10. Sonntag nach Trinitatis (04. August 2013)

Jeremia 7, 1-15

Liebe Gemeinde:
Mit einem „Whistle-Blower“ bekommen wir es heute zu tun:
ein Triller-Pfeifer, d.h. „Skandalaufdecker“ zu Deutsch.
Der englische Polizist, der mit seiner Trillerpfeife andere Polizisten auf ein Verbrechen hinweist, steht wohl für diese Bezeichnung Pate.
Edward Snowden – Julian Assange – Bradley Manning:
Drei Whistleblower – und was sie uns enthüllt haben, beschäftigt uns.
Ihre Entdeckungen haben Skandale verursacht und seitdem ihre Identitäten bekannt sind, hängt ihr Schicksal an seidenen Fäden:
Bradley Mannings etwa muss in seinem laufenden Prozess mit einer Haftstrafe bis zu fünfzig Jahren rechnen – im Fall einer Verurteilung wegen „Kollaboration mit dem Feind“ droht ihm die Todesstrafe.
Whistleblower: für die einen Skandalaufdecker und Helden, die die geheimen Machenschaften demokratisch geführter Staaten aufdecken; für die anderen einfach Verräter, die mit dem Feind gemeinsame Sache machen und die innere und äußere Sicherheit gefährden.

Jeremia steht vor dem Allerheiligsten, das seine Zeitgenossen kannten.
Am Tor des HERRN Tempel, von Salomo gebaut, richtet er das Wort an alle, die dort aus- und eingehen und konfrontiert sie mit der unangenehmen Wahrheit.
Wie seine modernen Kollegen beruft er sich auf einen höheren Auftrag:
Der Gott Israels selbst, Herr des Tempels, der Stadt und des Volkes, ruft ihn heraus und stellt ihn vor das Tor. Er gibt ihm auch ein, was er zu sagen hat.
Als ob Jeremia, dorthin bestellt, die Pfeife in den Mund gesteckt bekommt –
und Gottes Geist selbst für den unüberhörbaren, schrillen Ton sorgt.
Jirmiahu – JHWH erhöht:
Sein Name, Ausdruck der Dankbarkeit der Mutter gegen Gott für das Glück, dieses Kind geschenkt zu bekommen – für Jeremia selbst wird er zu einer lebenslangen Herausforderung: "Ich sonderte dich aus, ehe du von der Mutter geboren wurdest" (1,5). Aber was für eine Erwählung ist das: Eine Last – die sechs Bekenntnisse Jeremias, die in einer Selbstverfluchung gipfeln, zeugen davon:
Verflucht sei der Tag, an dem ich geboren bin; der Tag soll ungesegnet sein,
an dem mich meine Mutter geboren hat!
Verflucht sei, der meinem Vater gute Botschaft brachte und sprach:
»Du hast einen Sohn«, sodass er ihn fröhlich machte! (Jer 20,14f.)

Gerufen sein, ohne sich danach gedrängt zu haben.
Herausgerufen, vor das Tor des Tempels gestellt und nun gar nicht anders können als aufzudecken, laut, rücksichtslos, ohne Schonung.
Was treibt Jeremia, den Propheten, diesen alttestamentlichen Whistleblower?

Heilig sollt ihr sein

Gott in seiner Heiligkeit wohnt mitten unter seinem Volk – das gehört zum Kern des Glaubens Israels. Es ist seine freie Wahl, Ausdruck seiner Gnade.
Angefangen mit dem Zelt der Begegnung, in der Wüstenzeit, bis hin zu David.
Leviten und Priester: die Repräsentanten des Volks, die rund um das Heiligtum bis hinein ins Allerheiligste ihren Dienst versehen.
Danach der Tempel, ein Haus aus Steinen, in dem Gottes Gegenwart wohnt.
Ob Zelt oder Tempel: Der Ort, an dem das Volk dreimal jährlich die Nähe Gottes im Fest sucht. Genauso aber Anlaufstelle für die Elenden, Armen, Kranken:
Adresse für Bitten, Opfer, Gelübde.
In den Ritualen, den Gottesdiensten am Tempel, kommt der Einzelne, kommt ganz Israel in Kontakt mit dem Heiligen.
Sucht Ausrichtung, Vergebung, Sühne – Heilung und Heil.
Aber von Anfang an gibt es da noch eine zweite Linie:
Die Aufforderung:Heilig sollt ihr sein (Lev 19,2).Ihr – das meint: alle.
Nicht nur Priester und Leviten.

Heilig sollt ihr sein:
Du sollst keine anderen Götter haben neben mir!
Du sollst nicht töten!
Du sollst nicht die Ehe brechen!
Du sollst nicht falsch schwören!
Du sollst den Fremden lieben wie dich selbst! (vgl. Lev 19,34).


Für die meisten dieser Gebote braucht es keinen heiligen Ort, keine Priester oder Leviten: Der Ort ist das alltägliche Miteinander von Mensch und Mitmensch.
Und verantwortlich ist jeder Mensch, der Ohren hat zu hören.
Aber wer hört noch?
Nur wenige hören noch die leise Stimme, die die persönliche Verantwortung weckt.
Was bleibt, ist die Berufung auf den Ort, auf die Zeiten – auf Gottes Erwählung.
Gnade und Heil – ohne Gegenleistung.
Umso lauter der Auftritt Jeremias am Tempeltor!

Jeremia: Verräter aus Liebe!?

„Wer liebt, ist kein Verräter!“
Man hört den kämpferischen Unterton, mit dem eine Mutter ihr Kind in Schutz nimmt – nachzulesen in Amos Oz´ Kinderbuch „Panther im Keller“.
Profus, ein Junge im Jerusalem 1946/47, Held der Erzählung, sitzt zwischen allen Stühlen: Einerseits und mit aller kindlichen Begeisterung ist er Mitglied in einer Kinder-Untergrund-Bewegung, die sich nicht weniger auf die Fahnen geschrieben hat, als im Schutz strengster Geheimhaltung, mit allen Mitteln der Phantasie und ohne jede Sentimentalität die Briten aus Palästina zu vertreiben. Aber da ist noch etwas, das nicht sein darf, die emotionale, ungewollt freundschaftliche Verbindung zu einem englischen Polizisten, der mit seinen Bibelhebräischkenntnissen versucht, sich mit diesem jüdischen Kind zu verständigen. Und darum geht es: Profus hat Sympathie für den Feind –
und das ist Verrat.
Profus sammelt in dieser Dilemmasituation Lebenserfahrung – und gerät schließlich in Gegensatz zur absoluten Mutterweisheit: „Der tiefe Verräter, ...[ ist der,] der die, die er verrät, tatsächlich liebt, denn wenn er sie nicht lieben würde, wie könnte er sie dann verraten?“
Zwischen den Fronten kann Liebe zum Verrat führen – und sei es an absoluten Extrempositionen, an Abgrenzungsstrategien und Gruppenzwang.

Bradley Mannings hat dafür gesorgt, dass wir von Hubschrauber-Besatzungen wissen, die auch im Zweifel Journalisten ins Visier nehmen. Von Edward Snowden wissen wir, wie weit die Überwachung unseres Alltags im Dienst an der Sicherheit insgeheim gediehen ist und von Wikileaks, dass nichts gut ist in Guantanamo – und vieles mehr, von dem die Mächtigen in China, im Iran, aber auch in den USA nicht wollen, dass es öffentlich wird.
Was trieb und treibt diese Whistleblower? Welche Liebe?
Was bringt sie dazu, Geheimnisse zu verraten und ein ungewisses Schicksal anzunehmen?

Jeremia hat keine Wahl.
Ach wäre es doch möglich, einfach Privatmann zu sein!
Wenn Gottes Auftrag kommt, zu antworten: „Schick doch einen anderen!“
Stattdessen: sagen müssen, was Sache ist. Widerstrebend!
Sehenden Auges, dass es dafür keinen Dank gibt; keine neuen Freunde, sondern nur neue Feinde; Verfolgung; Vorwürfe und Strafe.
Jeremia: zerrissen von seinem Auftrag, vor das Tor zu stehen und allen, die das Heiligtum aufsuchen, den Spiegel vorzuhalten; die fromme Maske abzureißen.
Warum lassen sich Menschen herausrufen aus der Menge, aus der Anonymität und werden zu Verrätern?

Israel und Jeremia

Whistleblower spalten die Öffentlichkeit.
Genau diese Erfahrung macht auch Jeremia.
In Kapitel 26 lesen wir:
Priester und Propheten stehen auf: Sie fordern den Tod Jeremias!
Er hat gegen die Stadt geweissagt!
Unter den Oberen und im ganzen Volk aber finden seine harten Worte Anhänger: Vielleicht geht es wie zu Hiskias Zeit. Micha, der Prophet, hatte hundert Jahre früher das Gericht über Jerusalem angekündigt.
Die Umkehr des Volkes bewahrte schließlich die Stadt.
Darum: Gnade für Jeremia!
Jeremia also: Kein Verräter, sondern ein erfolgreicher Warner?
Nein: Sein weiteres Leben ist kaum erfolgreich zu nennen.
Immer wieder in Konflikt mit dem König, mit dessen Propheten; mit der Meinung der Mehrheit; mit seiner eigenen Rolle.
Und das Schlimmste: Von wenigen gehört, von vielen gehasst behält er Recht!
Jerusalem wird zerstört – Jeremia zwar durch den siegreichen Feind rehabilitiert – was für ein Trost!?
Am Ende wird er gegen seinen Willen nach Ägypten verschleppt, sein Ende ist unbekannt.
Aber das ist, erstaunlich, nicht das Ende!
Jeremia, der Realist, der Whistleblower des Volkes Israel, macht Karriere!
Das Buch Jeremia wird zum Denkmal schlechthin für die Gestalt des Propheten,
der Opfer wird seines Auftrags und seiner Prophetie.
Und Israel bewahrt sich so auch die Erinnerung an einen Verräter aus Liebe,
der die Katastrophe nicht aufhalten kann – bis auf den heutigen Tag.

Israelsonntag: Jeremia – und seine heutigen Hörer

Liebe Gemeinde: Juden in aller Welt haben vor drei Wochen in den Synagogen zum 9. Aw, dem Gedenktag der Zerstörung der beiden Tempel, die Klage Jeremias über sein Volk gelesen und gehört.
Und wir hören Jeremias Tempelrede.
Heute haben wir den 10. Sonntag nach Trinitatis - Israel-Sonntag.
Auf welchem Ohr hören wir heute die Worte Jeremias?

Dass die Tempelrede einer der für den 10. Sonntag nach Trinitatis bestimmten Texte ist, zeigt, dass Jeremia lange als Kronzeuge gehört wurde gegen Israel. Jeremia als Bote eines neuen Bundes, nachdem der alte doch vom Volk Israel gebrochen worden war.
Aber müssen wir Jeremia nicht ganz anders hören?
Hören wir seine schmerzhafte Botschaft von den Kanzeln unserer heiligen Orte?
Welches hässliche Gesicht sehen wir im Spiegel?

Der Israel-Sonntag. Für uns ein Tag des Respekts und der Dankbarkeit, dafür, dass Israel die Erinnerung an Jeremia erhalten hat: an einen großen, alttestamentlichen Whistleblower – einen Verräter aus Liebe.
Amen.

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