbrief treibt einen gewaltigen Aufwand. Das Haus des Königs reicht nicht, es muss schon das Haus Gottes sein. Der irdische Tempel reicht nicht, es muss schon sein himmlisches Urbild sein und in diesem der innerste, heiligste Raum hinter dem Vorhang. Ein normaler Priester reicht nicht, es muss schon der oberste, der Hohepriester sein und der dann nicht nach der Ordnung Aarons als sterblicher Mensch, sondern nach der ewigen Ordnung Melchisedeks, der Opfer und Priester in einer Person ist, Jesus als ewiger Gottessohn, als Abglanz der Herrlichkeit Gottes und Ebenbild seines Wesens, erhöht hoch über alle Engel.

Der Hebräerbrief – Predigt der Stärkung und Ermahnung

Um einen Werbespot zu zitieren: Der zweitbeste Fisch reicht offenbar nicht; es muss schon das Beste vom Besten sein. Es ist ein gewaltiger Aufwand, den diese wohl älteste christliche Predigt treibt, die uns in vollem Umfang erhalten ist. Logos parakleseos (13,22) nennt sich der Hebräerbrief selbst, ein Wort des Beistandes, des Trostes, der Ermunterung, der Ermahnung, eben das, was wir heute mit Recht von einer guten Predigt erwarten. Und der Länge von 13 Kapiteln zum Trotz sei das, so der Verfasser in 13,22, nur eine kurze Predigt. War sie hörergerecht? Die herben, fremden, gewaltigen Bilder aus der Welt des alttestamentlichen Tempelkultes und der jüdischen Engelmystik haben wohl schon den ersten Hörern einiges zugemutet. Zumal diese Christen waren, die aus dem Heidentum kamen und nach „Abkehr von den toten Werken“ des Götzendienstes (6,1b) im christlichen Elementarunterricht erst noch die christlich-jüdischen „Basics“ wie die Auferstehung der Toten und das ewige Gericht (6,2) lernen mussten. Hat das Gebirge des Hebräerbriefes sie nicht überfordert? Konnten sie bis zum Gipfel mitgehen oder haben sie vorher aufgegeben? Immerhin: Ein Freund von mir ist im Alter von 16 Jahren durch die Lektüre des Hebräerbriefes Christ geworden. So mag der Hebräerbrief ein Gegenentwurf sein zur unablässig fortschreitenden Absenkung des Niveaus christlicher Verkündigung. Hohe Christologie mit höchstem Aufwand.
Doch noch einmal die Frage: Wozu der ganze Aufwand? Was soll damit erreicht werden?

Die Not der Gemeinde: Gewissheiten sind ins Wanken geraten

Eine erste, schlichte Antwort legt sich nahe. Der Verfasser des Hebräerbriefs kämpft mit einem Problem, das offenbar die christlichen Gemeinden von Anfang an beschäftigt hat. Der Gottesdienstbesuch geht zurück: „und nicht verlassen unsere Versammlungen, wie etliche zu tun pflegen“. Der ganze Aufwand wird betrieben, damit wieder mehr Menschen in den Gottesdienst gehen. Wir wollen das Schlichte nicht verachten. Es möchte in allem, was gleich noch folgt, am Ende dann doch darum gehen, dass wir das Einfache tun: die Versammlungen der Gemeinde Jesu besuchen, die christliche Gemeinschaft pflegen, dass wir aufeinander achthaben und uns bestärken in der Liebe und im Tun des Guten.
Der sinkende Gottesdienstbesuch hat seinen Grund. Es hat sich etwas verändert. Bisherige Gewissheiten sind ins Wanken geraten. Nun muss man eigens mahnen: „Lasst uns festhalten am Bekenntnis der Hoffnung und nicht wanken.“ So gerne hätte ich Hoffnung für mich und die Meinen und die ganze Welt. Und merke zugleich, dass sie mir entgleitet. Es wird immer anstrengender zu hoffen. Und manche haben schon resigniert.

Christus hat den Weg ins Heiligtum Gottes gebahnt, damit wir hoffen können

Das ist dann die zweite, anspruchsvollere Antwort: Der ganze Aufwand wird getrieben, damit wir hoffen können. Mitten in der Nacht hoffen, dass der neue Tag anbricht. Mitten in den Schmerzen hoffen auf ein erfülltes Leben. Mitten in der Erschütterung durch Katastrophen hoffen auf Rettung, auf die Vollendung der Welt durch die Macht der Liebe Gottes.
Wenn das, was ist, alles ist, gibt es keine Hoffnung. In nur einer Welt kann ich nicht leben. Hier fehlt mir die Luft zum Atmen. Darum entwirft der Hebräerbrief eine zweite Welt: neben der irdischen die himmlische. Zu den Menschen treten die Engel. Wir Lebenden sind umgeben von der Wolke der Zeugen, der vielen, die vor uns und für uns gehofft und geglaubt haben.
Sind uns auf der Erde viele Türen verschlossen, steht uns das Tor des himmlischen Tempels offen. Den Eingang in dieses Heiligtum hat uns Jesus aufgetan. Der Weg durch den Vorhang in die Gegenwart Gottes ist gebahnt. Dir steht das Herz Gottes offen. Ist auf dieser Welt das Hemd näher als der Rock und wenn es gilt, dass jeder sich selbst der Nächste ist, so hat dort Jesus das Opfer seines Leibes dargebracht. Er hat sie gelebt: die Liebe, die sich nicht schont, sondern dahingibt. Sind wir bei uns selbst oft zerrissen, zersplittert in das Vielerlei konkurrierender Pflichten und Rollen, kommen wir immer zu spät, tun wir immer zu wenig, werden wir unablässig schuldig, so finden wir vor Gott zur Ruhe, zur Mitte, zur Klarheit, zur Einheit und Ganzheit: besprengt in unseren Herzen und los von dem bösen Gewissen in vollkommenem Vertrauen.

Ich brauche den Raum Gottes um der Hoffnung willen

„Religion kann die Wirklichkeit kathedralenartig überwölben, aber auch umstürzlerisch über sie hinausdrängen; sie hat Herrscher gesalbt – und Revolutionen beflügelt. Religion ist Fest – und Alternative.“ So Jan Roß in seinem Buch „Die Verteidigung des Menschen. Warum Gott gebraucht wird“.
Kathedralen sind nicht billig zu haben. Für sie ist nur das Beste gut genug. Darum noch einmal die Frage: Lohnt sich der ganze Aufwand? Ich sage: Ja, er lohnt sich. Ich brauche diese Alternative, diesen herben, fremden, gewaltigen Raum. Ich brauche Gott um der Verteidigung des Menschen willen. Ich brauche die Unterbrechung des Alltags, die andere Zeit, die widerständige, unproduktive, zweckfreie Stunde des Gottesdienstes am Sonntagmorgen. Ich brauche die Adventszeit, die Einkehr in die biblischen Hoffnungstexte, die Lieder, die Stille. Ich brauche die Wolke der Zeugen für meine Hoffnung und die Gemeinschaft der Lebenden, dass sie mich „anreizen zur Liebe und zu guten Werken“.
Ich möchte nicht hektisch und stumpf, kleinlich und blind leben, sondern gesammelt, wach, großherzig, erwartungsvoll und mit offenen Augen, die sehen „dass sich der Tag naht“. Ich möchte so leben, dass jede Sekunde die kleine Pforte ist, durch die der Messias treten kann. Dafür lohnt sich der Aufwand, am ersten Advent in die Kirche zu gehen. Amen.

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